1. Kapitel
Ich stehe am offenen Fenster und sehe nach draußen. Der Himmel steht in Flammen, spiegelt die brennende Stadt in allen Einzelheiten wieder. Gleichzeitig treibt der Sturm Rauchschwaden durch die Stadt, lässt meine Augen brennen. Ich blinzele schnell, doch sie tränen trotzdem. Durch die Feuchtigkeit in meinen Augen sehe ich das Washington Monument nun nur noch verschwommen vor mir, noch immer silbrig hell beleuchtet, als würde es die letzte Hoffnung der Menschheit symbolisieren. Mein Blick bleibt darauf fixiert, als würde sich mir seine Bedeutung noch offenbaren, mir eine Richtung geben, bis sich die Tür hinter mir mit einem kraftvollen Schlag schließt.
„Komm‘ da weg.“ Die männliche Stimme ein tiefes Poltern, wie Felsbrocken, die sich lösen und zu Boden krachen. Langsam drehe ich mich um, die Arme fest um meinen Körper geschlungen und sehe zu ihm zurück. Es riecht jetzt sogar verbrannt im Raum. Nach verkokeltem Gummi. Es erinnert mich an durchdrehende Autoreifen. Der Geruch in der Nase harmoniert einwandfrei mit seinem Anblick. Die schwarze Lederjacke, in welcher seine Schultern so breit aussehen, darunter lediglich ein schwarzes T-Shirt. Mein Blick wandert durch sein Gesicht über den hellbraunen Bart, der ihm am Kinn und an der Oberlippe wächst, leicht über den Kiefer weiter. Er ist kein stark behaarter Mann, an keiner Stelle seines Körpers. Ich schätze, dass das alles an Bart ist, was ihm jemals wachsen wird. Und er verdeckt auch nicht den Leberfleck oberhalb seiner Lippe, über den ich so gerne mit dem Daumen fahre. Fast so gerne wie über seine gespaltene Augenbraue, die ihm tief im Gesicht steht und ihm einen düsteren, verschlossenen Ausdruck gibt. Alles an ihm strahlt das aus. Seine abwehrende, unnachgiebige Haltung, seine bissigen, knappen Worte oder aber der schmale Blick, der manchmal nur lauernd durch den Raum fährt. Hat er mir nicht erzählt woher die Narbe stammt, die seine Augenbraue durchkreuzt? Sicherlich hatte ich danach gefragt, aber ich erinnere mich nicht mehr an seine Antwort.
Hinter mir schwillt der Wind heulend auf, lässt die weißen Vorhänge schweben und weht noch mehr Gerüche in das Hotelzimmer. Ich meine unter der Asche und dem beißenden Verbrennungsgeruch noch das Salz des Meeres zu riechen. Die Kombination ist berauschend. Ich strecke die Arme von mir weg, fühle mich wie ein fliegender Engel mit Flügeln aus luftig leichtem Vorhangstoff, hinter mir die tödliche Tiefe.
Er springt nach vorne, über die schwarze Ledercouch und packt mich an meinem Oberarm. So fest, dass es schmerzt. Dann wirbelt er mich weg von dem bodentiefen Fenster, dessen Scherben noch immer zerstreut auf dem weißen Fliesenboden liegen. Er drückt mich daneben gegen die Wand. Der Geruch von Motorenöl, Schweiß und Zigaretten steigt mir in die Nase, löst da ein warmes Gefühl aus. Wie ein weit entfernte Erinnerung an glückliche Zeiten, die sich unangekündigt ins Gedächtnis schummeln.
„Was glaubst du, was du da tust?“, funkelt er mich an. Seine Augen wechseln die Farbe. Das habe ich schon früh festgestellt. Sie ähneln da diesen Stimmungsringen, nur in sämtlichen Farben des Ozeans. Ein Hauch Türkis, wenn er entspannt ist. Ein Tiefblau, wie der Anfang des tiefen Meeres, wenn er angespannt ist. Und ein dunkles schwarzblau, wenn er wütend ist. So wie jetzt.
„Glaubst du, ich wäre gesprungen?“, entgegne ich ruhig.
Seine Augen springen forschend zwischen meinen hin und her, aber er lässt nicht los, hält mich nun mit beiden Händen an meinen Handgelenken fest, drückt mich so an die Wand, als wäre ich dort angekettet.
„Ich weiß nich‘“, raunt er und sein Griff um meine Handgelenke wird schwächer. Er schiebt sie auf beiden Seiten meines Körpers in die Höhe. Sie schrappen an der künstlichen Sandsteinwand entlang, bis sie sich über meinem Kopf befinden. Im Augenwinkel weht der weiße Vorhang wieder in den Raum, fängt die Farben der brennenden Stadt wie ein Ölgemälde. Ich sehe zur Seite, erhasche einen kurzen Blick in die Trümmerlandschaft, die uns umgibt wie ein tosendes Meer aus Tod, Geröll und Feuer. Mittendrin der silbrig leuchtende Obelisk. Dann sehe ich zurück zu ihm. Ich kann es nicht erkennen, aber ich weiß, dass seine Augen nunmehr Tiefblau sind. Die Schwärze darin verschwunden.
„Ich brauche dich“, flüsterte ich.
Er zieht die Augen etwas zusammen, als würden meine Worte Schmerzen auslösen und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es so ist. Weil es ihn vor Augen führt, warum ich es sage. Eine seiner Hände löst sich aus dem Griff, sackt leblos hinab und bleibt auf halber Strecke hängen. Er sieht zu seiner Hand, wie sie schwebend vor meinem Bauch hängt, dort die Finger verlangend nach vorne ausstreckt. Hin zu der eindeutigen Wölbung. Als sich seine Hand darauflegt, hat meine Hand seine andere umgriffen, sich in sie gekrallt. Er sieht zu mir auf und ich sehe wie er die Kieferknochen aufeinander beißt, sie sich unter der Haut sichtbar bewegen.
Und dann nickt er knapp.
***
Ich schrecke keuchend auf. Die erste Bewegung führt zu meinem Bauch. Flach. Keine Spur von der Wölbung. Wie als könnte sich das sekündlich ändern lasse ich eine Hand zur Sicherheit da liegen und greife mir mit der anderen an den Kopf. Meine Stirn ist klitschnass, einzelne Strähnen meiner dunkelbraunen Haare kleben wie Spinnenbeine an ihr. Ich bin sicher, dass sie so getränkt fast schwarz wirken. Das Lacken haftet an meinem Körper wie eine unangenehme zweite Haut und beginnt auch schon zu trocknen. Was zur Hölle war das eben? Ich sehe zur Seite. Der schwarze Lockenkopf von Ben lugt zwischen dem weißen Bettzeug hervor. Sein Anblick beruhigt mich, holt mich langsam wieder ins Hier und Jetzt zurück. Nur ein Traum, rede ich mich innerlich wieder in diese Welt zurück.
Trotzdem bin ich hellwach. Selbst meine Handgelenke fühlen sich eigenartig eingezwängt an, als wenn dieser Mann sie noch immer festhalten würde. Langsam beruhigt sich mein Herzschlag wieder, die Atmung wird gleichmäßiger. Aber dadurch merke ich nun erst wie sehr mein Hals brennt, sich so rau anfühlt wie die künstliche Steinwand, an welche mich dieser Kerl gepresst hat. So leise ich kann, schlage ich die Bettwäsche zurück und tapse auf den kalten Fliesen in das angrenzende Wohnzimmer. Beim Eintreten bleibe ich kurz stehen. Alles ist so wie in meinem Traum. Die schwarze Ledercouch, die Kunststeinwand, die dem Zimmer einen mediterranen Hauch verpassen soll, auch die bodentiefen Fenster, auch wenn diese natürlich nun geschlossen sind. Und sich auch gar nicht erst durch menschliche Hände öffnen lassen. Zögerlich, als würde jeder Schritt das perfekte Bild vor meinen Augen wieder einreißen können, laufe ich weiter in den Raum. Auf dem Couchtisch aus Glas steht eine Wasserflasche, nach welcher ich schnell greife. Etwas kaltes Wasser wird meinen Kopf klären. Über mir rauscht die Klimaanlage leise, lässt die Oberfläche meine Haut frösteln. Doch draußen sind es bestimmt noch immer weit über zwanzig Grad, trotz der Nacht.
Ich trinke einen Schluck und trete dann an das Fenster. Das kühle Wasser tut unendlich gut. Gierig trinke ich weiter, während ich gleichzeitig nach draußen sehe. Die Stadt pulsiert funkelnd unter meinen Füßen. So wie es sein soll. Kein Feuer. Keine Trümmer. Kein zersprungenes Glas, auf dem ich nun barfuß stehen würde. Der Anblick sollte mich eigentlich beruhigen und tief drin tut er das auch, weil ich nun weiß wie absurd der Traum gewesen ist, aber es lässt da einen kleinen Stich in mir zurück. So wie Washington offensichtlich nicht dem Erdboden gleich gemacht wurde, gibt es diesen Mann auch nicht. Und erst Recht nicht die Schwangerschaft. Eine Sache, die ich mir in meiner aktuellen Situation sicherlich auch nicht gewünscht hätte. Und woher das Endzeitszenario kommt, kann ich mir auch ganz gut vorstellen. Seufzend reibe ich mir die letzten Zweifel aus dem Gesicht, bleibe aber noch einen Augenblick so vor dem Fenster stehen und starre auf das Washington Monument, welches man aus unserem Hotelzimmer sehr gut erkennen kann. Ein silbrig leuchtende Stab, der sich ehrgeizig in den Himmel streckt. Er hat so viele Krisen, so viele Kriege überstanden. Diese Krise wird er auch standhalten, da bin ich mir sicher.
Ich höre Schritte hinter mir. Ben kann sich schlecht von mir verstecken, denke ich und muss dabei schmunzeln. Ich bin nicht gerade eine kleine Frau, doch er ist sicherlich nochmal ein ganzer Kopf größer als ist. Und um einiges breiter. Seine Schritte lassen den Erdboden vibrieren. Anschleichen ist keine seiner Stärken. Dafür sind es andere Dinge und davon hat er zahlreiche. Wie das Gefühl von Geborgenheit, wenn sich seine starken Arme von hinten um mich schließen und ich meinen Kopf an seine Brust zurückfallen lassen kann. Er riecht nach Aftershave und Sonnencreme.
„Was ist los?“, will er müde wissen.
„Hm, konnte nicht schlafen“, murmele ich zurück und schmiege meinen Kopf fester an seine Brust. Sein stoppeliges Kinn kratzt an meiner Schläfe. Morgen muss er sich sicherlich rasieren, wenn er gemeinsam mit Professor Murray wieder ins Weiße Haus beordert wird. So wie fast jeden Tag seit zwei Wochen. Seit die Lage ernster und ernster wird und die Regierung immer mehr ihrer Experten um sich scharrt.
„Es wird alles gut gehen, du wirst sehen“, versucht er mir die Sorgen zu nehmen. „Niemand dort ist auf eine unnötige Konfrontation aus. Alle Figuren auf dem Schachbrett suchen den Frieden.“ Ich antworte darauf nicht, kann es auch gar nicht. Von den Dingen, die Ben tut, wenn Professor Murray nach ihm ruft, habe ich keine Ahnung. Manchmal glaube ich, dass es auch besser so ist. Dumm lebt es sich leichter. So sagt man doch, oder? Dumm mag ich in der Hinsicht wohl sein, auch weil Ben mir von vielen Dingen nichts sagen darf, aber da ist dieses anhaltende Gefühl in mir. Eine Übelkeit, die nicht nur meinen Magen befallen hat, sondern jedes meiner Organe. Manchmal schwächer und dann wieder stärker. So wie in diesem Moment, wo ich am Fenster stehe und in die Welt hinaus sehe.
„Was wirst du morgen tun?“, lenkt Ben das Thema ab und drückt mich etwas fester an sich, wiegt mich wie ein Kleinkind vorsichtig hin und her.
„Trainieren, so wie immer“, seufze ich gequält. Auch, wenn der gequälte Unterton nicht wirklich meiner Gemütslage entspricht. Ich liebe es so sehr, dass ich manchmal nachts aufstehe, um in unseren eigenen Fitnessraum zu schleichen. Natürlich nur Zuhause, von dem ich gerade weit entfernt bin. „Clark ruft mich mittlerweile stündlich an, wartet auf die Ergebnisse meiner Uhr wie ein Lottospieler auf die Ziehung am Sonntag.“ Ben lacht hinter mir, sein ganzer Körper vibriert.
„Er soll dir mal etwas Urlaub gönnen. Du hast großartiges in Tokio geleistet, das wirst du doch wohl locker wiederholen können.“
„In vier Jahren bin ich schon dreißig“, lache ich ungläubig. „Ich glaube nicht, dass ich in Paris wieder aufs Treppchen komme, geschweige denn mehr als Bronze abstaube. Clark sieht das ähnlich. Ihm geht’s um die nationalen Meisterschaften, vielleicht sogar die Weltmeisterschaft.“
„Noch das letzte bisschen herauskitzeln, bevor du alt und schrumpelig wirst, was?“, schmunzelt er und hält mich noch fester in seinem eisernen Griff, als wüsste er schon was ihm blüht. Ich schaffe es trotzdem mich in seinen Armen umzudrehen und stemme mich leicht nach oben, um ihn mit den Knöcheln meiner Faust über seinen Lockenkopf zu rubbeln. Er lacht laut und versucht seinen Kopf weg zu ziehen, doch hält mich noch immer fest an sich gepresst, als würde er sich dem eigentlich so gar nicht entziehen wollen.
„Du nennst mich alt? Ich kann von hier einige graue Härchen erkennen, mein Lieber“, lache ich und zupfe nun in seinen dichten Haaren herum. Ich mag es unheimlich, wenn er sie länger trägt. Eine lange Zeit lang hat er geglaubt sie kurz tragen zu müssen, weil das alle an seiner Eliteuni so gemacht haben. Nun trägt er sie etwas länger, nur für mich, wie er sagt. Kleiner Hobbit, nenne ich ihn dann. Obwohl das offensichtlich ein Scherz ist. Ben ist weit davon entfernt die Körperstatur eines Hobbits zu haben.
„Ich darf das“, wehrt er sich und trägt mich zum Schlafzimmer zurück, als würde ich nichts wiegen. „Wenn man mal über die Dreißig kommt, geht’s schnell, Schatz.“
Gemeinsam schmunzelnd lassen wir uns in die weiche Kissenburg des Bettes fallen, sacken leicht in dem Chaos aus Stoff und Federn ein. Sein schwerer Körper ist nun ganz fest an meinen gepresst, meine Beine schlingen sich wie selbstverständlich um seine Hüfte. Ich kann den Schatten seines Bartes nun eindeutig erkennen. Und auch wenn ich es nicht sehe, weiß ich, wie seine braunen Augen strahlen wann immer wir so ineinander verschlungen liegen. Seine Hand wandert meine Taille entlang, schiebt sich unter mein Shirt und verharrt kurz über meinem Bauch. Erinnerungsfetzen, wie Lücken in einem wolkenverhangenen Himmel, reißen auf. Ich habe für einen Herzschlag lang den Geruch von Motorenöl in der Nase, sehe tiefblaue Augen vor mir schimmern. Ich realisiere gar nicht wie ich den Atem angehalten habe. Ben bemerkt es sehr wohl, als die Luft stockend meine Lunge verlässt.
„Wir sollten schlafen“, lächelt er mitfühlend. Ich nicke stumm, bin froh, dass er das Thema auf sich beruhen lässt. Obwohl ich weiß, dass es ihm wieder auf der Zunge liegt. Vielleicht war der Traum doch nicht so weit hergeholt. Zumindest einem von uns wäre dieser Ausgang mehr als nur Recht, mal abgesehen von dem fremden Mann, den ich noch immer nicht zuordnen kann. Aber muss ich das unbedingt? Ein Traum ist manchmal einfach nur das. Ein Traum und nichts mehr.
Wir legen uns zurück, er schiebt seinen Körper an meinen heran und ich liege dort in meiner Ben-Höhle, so wie jede Nacht. Abgeschottet von der restlichen Welt. Wenn ich aufwache ist er schon weg, um eine Welt zu retten, die vielleicht nicht einmal mehr zu retten ist.
2. Kapitel
Wie erwartet erwache ich alleine, aber doch etwas früher, als ich es gerne gehabt hätte. Mein Handy macht sich auf dem Nachttisch schrillend laut bemerkbar. Ich schaffe es noch mich kurz zu orientieren, bis ich nach dem kreischenden Gerät greife und bei dem Anrufer schmunzele.
„Dad, du hast aber schon auf die Uhr geschaut, oder?“, begrüße ich ihn.
„Oh, irgendwie dachte ich, dass ich es mittlerweile im Gespür habe. Wie spät ist es bei euch?“ Ich sehe zum Digitalwecker auf dem Nachttisch.
„Gleich halb sieben.“ Draußen geht die Sonne gleich auf, denke ich mir. Nun freue ich mich doch über den frühen Anruf meines Vaters. Sonnenaufgänge mit diesem Ausblick sind immer wieder aufs Neue atemberaubend.
„Dann schätze ich, dass ‚Hi, Schatz‘ schon in wichtigen Regierungsgeschäften steckt, was?“, lacht er. Ich verdrehe die Augen und kämpfe mich, noch immer leicht schlaftrunken, aus dem Bett. Mum und Dad machen sich gerne über meine Beziehung zu Ben lustig. Vor allem darüber, dass sie ihn zunächst nur als ‚Hi, Schatz‘ wahrgenommen haben. Nämlich immer dann, wenn mein Handy geklingelt hat, ich aufgesprungen bin und mit dieser Begrüßung ins Telefon gehaucht das Zimmer wieder verlassen habe. Die Anfänge, denke ich lächelnd, das ist jetzt sechs Jahre her. Sechs Jahre seitdem Ben die Weinhandlung meines Vaters in Buffalo betreten hat, gerade frischer Absolvent aus Harvard. Den Abschluss in Rechtswissenschaften mit der Spezialisierung auf Auslandsrecht in der Tasche, den Job in einer renommierten Kanzlei in Buffalo ebenfalls. Die Augen meine Vaters mussten von der ersten Sekunde an gestrahlt haben, als er ihm bei der Auswahl des besten Weines beigestanden hat. Am Schluss hat er ihm versprochen ihm die Weine kostenlos zu geben, wenn er denn einmal mit seiner Tochter ausgeht. Er hat es als Spaß gemeint, ihm aber im Fall der Fälle ein Bild von mir gezeigt. Ben ist sich bis heute nicht sicher, ob das Ganze nicht unter eine Form des Menschenhandels fällt. Rückblickend hat sich der Handel jedoch für uns alle gelohnt.
„Ja, er hat eine Menge zu tun“, gestehe ich. Wieder einmal habe ich nicht mitbekommen, wie er das Bett verlassen hat. „Wie geht’s Mum?“
„Ach, sie ist erkältet. Die kalte Luft in Petersburg hat ihr nicht gut getan.“
„Dad, ich finde wirklich nicht, dass ihr nun dort sein solltet. Das ist weder der Zeitpunkt, noch der Ort für einen Urlaub. Das hat euch Ben sicherlich auch schon gesagt, oder?“
„Du machst dir zu viele Gedanken, Helena! Warst du nicht diejenige, die unbedingt nach Tokio zu den Spielen musste, obwohl dieser Wahnsinnige nur einen Steinwurf entfernt mit diesen neuen Waffen herumgespielt hat?“
„Das ist etwas anderes“, wende ich ein, ohne es so recht begründen zu können. Ist es denn wirklich etwas anderes? Oder nur wieder eine dieser Geschichten, bei welcher die ganze Welt für einen Moment den Atem anhält und den man dann entspannt diskutiert bei einem der Jahresrückblicke wiederfindet. Ich weiß es nicht. Alles was ich weiß ist, dass sich die Welt so erschöpft anfühlt. Erschöpft von all diesen Drohungen, von diesen endlos währenden Konflikten. Jedes beschwichtigende Wort ist schon gesagt worden, in jeder denkbaren Konstellation. Was, wenn die Menschen langsam müde sind zu sprechen? Aber ich war noch nie der Typ, der diese Dinge verstanden hat. Ben hingegen kann Nächte mit deinem ehemaligen Dozenten Murray über die politische Lage der Welt diskutieren. Sie verlieren sich dann in Theorien, kramen uralte, geschichtliche Geschehnisse hervor, nur um sie zu vergleichen. Meistens sitze ich dann dabei, mit einem Glas Wein in der Hand. Und alles was ich noch weiß ist, dass ich mich dann später an Bens Schulter wiedergefunden habe. Schlafend.
„Wir wollten uns nur nochmal kurz bei dir melden. Kümmere dich gut um ‚Hi, Schatz‘. Ich kann mir vorstellen, dass er gerade eine sehr stressige Zeit durchmacht und hinter jedem starken Mann steht auch immer auch eine starke Frau.“ Ich verdrehe die Augen. Dad ist noch immer etwas altmodisch in diesem Bezug. So recht verstehen, dass mein sportlicher Ehrgeiz nichts mit einem Hobby zu tun hat, wird er wohl nie richtig. Ich bin Bens hübsches Anhängsel für ihn, die dafür zu sorgen hat, dass seine Krawatte sitzt und abends das Essen auf dem Tisch steht. Ich habe es schon lange aufgegeben Dad hier zu korrigieren.
Also verabschiede ich mich von ihm, wünsche Mum eine gute Besserung und beginne meinen Tag. Die Sonne ist noch immer nicht aufgegangen. Wenn ich schnell bin schaffe ich es vielleicht an den Potomac River, rund um das Lincoln Monument zu kommen und den neuen Tag bei einer Laufrunde zu begrüßen. Also ziehe ich mir meine Laufsachen an, die Pulsuhr über und binde im Herausgehen meine braunen Haare zu einem Zopf, die Schlüssel zwischen den Zähnen. Schnell flitze ich zur Tiefgarage, wo Bens schwarzer SUV auf mich wartet. Er selbst wird morgens gemeinsam mit Professor Murray von einem Chauffeur abgeholt. Bei einem Thema dieser Dringlichkeit wird nicht mehr erwartet, dass sie selbst noch fahren können.
Der morgendliche Rushhour Verkehr hat noch nicht vollständig begonnen. Ich lasse die Fenster auf beiden Seiten herunter und genieße wie die warme Luft ins Innere des neu riechenden Wagens strömt. Nun riecht es zusätzlich nach Asphalt, nach Abgasen und vielleicht auch nach einem Hauch Meer, auch wenn dieses noch ein wenig entfernt liegt, der Potomac River sich aber von Washington aus direkt in den Atlantischen Ozean schlängelt.
Ich erreiche das Parkhaus in der Nähe des Lincoln Monument, als die Sonne gerade ihre ersten Strahlen zeigen. Ein paar Runden am Fluss und im Park entlang, um meine Ausdauer ein bisschen anzukurbeln, dann heute Nachmittag noch ein paar Bahnen kraulen im Schwimmbad. So mein Plan für den heutigen Tag. Zwischendurch schiebe ich noch das Sprungtraining mit einem fremden Pferd aus der nächstgelegenen Reitsportanlage ein. Die meisten freuen sich darüber, dass die Bronzegewinnerin im modernen Fünfkampf auf einem ihrer Springpferde gesessen hat. Und da man in dem Wettkampf sowieso ein fremdes Pferd zugeteilt bekommt schadet es nie sich mit den unterschiedlichen Gemütslagen dieser Tiere auseinanderzusetzen. Schon während meiner Schulzeit hat es mich nie zu einer bestimmten Sportart hingezogen. Ich war schnell, unheimlich geschickt, hatte ein gutes Gleichgewichtssinn, aber keine Lust eine meiner guten Anlagen als verschwendet anzusehen. Pierre de Coubertin, der Begründer der modernen olympischen Spiele selbst, hatte den modernen Fünfkampf ins Leben gerufen, dessen Sportler als die perfekten Athleten beschrieben, die alle Fähigkeiten vereinen. Sei es das Pistolenschießen, das Degenfechten, den Querfeldein-Lauf, das Springreiten oder das Schwimmen.
Doch als ich an diesem Tag der Sonne entgegenrenne und mich für einen Moment gehen lasse, meine Pulsuhr mit rät das Tempo zu zügeln wird mir klar, dass das Laufen mir die liebste Disziplin ist. Ich kontrolliere meinen Gang, meine Atmung wieder und falle in einen ruhigen Schritt zurück. Andere Jogger begleiten mich, kreuzen meinen Weg, während die gewichtige Stadt um mich herum langsam wieder zum Leben erwacht.
Erschöpft, aber zufrieden laufe ich entspannt wieder zum Parkhaus zurück, betrachte meine Werte auf meiner Uhr und schicke sie per Drahtlosverbindung an Clark, damit ich mir den morgendlichen Weckruf sparen kann. Heute hat er garantiert nichts zu meckern. Auf dem Weg zum Parkhaus laufe ich an einer Drogerie vorbei, die aus einem Grund, den ich zunächst nicht begreife, meinen Blick fängt. Ich runzele dir Stirn, bleibe stehen und trete sogar ein. Schon im zweiten Regal weiß ich warum ich angehalten habe. Mir läuft noch immer der Schweiß über meinen roten Kopf, als ich den Schwangerschaftstest auf den Tresen vor mir lege. Der ältere Herr vor mir dreht ihn in seine Richtung, als müsste er erst wissen was ich kaufe, bevor er den Test einscannt. Dann wirft er nur einen kurzen Blick zu mir hinauf, dem ich alle Frage entnehme, die ihm wohl durch den Kopf schießen.
Innerlich tue ich ihm den Gefallen und beantworte sie.
Nein, das ist sicherlich kein Wunschkind.
Nein, ich werde es nicht behalten wollen, weil ich es mir zurzeit nicht erlauben kann meine Karriere dafür zu unterbrechen.
Und nein, ich kann mir wirklich keinen schlechteren Zeitpunkt vorstellen, um schwanger zu sein.
Mit Letzterem könnte ich ziemlich falsch liegen, auch wenn mir das in diesem Moment noch nicht klar ist.
***
Der Test ist negativ. Ich bin beruhigt, aber nicht so sehr, wie ich es mir gewünscht hätte. Da ist keine Trauer in mir, kein Bedauern. Nur ein leiser Zweifel. Dieser Traum. Erneut wandert meine Hand zu meinem Bauch, meine zweite Hand legt sich um mein Handgelenk, so wie es dieser Mann getan hat. Ich kann mit Sicherheit behaupten, dass sich ein Traum noch nie zuvor so real angefühlt hat. Nicht nur seine Hände auf mir, die Wand in meinem Rücken, selbst die Gerüche der brennenden Stadt. Auch diese Gefühle in mir drin. Ich sehe seine Augen noch immer vor mir, den eindringliche Blick. Und kurz beginnt mein Herz kraftvoller zu schlagen, als will es auf sich aufmerksam machen, jetzt bloß nicht ignoriert werden.
Ich schüttele kurz den Kopf, um mich zurück in die Realität zu holen. Es ist später Abend und ich gerade zurück vom Schwimmtraining. Ben hat eben angerufen, gesagt, dass es später wird, vielleicht bleibt er sogar die Nacht über dort. Kein gutes Zeichen. Das und der Klang seiner Stimme. „Ist alles in Ordnung?“, hatte ich ihn gefragt und nach seinem langen Zögern hätte er eigentlich auch gar nicht mehr antworten müssen. Und doch hatte er nach einem kurzen Zögern mit „Ich weiß es nicht“ geantwortet. Ben ist ein Optimist. Wenn er zweifelte, dann hat das stets seine Gründe.
Vor meinen Augen flackert der Bildschirm des Fernsehers, in den ich hineinsehe wie ein seelenloser Zombie. Erst beim mehrmaligen Blinzeln erscheint die Nachrichtensprecherin vor mir. Gebannt lausche ich auf ihre Worte, esse selbst den Apfel nicht mehr weiter, der noch in meiner Hand liegt.
„Ersten Angaben zufolge sind die Verhandlungen aktuell auf Eis gelegt. Beide Parteien haben sich zurückgezogen und sich Bedenkzeit eingeräumt, erklären die Verhandlungen jedoch nicht für gescheitert, wie der Regierungssprecher betont. Währenddessen berichten erste Stellen von Bewegungen auf dem Atlantik, russische Medien bestreiten dies. Uns erreichen zurzeit kaum Meldungen von den Kämpfen im Nahosten, Korea oder Zentralafrika. Es scheint, als wenn die Welt für einen Moment den Atem anhält, um auf einen potentiellen Krieg zweier Mächte zu warten, der die Welt in ihrer Gesamtheit erschüttern könnte.“
Ich schalte den Fernseher aus und das Hotelzimmer verschwindet in der Dunkelheit. Plötzlich ist mir unheimlich kalt. Unglaublich wie nah ich im Grunde an all den Geschehnissen dran bin, mit Ben an meiner Seite. Und wie wenig ich dennoch von all dem mitbekomme, wie wenig selbst Ben und sein Mentor von all dem mitbekommen. Ihnen werden Teilstücke von Schriften vorgelegt, die sie prüfen und aus rechtlicher Sicht Abnicken, aber die nur ein Puzzleteil von dem Gesamtbild ausmachen. Doch trotz Bens besorgter Stimme in meinem Hinterkopf, die im Einklang mit den Nachrichten stehen, weigert sich mein Kopf daran zu glauben, dass wir vor dem Unvorstellbaren stehen. Ich werde auch morgen aufstehen, joggen gehen und mich darauf vorbereiten die Beste zu sein. Denn es wird die Möglichkeit geben mich zu messen, etwas anderes ist unvorstellbar. In einer anderen Welt will ich gar nicht leben.
Ich lege den Apfel beiseite und rolle mich in meinem flauschigen Bademantel auf dem Bett ein. Mir ist sämtlicher Appetit vergangen. Ich rieche noch immer etwas nach Chlor und meine müden Muskeln nehmen den kurzen Moment der Entspannung dankend an, während ich die Augen schließe und versuche an etwas anderes zu denken.
Und vielleicht ist der dringende Wunsch meinen Kopf mit etwas anderem zu füllen auch der Grund, warum ich in dieser Nacht erneut von ihm träume.
3. Kapitel
Da ist nur das kleine Feuer in der Mitte der Ruine aus Schutt und Staub. Die Wände um mich herum sind abgebrochen wie kaputte Zähne. Das Feuer wirft gespenstische Bilder an die Reste aus Beton und Stahlträgern. Ich bin barfuß, spüre den sandigen Beton unter ihnen, die kleineren Reste wie kleine, spitze Steine. Aber meine Fußballen stecken in Verbänden, ich selbst stehe auf dem Ballen und starre in das prasselnde Feuer vor mir. Es ist angenehm warm davor, erhitzt mein Gesicht, wohingegen sich meine nackten Beine kalt anfühlen. Ich sehe hinauf, folge mit dem Blick ein paar Funken. Über meinem Kopf erstreckt sich der Nachthimmel, wie ein gigantisches, löchriges Tuch, welches man über uns gespannt hat. Nur das Funkeln vereinzelter Sterne schimmert hindurch. Es ist ein schöner Anblick, ein friedlicher.
Ich sinke wieder hinab auf meinen ganzen Fuß, nur um mich gleichzeitig mit meinen Armen wieder empor zu heben. Eine Melodie liegt mir auf den Lippen, die ich leise vor mich her summe, als ich mich im Takt der Musik bewege, die ausschließlich in meinem Kopf existiert. Das Nachthemd, das ich trage weht hinter mir her, als ich mich im Kreis drehe, dabei die Arme so erhoben, als wenn mich ein Mann führen würde. Den Kopf leicht schief gelegt, noch immer das Lied auf meinen geschlossenen Lippen, doch nun lächle ich leicht.
Als ich ein weiteres Mal eine Drehung vollführe, bleibt mein Blick an einer Gestalt hängen. Sie bringt mich aus dem Takt und ich trete auf einen spitzen Stein, stolperte unelegant. „Du hast mich erschreckt“, sage ich, doch es klingt nicht vorwurfsvoll. Es klingt wie eine reine Tatsache.
Der dunkle Schatten löst sich von dem Eingang, kommt zögerlich näher. Und als er noch näher tritt erkenne ich sein Gesicht im Licht des Feuers. Wüsste ich es nicht besser, könnte man seine Augen für feuerrot halten, spiegeln sie doch in allen Facetten die Flammen wieder, zu denen er nun sieht. Dann wieder zurück zu mir. Irgendwas quält ihn. Ich halte ihm meine Hand hin.
„Mit einem Tanzpartner geht’s leichter“, lächele ich.
„Ich tanze nich‘“, entgegnet er. Wieder diese tiefe Stimme, wie jahrelanger Zigarettenkonsum. Als hätte man seine Stimmbänder über eine Raspel gerieben, aber es liegt auch eine Abwehr in ihr. Nicht gegen das Tanzen, nicht gegen mich. Das weiß ich.
„Schade, es macht vieles leichter.“ Ich zucke mit den Schultern, hebe meine Hände wieder und gehe in die Ausgangsstellung zurück.
„Das is‘ Bullshit“, gibt er gereizt zurück und packt nun meinen Oberarm, zieht mich vom Feuer weg zur Wand hinüber, von wo aus man uns nicht sehen kann, wenn man am Eingang vorbei läuft. Ich funkele ihn nun wütend an. Er hat kein Recht seine miese Laune an mir auszulassen. Besonders nicht an mir! „Nix wird davon jemals leichter!“
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich meine Hand hebe und sie auf seine harte Wange lege, mit dem Daumen über seinen Leberfleck so nah an seinen Lippen streiche. Er erträgt die Berührung, aber ich kann sehen wie seine Atmung schneller, sein Blick weicher, heller wird, auch wenn er seinem Körper befielt dem nicht nachzugeben. Es ist sinnlos. Das war es doch schon von Anfang an.
Meine Hand wandert in seinen Nacken und zieht ihn zu mir heran. Er ist groß und um einiges stärker als ich, deswegen ist es mehr sein Entgegenkommen, welches ihn schlussendlich zu mir bringt. Es ist schon zu lange her, dass wir uns so nah waren und das äußert sich in einem gleichzeitigen Seufzen, welches uns in den Kehlen stecken bleibt, weil kein Weg nun nach draußen führt. Er ist mir so nah, dass ich seinen Herzschlag hören kann. Kraftvoll, mutig. Seine Nase kämpft sich an meiner vorbei, während er den Kopf neigt und seinen Mund öffnet. Er braucht mehr als ein stummes Versprechen der Lippen. Es wird ihn kopflos und wild machen, das weiß ich. Aber ich war noch nie die Starke von uns beiden, also lasse ich es zu, dass er mir den Atem raubt, sein Körper sich so eng an meinen presst, dass meine Brust schmerzt. Er verhält sich wie ein wildes Tier, das seine Beute reißt. Das alles auf einmal will, weil er nicht weißt, wann er es wieder bekommen wird. Seine groben Hände sind überall an meinem Körper. Und ehe ich mich versehe hat er mich angehoben, meine Beine um seine Taille geschlungen und presst mich an die Wand zurück.
„Nur kurz“, hörte ich ihn keuchen, mit einer Verzweiflung, die einem Drogenabhängigen gleich kommt. Er belügt mich dabei, belügt sich aber noch viel mehr und das kann ich ihm nicht übel nehmen, weil es mir nicht anders ergeht. Ich möchte von ihm belogen werden, bis zu meinem Lebensende.
Er hält mich weiterhin fest an sich gepresst, als er in mir ist und ich schließe die Augen, unterdrücke jeden Laut, der geballt aus mir heraus will. Alles bündelt sich auf ihn, zwischen mir, als ich mich an ihn klammere, wie als könnte er mich vor dem Ertrinken bewahren. Aber das kann er nicht und ich weiß es in diesem Moment so sicher wie nie zuvor.
***
Mit einem lauten Stöhnen, von dem ich nicht weiß, ob es noch aus meinen Träumen stammt oder tatsächlich meinen Mund verlassen hat, erwache ich und sehe mich mit weit aufgerissenen Augen in dem dunklen Hotelzimmer um. Mein ganzer Körper vibriert und kitzelt. Ich lasse mich zurückfallen und presse die Beine fest zusammen, versuche noch zu halten, was so schnell schwindet. Dann ist es weg und lässt mich missbraucht und fassungslos zurück. Mit meiner Hand meinen geöffneten Mund umschlossen starre ich an die weiße Decke hinauf.
„Gott Allmächtiger…“, murmele ich in meine Hand. Es wird eine Zeit dauern, bis ich mich davon erhole, das ist mir durchaus klar. Das war so… so… absurd. Ich traue mich nicht einmal mehr daran zu denken, weil ich das Gefühl habe dann wieder zu entschwinden. Nicht einmal über die Situation an sich kann ich nachdenken, weil es sie dann noch realer machen würde, als sie sich sowieso schon anfühlt. Ich versuche mich zu entspannen, aber mein Herz wummert noch immer und als ich meine andere Hand aus der Faust löse, die sie bildet, sehe ich Blut auf dem Laken. Ich habe meine Nägel so sehr in meine Faust gedrückt, dass auf meiner Handinnenfläche kleine, blutige Halbmonde zu sehen sind.
Es muss an dieser verrückten Zeit liegen, die sich anfühlt, als wäre die Welt nicht mehr an ihrem Platz. Zum Glück ist Ben noch nicht da. Was er von meiner Show halten würde, will ich mir gar nicht erst ausmalen. Auch wenn er im Moment wichtigere Probleme hat, als dass ein Geist seiner Verlobten im Traum einen amtlichen Orgasmus verpassen kann. Ich schüttelte allein bei dem Gedanken daran beschämt den Kopf. Ich war noch nie der Typ für solche Träume, schon gar nicht für solch intensive Träume. Ich widerstehe einen Moment dem Reiz im Internet zu suchen, ob das normal ist. Gerade die zweite Nacht in Folge, aber ich lasse es aus Angst, dass Ben irgendwann mal den Suchverlauf findet.
Ich muss irgendwie aus diesem Bett kommen und meinen Kopf unter kaltes Wasser halten. Ein Blick zur Uhr sagt mir, dass es halb drei Uhr morgens ist. Wackelig stelle ich die Beine auf dem Boden und stemme mich hoch. Ich bin noch immer ein vollkommenes Nervenbündel, meine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding. Als wäre kaum mehr Kraft in mir übrig schleppe ich mich von Wand zu Wand in Richtung Badezimmer, wo ich meinen ausgelaugten, nackten Körper bei voller Dunkelheit unter die Duschbrause stelle. Der erste Strahl ist ein Schock und ich unterdrückte mit Mühe und Not einen weiblichen Aufschrei, sprinte auf der Stelle auf und ab, um die Kälte in den Griff zu bekommen. Es dauert einen Moment, dann halte ich es besser aus und aus meiner anfänglichen Panik wird immerhin ein gleichmäßiges bibbern. Wie erwartet beginnt das kalte Wasser auf meinem Kopf und Nacken meinen Kopf zu klären.
Ich bemerke Ben zunächst gar nicht, höre nur seine Schuhe gegen die Wand schlagen, als er sie von seinen Füßen kickt. Ich erwarte gleich, dass mich der Lichtstrahl trifft, er mich fragt was zur Hölle ich hier eigentlich treibe. Doch das was er tut erschreckt mich bis ins Unermessliche.
Ohne ein Wort zu sagen lockert er seine Krawatte und kommt auf mich zu, öffnet die Glaswand der Dusche. Er ist in voller Kleidung, als er zu meinem nackten, bibbernden Körper in die Dusche steigt und seine Hände meine Taille greifen. Er drückt mich nach hinten, so dass der kalte Strahl nun nur ihn trifft. Das Wasser rinnt sein Gesicht entlang, glättet seine schwarzen Locken, die ihm nun wie ein Vorhang in der Stirn kleben. Noch immer sage ich nichts, sehe ihn nun an. Doch auch sein Blick ist nicht auf mich fokussiert, er scheint auf mein Schlüsselbein zu starren, aber man könnte meinen, dass er wie durch mich hindurch sieht.
Erst als ich mich wieder fange, einen Schritt nach vorne trete und seinen kalten, nassen Körper mit meinen Armen umschlinge reagiert er. Er umarmt mich ebenfalls. Zögerlich zunächst, doch dann wird sein Griff fester, sein Gesicht presst sich rau in meine Halsbeuge.
„Ich hab’s versucht, Schatz. Ich habe alles gegeben. Ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll.“ Seine Stimme zittert. Weil er weint? Wegen der Kälte? Ich weiß es nicht. Mit einem Schlag ist der Traum wieder verschwunden und die Kälte ist einfach nur noch schmerzhaft, dringt bis in mein Innerstes vor, umschließt mein Herz mit seiner frostigen Faust.
„Was machen wir jetzt?“, will ich von ihm wissen. Ich kann nicht akzeptieren, dass er sich mir nun entzieht. Nun, wo es wichtige Entscheidungen zu treffen gibt, wo ich ihn mehr denn je brauche. Er schüttelt leicht den Kopf. Ich spürte wie seine Brust tiefe Atemzüge macht.
„Wir gehen.“
„Wohin?“
„Dahin wo’s sicherer ist, wo nun alle hingehen werden. Wir versuchen nach Kanada zu kommen, holen auf dem Weg dahin unsere Sachen in Buffalo.“
„Okay.“ Ich versuchte Stärke und Unterstützung in meine Stimme zu legen, weil ich weiß, dass er sie nun von mir braucht. Mein Dad fällt mir ein. Eine starke Frau hinter einem mächtigen Mann, so wie er es gewollt hätte. Gott, ich hoffe, dass sie in Sicherheit sind und die Lage schnell begreifen. Doch wer weiß schon, ob sie da nicht in größerer Sicherheit leben, als wir hier. Die Welt steht Kopf und ich kann sie nicht richten. Aber ich kann mich fokussieren, so wie ich es immer gelernt habe. Alles andere ausblenden und nur in einer Disziplin denken. Einen Schritt nach dem anderen, keine Ablenkung mehr.
Ich befreie Ben aus meiner Halsbeuge, halte sein triefend nasses Gesicht in meinen Händen und starre ihn durchdringend an. „Dann ist es entschieden. Wir gehen in den Norden. Du und ich. Gemeinsam.“
4. Kapitel
Ich erwache im Süden. Ohne Ben.
Auch wenn ich zum Zeitpunkt des Erwachens weder das eine noch das andere weiß. Mein Erwachen ist auch kein friedliches. Keins von der Sorte, bei dem man genießerisch die Arme von seinem Körper streckt und dem ersten Sonnenstrahl entgegenblinzelt. Das erste, was ich bemerke ist Schmerz. Eine ganze Menge davon, den ich nicht einmal zuordnen kann so allgegenwärtig ist er. Ob ich die Augen zusammenkneife, ob ich versuche meinen Oberkörper zu bewegen oder aber meine Beine. Überall sind Schmerzen, unterscheiden sich lediglich in ihrer Art. Reißerische, brennende Schmerzen wie offene Wunden oder dumpfe Schmerzen, wie blaue Flecke, die einem kurzzeitig die Luft aus der Lunge saugt. Ich lokalisierte sie langsam. Meine Lippe brennt wann immer ich sie aufeinander beiße. Ich schmecke Blut in meinem Mund, kenne den Geschmack gut. Immer wenn mich etwas vollste Konzentration gekostet hat, habe ich mir die Lippen blutig gebissen. Eine Eigenschaft, die nicht einmal Clark aus mir herausbekommen hat. Doch als ich mit der Zunge an der Lippe entlangfahre fühle ich einen Riss, der nicht zu der abgerissenen Haut passt, die ich mir ansonsten blutig beiße. Ich schlucke das wenige herunter, was ich im Mund sammeln kann. Mein Hals ist staubtrocken. Und mein Kopf die nächste Baustelle. Ich spürte, dass etwas Festes um ihn geschlungen ist, traue mich aber immer noch nicht die Arme zu bewegen, um danach zu tasten. Aber allein bei der Bewegung der Augenbrauen spüre ich es ganz deutlich. Kopfverletzung, denke ich sofort, was sonst.
Ich scheine ein ziemlicher Totalschaden zu sein, wenn man bedenkt, dass jede Bewegung schmerzt, selbst das Öffnen der Augen, was so ziemlich die einfachste Handlung sein sollte.
Denk nach, Helena, rufe mich zur Ordnung, was ist das Letzte an das du dich noch erinnern kannst? Da ist Ben in meinen Armen, vollkommen aufgelöst im Kälteschauer der Dusche. Dann meine überstürzte Handlung. Ich wollte ihn rausreißen, ihn beschäftigt halten, damit er gar nicht erst in diese Trostlosigkeit absinkt. Meine nassen, eiligen Füße auf dem Boden. Ich bin abgerutscht. Das Gefühl vom Fallen. Natürlich. Ich bin wohl auf dem Waschbecken aufgeschlagen. Nicht zu knapp, möchte ich meinen. Das erklärt die Lippe, das Auge und wohl auch die Kopfverletzung, auch wenn das auf den ersten Blick mehr Verletzungen sind, als ein simpler Sturz verursachen könnte. Aber was weiß ich schon. Eine ganze Menge, mahnt mich meine innere Stimme. Und sie hat Recht. Mit Stürzen kenne ich mich tatsächlich erschreckend gut aus. Auf der Crossstrecke, von dem Pferderücken.
Aber das hier ist vielschichtiger. Ich taste nach meinen Rippen, die Augen immer noch geschlossen und immerhin bedeutet das, dass ich meine Arme einigermaßen schmerzfrei bewegen kann. Doch meine Rippen erklären den strahlenden Schmerz, der sich bis in meine Fußzehnen zieht, wenn ich meinen Oberkörper bewege. Prellung vermutlich, auch das ist nichts Neues für mich. Nach dem Sturz auf dem Waschbecken muss ich also zudem noch mit den Rippen auf einen weiteren Gegenstand gefallen sein. Langsam wird mir diese Theorie zu löchrig.
Ich lasse meine Arme wieder sinken, als meine Atmung schneller wird und selbst diese Anstrengung für meinen aktuellen Zustand zu schwer wird. Ich merke auch wie ich langsam wieder in eine Art Traumwelt hinweggleite. Ich wünsche mich noch kurz das passiert an Bens Seite zurück, weil ich weiß, dass ich dort so viel mehr gebraucht werde. Und weil ich ihn mindestens ebenso brauche.
Irgendwann zwischendurch habe ich das Gefühl, dass Hände mich abtasten, meinen Kopf anheben und den Verband wechseln. Ich meine sogar hohle Stimmen zu hören, auch wenn ich sie nicht zuordnen kann. Ansonsten ist es unheimlich still um mich herum, andächtig beinahe. Ich drifte erneut davon und diese Schwerelosigkeit gefällt mir langsam. Keine Sorgen, keine Hektik. Warum nicht für immer so bleiben? Fast als wenn man auf diese Frage gewartet hat, reißt es mich zurück.
„Na komm, Mädchen. Es wird langsam Zeit“, höre ich eine Stimme nah bei mir flüstern, als wenn sie sich zu mir hinabbeugt. Dann spüre ich etwas Kaltes, Nasses in meinem Gesicht und durch meinen Körper geht ein leichter Ruck, als würde er sich dagegen wehren. Wasser rinnt meine Schläfen entlang, sammelt sich in meine Ohrmuschel. „Du hörst mich, nicht wahr? Jetzt musst du nur noch die Augen aufmachen und hast es geschafft.“
Die eindeutig männliche Stimme klingt beinahe belustigt, als wäre all das hier nur ein blöder Scherz. Für einen Augenblick macht mich der Gedanke daran schon wütend. Aber diese Wut bleibt nicht lange und das schreibe ich im Nachhinein dem eindeutig liebevollen Unterton zu, die die glasklare Stimme außerdem noch mit sich bringt.
Ich versuche ihm zu gehorchen und blinzele, zwinge meine Augenlider regelrecht dazu sich zu öffnen.
Er muss es sehen, denn er reagiert sofort. „Erschreck dich nicht, Mädchen. Ich musste dein Augenlid nähen, der Riss war zu tief. Es brennt sicherlich noch beim Bewegen, aber das ist vollkommen normal.“
Noch bevor ich ihn vor mir sehen kann wird alles heller und heller um mich herum. Es erinnert mich an den Tageslichtwecker, den Clark mir immer empfohlen hat. Für natürlicheres Aufstehen. Mehr Energie am Tag, besseres Training. Ich will etwas sagen, auch wenn ich keinen Schimmer habe was, aber mein Mund ist noch immer staubtrocken. Ich öffne und schließe den Mund ein paar Mal, wie ein Fisch. Mein Gegenüber begreift und im nächsten Moment spüre ich einen Strohhalm an meinen Lippen. Trotz dem Brennen in meiner Lippe sauge ich gierig daran. So gierig, dass meine Atmung schneller wird und meine Rippen wieder zu schmerzen beginnen. Keuchend lasse ich vom Strohhalm ab, höre wie mein Gegenüber leise lacht.
„Das war wohl nötig, was? Ich habe immer wieder versucht dir etwas einzuflößen, aber viel war’s nicht. Freiwillig getrunken hast du ja nicht und ersticken wollte ich dich auch nicht. Früher wär’s so leicht gewesen. Da hätte man dir einfach eine Infusion gelegt und deinen Körper den Rest machen lassen.“ Ich ziehe die Stirn verwirrt zusammen, zumindest glaube ich das. Früher? Mental füge ich diese Frage dem Fragenkatalog hinzu, der in meinen Gedanken langsam überzuquellen droht. Doch jetzt gibt es erst einmal Wichtigeres. Orientierung zum Beispiel. Ich kneife also ein Auge zusammen und versuche es erst einmal nur mit dem, bei welchem ich keine Verletzung vermute. Es geht überraschend gut, wie ich finde. Ich sehe nicht viel, eigentlich nur eine schemenhafte Figur vor mir. Eine Mischung aus schwarz, grau und weiß. Mehr zunächst nicht.
„Willkommen zurück, Mädchen“, spricht der Schatten vor mir, der sich eindeutig zu nah über mein Gesicht beugt. Immer mehr und mehr wird deutlich. Eine überaus große Hakennase, die mich an den Schnabel eines Tieres erinnert. Eine Glatze, gesäumt von einem spärlichen Rest grauer Haare, die aussehen, als wäre ein grauer Heiligenschein auf den Kopf gerutscht. Und dass mir dieser Vergleich als erstes einfällt hängt wohl damit zusammen, dass an dem schwarzen Hemd ein weißer Kollar steckt, wie sie nur Pfarrer tragen.
„Ich glaube wir kennen uns offiziell noch nicht, mein Name ist Vater Xavier und du bist?“
„Helena“, krächze ich erbärmlich hervor, gefolgt von einem trockenen Husten, der eine Kettenreaktion voller Schmerzen in meinem Körper auslöst.
„Ah, die schöne Helena“, schmunzelt er freudig.
„Wo…?“, versuche ich es erneut, komme aber nicht über dieses eine Wort hinaus. Vater Xavier sieht aber nicht aus, als würde er zu der dümmeren Sorte Menschen gehören. Er nickt sofort.
„In meiner Kapelle, nahe Austin. In Sicherheit. Ich schätze auch, dass du noch eins, zwei Tage hier bleiben musst, bis ich dich aus meiner Notaufnahme entlassen kann.“ Jetzt kichert er erneut und geht er mir damit langsam gehörig auf den Zeiger. Oder besser gesagt; er ginge mir normalerweise damit auf den Zeiger, wenn da nicht das kleine Wörtchen ‚Austin‘ gefallen wäre.
„Austin?“, wiederhole ich. Dieses Mal mustert er mich eingehend, als würde ihn meine Verwirrung wiederrum überraschen. Er antwortet nicht sofort, als müsste er abschätzen, welche Richtung er als nächstes einschlägt. Dann spüre ich wie er eine meine Hände in seine nimmt und mich eindringlich ansieht, als wäre jeder Regung in meinem Gesicht von nun an Gold wert.
„An was erinnerst du dich, Helena?“
Ich weiß es nicht. Und selbst wenn ich es wüsste, könnte ich ihm es jetzt nicht verständlich erklären. Alles was mir übrig bleibt ist ein kurzes Kopfschütteln, daraufhin zieht er die Augen wieder ein Stückchen mehr zusammen.
„Weißt du, warum du hier bei mir liegst?“
Wieder ein vorsichtiges Kopfschütteln.
„Weißt du überhaupt warum du in Austin, Texas bist?“
Meine Augen werden größer. Mein Kopfschütteln ist nun zögerlicher, aber nicht weniger deutlich für ihn. Er sieht nun von mir weg irgendwo hin, aber ich merke, dass er das nur tut, um seine Gedanken zu ordnen. Meine Hand liegt noch immer in seiner und ich muss gestehen, dass es sich nicht schlecht anfühlt. Es hinterlässt etwas der Wärme in mir, die so urplötzlich fehlte, als ich die Augen aufschlug. Dann sieht er ruckartig zurück zu mir.
„Aber die Welt, an die erinnerst du dich noch?“ Darauf erntet er irritiertes Stirnrunzeln und er korrigiert sich sofort wieder. „War die Welt noch vollkommen in Ordnung in deiner Erinnerung? Gab es die Städte noch?“
Ich sehe ihn an und merke wie mein Kopf auf und ab wippt, obwohl mein Hirn versucht zu verarbeiten, was er mir damit sagen will. Gab es die Städte noch?, echot seine Stimme in meinem Kopf. Die Erkenntnis über seine Worte und die Bedeutung dahinter dringt nichts vollständig in meine Erkenntnis vor. Wie ein Film, den man im Fernsehen sieht, bei dem man Dinge auch hört, aber sie nicht in seine eigene Realität integriert. Weil sie da nicht hingehören. Gab es die Städte noch?, diese Realität gehört nicht zu meiner Welt. Eine Welt, in welcher ich soeben noch aus dem Fenster meines Hotelzimmers in die harmonische Stadt unter meinen Füßen geblickt habe. Doch schon eine Sekunde später drängelt sich ein weiteres Bild in den Vordergrund. Das mit dem fremden Mann. Dieser Traum. Die brennende Stadt aus Schutt und Asche. Alles ein Traum, der sich nur so unheimlich real angefühlt hat. So wie nun. Nichts weiter. Ich schließe die Augen, lasse mich wieder zurücksinken und fühle mich tatsächlich innerlich etwas beruhigt. Gleich werde ich wieder aufwachen und dann ist alles wieder beim Alten. Ich wieder bei Ben, dem ich davon erzählen werde. Wir werden beide darüber lachen und dann weiter unsere Zukunft planen, die selbst in dieser Realität alles andere als rosig aussah. Aber besser noch als alles was mich hier erwartet. Gab es die Städte noch?
Irgendwo höre ich das Öffnen einer Tür, doch es klingt anders. Hölzern. Ein Knarren, das in mir den Wunsch wachruft die Gelenke zu ölen. Dann schließt sich die Tür wieder, vorsichtiger, langsamer. Die Schritte von Vater Xavier entfernen sich, hören sich schlurfend an, als zieht er sie hinter sich her. Aber es ist eindeutig, dass er meine Seite verlassen hat. Seine Präsenz neben mir ist nicht mehr zu spüren.
„Sie war kurz wach, schläft nun wieder“, höre ich ihn sprechen. Der hohle Raum der Kapelle trägt jedes Wort zu mir hinüber. „Aber da gibt es etwas. Wie es scheint hat sie jede Erinnerung an die vergangenen fünf Jahre verloren, an die Kriege, an die Zerstörung. Auch ihr eigenes Schicksal scheint ihr vollkommen fremd zu sein. Du weißt, dass ich sie nicht für immer hier behalten kann und ich weiß auch, dass ich das kaum von dir verlangen kann, aber ich tue es nun doch; würdest du dich um sie kümmern? Einen schönen Ort für sie finden, weit weg von hier?“ Ich halte den Atem an, wage es keinen Laut von mir zu geben, während mein Kopf das nun verarbeitet. Sein Gegenüber scheint darauf nicht zu antworten, aber seine Reaktion muss nicht gerade voller Verständnis gewesen sein.
„Ich weiß, dass das nicht fair ist es gerade von dir zu verlangen und ich weiß auch von deinem Kodex gegenüber Alpha und dem Club. Du hast mehr getan, als in deiner Verantwortung steht. Gott wird es dir irgendwann danken.“
Und sein Gegenüber zum ersten Mal zu sprechen beginnt, schlägt mein Herz mit einer Heftigkeit, die mich selbst im Liegen schwindeln lässt. „Dein Gott is‘ tot, falls man dich noch nich‘ informiert hat, Xavier.“ Dann ein kurzes Zögern. Ich spüre fast wie er mit dem Kinn in meine Richtung nickt, wie seine blauen Augen wohl in diesem Moment auch zu mir schnellen. Tiefblau, weil er angespannt ist. „Aber sie noch nich‘. Ich werd‘ sehen, was ich tun kann, dass das so bleibt.“
5. Kapitel
„Na, das sieht doch schon sehr gut aus“, murmelt Xavier abwesend an meiner Seite, nachdem er den Verband um meinen Kopf gelöst hat und die genähte Platzwunde nahe meiner Schläfe betrachtet. Zwei Tage ist es nun her seit ich inmitten seiner Kapelle auf einer der verbliebenen Bänke aufgewacht bin. Zwei Tage in denen ich mir nun schon versuche einen Reim auf meine Lage zu machen. Und dabei bin ich im Grunde froh darum, dass Xavier sich manchmal stundenlang nicht blicken lässt. Jedes Mal wenn er verschwindet die Kapelle mit einem schweren Vorhängeschloss verschließt, als wäre ich seine Gefangene. Das gibt mir Zeit mich vorsichtig, Schritt für Schritt, mit meiner Situation auseinanderzusetzen. Zunächst war mir nichts anderes als mein Körper übrig geblieben. Egal, was in den letzten fünf Jahren geschehen ist; ein Kinderspiel war es sicherlich nicht für mich. Ich habe einige Narben mehr dazubekommen. Und das zu bemerken, obwohl mir nur eine Scherbe aus einem Spiegel bleibt, bedeutet schon einiges. Die aktuellen Verletzungen sind immerhin schon auf dem besten Weg der Heilung. Der dicke, schwarzrote Schorf auf meinen aufgekratzten Knien fängt an zu jucken, Xavier wird mir gleich die Fäden an der Wunde oberhalb meines Augenlides ziehen, welches ich jetzt immerhin wieder öffnen kann, ohne vor Schmerzen erneut in Ohnmacht zu fallen. Ansonsten scheint mein Körper noch immer der zu sein, an den ich mich erinnere. Vielleicht weniger muskulös, weniger trainiert, als ich ihn in Erinnerung habe. Aber ich weiß wie schnell das gehen kann.
Meine Verletzungen kann ich jedoch keinem Ereignis zuordnen. Unter meinen Fingernägeln finde ich dunkle Erde, die beim Herauspullen grünlich erscheint und modrig riecht. Als hätte ich mit den Händen in einem moosigen, feuchten Waldboden gewühlt. Nicht, dass diese Erkenntnis irgendwelche Erinnerungen auslösen würde.
„Jetzt lass‘ mich die Fäden ziehen“, spricht er weiter, immer noch so vergnügt, wie ich ihn von der ersten Sekunde an in Erinnerung habe. Wie als, wenn er jedem Gespräch entfliehen möchte, hat er sich in den letzten zwei Tagen nur vereinzelt blicken lassen, dann aber überaus geschäftig gewirkt. Doch nun nutze ich den Moment, den er braucht, um die Fäden mit einer rostigen Nagelschere zu lösen.
„Was ist mit der Welt, mit seinen Städten passiert?“, will ich mit vollem Mund wissen, als ich mir eine Handvoll Dosenmais in den Rachen schiebe. Xavier sieht mir nur kurz in die Augen, fokussiert dann seinen Blick schnell wieder auf mein Augenlid, welches er nun gewaltvoll stramm zieht. Ich versuche unter dem Schmerz nicht zu zucken, der auch gar nicht mehr so schlimm ist, wie erwartet.
„Es ist beachtlich, dass du dich an so gar nichts mehr erinnern kannst. Ich weiß nicht, ob ich dich bedauern oder beneiden soll“, seufzt er und kurz glaube ich, dass er meine Frage nicht beantworten will. Doch dann spricht er doch, während er mit der Schere die Stränge des Fadens nach und nach abknipst. „Erst die Wochen, Monate voller Anspannung, voller diplomatischer Verhandlungen und dann ging es plötzlich unheimlich schnell. Als hätte unser Feind alles schon von Anfang an so geplant.“ Unser Feind, denke ich. Ben hätte die Russen und ihre Verbündete niemals so bezeichnet. Verhandlungspartner, nannte er sie. Partner, die in schweren Zeiten auch an unserer Seite gekämpft haben, das dürfen wir nie vergessen. Die Erinnerung an sein sanftmütiges Gesicht, seine innere Zerrissenheit unterdrücke ich mit eiserner Faust. Er hat bis zum letzten Moment daran geglaubt einer der Menschen zu sein, die das Ruder noch herumreißen, das Unheil abzuwenden und ich hatte mir geschworen immer bei ihm zu sein, wenn ihm das nicht gelingen sollte. Er wusste, dass er selbst niemals so wichtig war, um irgendwann in den Geschichtsbüchern zu stehen, aber darum war es ihm auch nie gegangen. Es geht darum, was wir unseren Kindern einmal hinterlassen, Schatz. Seine Worte in meinen Gedanken schmerzen unheimlich, ich blinzele heftig, was passt, da Xavier gerade mit seiner Pinzette einen Teil des Fadens aus der Haut zieht.
„Die Bomben fielen gleichzeitig auf die größten Städte hinab. Wir alle dachten an Atombomben, so wie jeder auf der ganzen Welt, doch was auf die Städte niedergegangen ist, war etwas anderes. Heimtückischer, auch wenn ich mir kein Urteil anmaßen will. Es musste eine chemische Verbindung sein, die die Substanz der Gebäude zerstört hat. Sie hat sich innerhalb weniger Tage in die Gebäude und Menschen gefressen wie ein unsichtbares Feuer. Ich habe viele von ihnen gesehen. Kleine Kinder, Mütter“, er schüttelt nur den Kopf in einer fassungslosen Geste. Und das obwohl das Unheil für ihn nun fünf Jahre her ist. Für mich ist es, als hätte ich es gerade erst erlebt. „Wir haben sofort zurück geschlagen, haben mit den tödlichsten Waffen geantwortet, die wir auch erwartet haben, dass sie auf uns niederregnen würden. Ich glaube nicht, dass die Welt auf der anderen Seite der Meere besser aussieht. Beide Seiten haben keine Gefangene genommen.“
„Weiß man… wie viele...?“, flüstere ich.
Xavier zuckt mit den Schultern. „Millionen auf unserer Seite. Milliarden in der ganzen Welt, aber wer ist schon übrig um das zu zählen.“
Ich versuche all das zu begreifen, es zu verstehen, aber so sehr ich daran arbeite; ich glaube es nicht. Nicht wirklich zumindest. Mein Unterbewusstsein lässt sich noch immer ein Hintertürchen auf, durch das es schlüpfen möchte. Was, wenn das alles auch nur ein Traum ist? Äußerst lebendig zu träumen beherrsche ich durchaus, wie ich weiß. Auch, wenn das hier anders ist. Auch, wenn das Ziepen der Fäden, die Xavier aus meiner Haut reißt eine gleichmäßige Ermahnung zu sein scheint, dass dies hier die Realität ist. Aber was zur Hölle mache ich dann in Texas? Und wo ist Ben? Er hätte mich niemals einfach im Stich gelassen. Es muss etwas passiert sein, was außerhalb seines Einflussgebietes lag. An die andere Möglichkeit, die mir noch bleibt, will ich gar nicht denken. Wenn es ihn erwischt hätte, dann dürfte ich jetzt auch nicht hier sein, denn ich hätte seine Seite nie wieder verlassen. Garantiert nicht mehr nach dem Moment im Hotelzimmer, nach der kalten Dusche, die irgendwie alles verändert hat.
Meine Augen schweifen zu dem Kirchenfenster hinüber, ohne dass ich den Kopf bewege. Xavier hat mir das Versprechen abgerungen keinen Schritt nach draußen zu machen. Er möchte nicht, dass ich in meinem labilen Zustand von den Eindrücken überfordert werde. Und ich musste ihm da Recht gegen. Schritt für Schritt. Erstmal den Fuß fassen in nur einer Disziplin, sich nicht gleich überfordern. Nur mit Ausdauer kommt man ans Ziel. Alles Eigenschaften aus meinem früheren Leben, die mir nun helfen. Doch nun juckt es mich in den Fingern. Die kleine Kirche wird jede Stunde immer kleiner und kleiner, um mich herum. Ich liege auf einem kleinen Bettenlager neben der letzten verbliebenen Holzbank und starre in der Regel einsam vor mich hin. Die restlichen Bänke wurden irgendwann mal gewaltvoll aus dem dunklen Holzboden gerissen. Kleine, gleichmäßige Löcher, wie Krater zeugen noch von ihrer Existenz. Mir fällt irgendwann auch auf, dass kein Kreuz mehr an der weiß gestrichenen Altarwand hängt. Nur ein Schatten davon ist noch übrig geblieben. Dein Gott is‘ tot, schleichen sich die Worte des Mannes in meine Gedanken, als ich erneut zu dem Schatten sehe. Ein Schauer schleicht meine Wirbelsäule hinauf, den ich nicht so recht zuordnen kann. Ich habe Xavier immer noch nicht gefragt, was es mit ihm auf sich hat. Angeblich habe ich das Gespräch zwischen ihnen auch nicht gehört, aufgetaucht ist er seitdem auch nicht mehr. Ich weiß, dass ich viel zu viel Angst davor habe mich mit ihm auseinander zu setzten. Diese Baustelle erscheint mir aktuell noch viel größer zu sein, als alle anderen. Auch wenn sich mir das jeglicher Logik entbehrt.
„Was ist mit unserer Regierung?“, will ich von Xavier wissen, als er die Reste der Fäden sammelt und ein Pflaster aus seinem Arztkoffer fischt.
Er lacht leise auf, als hätte ich ihn nach dem Verbleib des Weihnachtsmannes gefragt. „Von der habe ich seit exakt fünf Jahren nichts mehr gehört. Sie gaben den Befehl zum Abschuss der Todbringer und dann wurde es still um sie. Mittlerweile steuern andere Mächte dieses Land.“
Ich forme meine Lippen schon zu der Frage, die mir zwangsläufig auf der Zunge legt, als sich die Kirchentür hinter uns lautstark öffnet. Wir zucken beide gleichermaßen zusammen. Vater Xavier reagiert als erstes und erhebt sich sofort. Ich merke wie angespannt sein Körper ist, doch als er die Figur erkennt scheint er sich zu entspannen.
Die Tür schließt sich wieder und es ist als verharrt die Figur zunächst unsicher, doch der Gedanke verpufft im nächsten Moment als schwere Schritte durch den hohen Raum hallen. Ich weiß sofort wer es ist und der erste Reflex ist es sich zu verstecken, wegzurennen oder unter die Bank zu krabbeln. Alles keine zweckmäßigen Lösungen, deswegen atme ich einfach tief ein und aus und erhebe mich ebenfalls, stelle mich ihm.
Dabei sieht er mich nicht einmal an, hat den Blick zu Boden gerichtet. Aber mein Herz wummert kraftvoll und ich habe Angst, dass man es nicht nur hört, sondern das Echo der Halle es direkt zu ihm tragen wird. Er ist wie aus meinem Traum geschnitten. Die schwarze Lederjacke, die staubig und etwas löchrig aussieht, eine dunkle Bluejeans, an dessen nietenbesetztem Gürtel eine Schlüsselkette geräuschvoll hin und her schwingt. Er hält den Blick noch immer gesenkt, die Hände in den Hosentaschen. Ich sehe nur eine Zigarette hinter seinem Ohr, zwischen den strähnigen, dunkelbraunen Haaren hervorlugen.
„Du hast dir Zeit gelassen“, spricht Xavier ihn vorwurfsvoll an und verschränkt die Arme vor seinem schwarzen Hemd. Nun hebt er den Blick, hat uns aber auch schon fast erreicht. Nichts an ihm ist auch nur einen Millimeter anders, als die Person aus meinem Traum. Die gespaltene Augenbraue, die hohen Wangenknochen, die ihn so streng und stolz wirken lassen, der spärliche Bart, der noch immer nicht den Leberfleck verbergen kann. Seine Augenfarbe sehe ich nicht, denn seine schmalen Augen liegen im Schatten, seines noch immer geneigten Gesichtes.
„Ging nich‘ schneller“, brummt er und hievt einen großen steingrauen Rucksack auf die Bank neben sich, die er sofort öffnet und Klamotten herausfischt. Er sieht nur kurz zu mir, schmerzhaft kurz, in meinem Körper schreit alles wild durcheinander. Dann wirft er die Klamotten zu Xavier, der sie überrascht auffängt. „Sie soll das anziehen.“
Ungeachtet der Tatsache, dass er mit einem Klamottenwechsel Recht haben könnte, verärgert mich sein Verhalten immens. Ich trage aktuell nur ein etwa knielanges Blusenkleid. Ein der Sorte, die ich normalerweise niemals anziehen würde, weil sie nicht nur unpraktisch, sondern auch noch verflucht albern für eine Frau in meinem Alter sind. Trotzdem sträubt sich alles in mir, mich seinem Willen zu beugen, der wie ein Tornado über mich hinwegfegt.
„‘Sie‘ heißt Helena und du kannst gerne auch mit ihr direkt sprechen“, spreche ich so selbstsicher wie nur möglich. Wieder schenkt er mir nur einen kurzen Blick, sieht dann wieder zu seinem Rucksack zurück, um ihn dann zu schließen.
„Von mir aus, Hauptsache du ziehst dich um. Ich werd‘ nich‘ den ganzen Tag auf dich warten.“
Ich will gerade etwas Gepfeffertes erwidern, als Xavier einen schützenden Schritt vor mich tritt. „Was ist dein Plan?“, will er von ihm wissen. Der Kerl wirft sich den Rucksack über eine Schulter, hält den Träger mit einer Hand fest. Er ist offensichtlich froh sich wieder direkt an Xavier zu wenden.
„Ich bring‘ sie nach Laredo. Das sind knapp vierhundert Kilometer, wenn wir gleich losfahren schaff‘ ich es heute Abend wieder zurück zu sein.“
„Laredo? Wo liegt das? Was soll ich da?“ Ich werde unter keinen Umständen zulassen, dass diese beiden über meinen Kopf entscheiden, ohne dass ich weiß, was zur Hölle mit mir passiert ist. Der Kerl wirft einen Blick zu Xavier, der fast schon einem Hilferuf gleichkommt. Ich kann erkennen, dass es nicht zu ihrer Vereinbarung gehört hat, dass er mir auch noch das Händchen hält. Aber ich werde mich sicherlich nicht wie ein ahnungsloses Vieh von dem einen zum anderen Ort verfrachten lassen, ohne rein gar nichts über den Zweck dieser Reise zu erfahren.
„Laredo ist eine Grenzstadt zu Mexiko. In Mexiko ist es… einfacher. Diese Chance solltest du nutzen.“
„Aber Mexiko… liegt im Süden“, denke ich laut. „Ich muss aber in den Norden, nach Buffalo, dann nach Kanada.“
Der Kerl lacht auf, stemmt die Arme in die Hüfte und schüttelt den Kopf, aber er sagt dazu nichts, als würde es ansonsten aus ihm herausbrechen.
„Wieso glaubst du dahin zu müssen?“, ignoriert Xavier die ungehaltenen Geräusche, die der Kerl vor ihm macht und wendet sich mir nun vollkommen zu.
„Du sagtest, dass… man mich so gefunden hat und ihr selbst nicht wisst wohin ich gehöre. Das letzte an das ich mich erinnere ist, dass ich in Washington war. Mit meinem Verlobten. Und dass wir nach Buffalo flüchten wollten, dann weiter nach Kanada. Das ist die einzige Spur, die ich noch habe.“
„Das sind tausende, verfickte Kilometer!“, bricht es nun doch aus dem Kerl heraus. Ich sehe mit eiskaltem Blick zu ihm hinüber, den selbst ihn zu überraschen scheint. Doch das wütende Lodern in seinen Augen verschwindet dennoch nicht.
„Ich bin dir dankbar dafür, dass du mich hergebracht hast und auch dass du dich bereit erklärt hast mich wegzubringen, aber ich bin kein Vieh, das man irgendwo ablädt, wo’s dir gerade passt. Wenn das so ist, dann entbinde ich dich aus jeder Form der Schuld und werde meinen Weg schon selbst finden.“ Er macht den Mund auf, will etwas erwidern, doch zuvor wende ich mich wieder an Xavier. „Außerdem würde ich mich zuvor gerne noch in Austin umsehen. Es muss einen Grund haben, warum ihr mich hier gefunden habt.“
Ich sehe sofort die Abwehr in seinem Gesicht, auch wenn er glaubt sie gleich wieder unter Kontrolle zu haben. „Helena, ich halte das für keine gute Idee. Hier bist du nicht sicher, ansonsten würde ich dich weiterhin bei mir behalten, glaub‘ mir das! Frauen sollten in diesen Zeiten nicht alleine unterwegs sein und das sage ich nicht, weil ich glaube, dass du dich nicht wehren könntest. Ich sage das aus Gründen, die du noch verstehen wirst.“ Erneut sieht er kurz zu dem Kerl zurück. Ich widerstehe den Drang ebenfalls zu ihm zu sehen. „Ich schlage dir Folgendes vor; Riley wird dich in Richtung Norden bringen, so weit es ihm möglich ist“, schiebt er schnell ein, bevor der Kerl Einspruch erheben kann. „Und ich werde derweil hier in Austin die Augen und Ohren offenhalten. Sollte jemand dich kennen, deinen… Verlobten kennen, dann werde ich über Riley Kontakt zu dir halten, dich sofort informieren.“
Riley, denke ich, sein Name ist keine Enttäuschung. Er sieht aus wie ein Riley. Ein stinkwütender Riley, der sich Xaviers Plan wohl gerade nochmal durch den Kopf gehen lässt.
„Ich bring‘ sie bis zum Ende des Texas Charters. Beaumont. Das sollte reichen und sind in etwa auch vierhundert Kilometer“, erklärt er sich einverstanden. Ich unterdrücke das Verlangen mich bei ihm zu bedanken, auch wenn es vielleicht angemessen wäre. Aber irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass er es hören will. Er wirft uns beiden einen abschließenden Blick zu und wendete sich im nächsten Moment ab, marschiert mit strammen Schritten davon.
Es sollte sich wie ein Triumph anfühlen, doch das tut es nicht. Ich fühle kalte Angst in meinem Körper, nun da ich weiß, dass ich mich der nächsten Disziplin stellen muss. Und das wird schwerer werden, als alle zuvor. Ich muss mich dem stellen, was da draußen auf mich wartet und die Vorzeichen stehen alle auf Sturm. Nur die Richtung, aus welcher er kommen wird kenne ich noch nicht.
6. Kapitel
Xavier zieht sich nach draußen zu Riley zurück, gibt mir den Freiraum, um mir die Sachen anzuziehen, die Riley mir mitgebracht hat. Eine schwarze Lederhose, die zur Hälfte aus verblichenem Wildleder besteht. Ich quetsche mich in die Hose. Nachher schmerzen meine noch immer pochenden Rippen und ich stehe im Schweiß. Keine Ahnung, ob ich es jemals wieder schaffe aus der Hose zu kommen. Oder ob ich es will, denn der Auswand muss um einiges schwerer sein, wenn ich erstmal reingewachsen bin. Er hat mir ein beiges T-Shirt dazugelegt. Doch weder eine frische Unterhose, noch einen frischen BH, wobei ich ihm letzteres noch verzeihen könnte. Mein roter BH ist voller brauner Schmutzspuren, die aussehen als wäre ich bis zur Brusthöhe durch einen Tümpel gewatet. Hätte ich etwas zu schreiben, würde ich mir diese Merkmale notieren. Vielleicht würden sie dann irgendwann ein vollständiges Bild ergeben.
Nachdem ich mir das beige T-Shirt über meinen Kopf und schmutzigen BH gestülpt habe bleibt ein letztes dunkles Kleidungsstück übrig, welches ich nicht gleich zuordnen kann. Ein dickerer Jerseystoff, der zunächst wie ein Schlauchschal aussieht. Und auf den zweiten Blick bewahrheitet sich das auch. Nur, dass das nicht alles ist. Er hat wohl noch eine integrierte Kapuze, die man sich tief ins Gesicht ziehen kann, ist oben enger als unten, was dazu führt, dass man ihn entweder als Schal oder als Poncho über den Schultern tragen kann.
Ich habe zwar keine Ahnung was für ein Wetter gerade da draußen ist, aber ohne Zweifel befinde ich mich wohl in Texas. Weder ein Poncho, noch ein Schal werde ich aktuell brauchen.
Also halte ich den Schlauchschal noch in der Hand, starre ein letztes Mal auf die erbärmlichen Reste, die ich zurücklasse. Ein albernes Blumenkleid voller Blut und Schmutz. Die Reste meines Verbandes, der Fäden und ansonsten nichts. Ich besitze rein gar nichts. Keine Wertsachen. Aber auch keinen Ballast.
Einmal noch tief durchatmen, dann schnell raus hier, bevor ich es mir anders überlege. Die vergangene Zeit hat mir gezeigt, dass es auch nichts bringt mich gewaltvoll in meine alte Welt hineinzuträumen. Egal, wie sehr ich es versucht habe, wie sehr ich mir Ben in Gedanken hervorgerufen habe. Er blieb verschwunden. Also bleibt mir nichts übrig als ihn zu suchen.
Die Sonne steht hinter der Kirche, deren Turm einen weiten Schatten auf die Umgebung wirft. Zunächst bemerke ich die beiden Männer nicht, als ich die Holztür aufstemme und ins Freie trete. Es ist nicht das was ich erwartet habe, denn der Schock, den ich durchaus erwartet habe, bleibt aus. Alles ist… idyllisch, ruhig. Ich sehe in eine Gräserlandschaft, die sich sanft im Wind wiegt. Es riecht nach frisch gemähtem Gras, nach Sonne und Asphalt. Erst auf den zweiten Blick begreife ich, dass ich nicht so weit ab von jeglicher Zivilisation bin, wie ich denke. Ich der Entfernung sehe ich hellgraue Dächer einer Lagerhalle, letzte Strommaste, deren Kabel durch weitere Strommaste, die wohl auf dem Boden liegen nach unten gezogen werden. Ich kann es nur nicht recht erkennen, weil die Rasenfläche, die wohl einst akribisch gemäht worden ist nun einer Wildnis aus Gräsern und Wildblumen gleich. Neben mir steht eine Sense, mit der Xavier wohl versucht das Gröbste in Schach zu halten.
Im nächsten Moment entdecke ich die Männer im Schatten des Gebäudes stehen. Mein Blick folgt einer gräulich-weißen Dunstschwade und landet auf Riley, der an der Holzvertäfelung der Kirche lehnt und musternd zu ihr hinüber sieht. Hinter ihm bröckelt der weiße Lack in Bahnen vom Holz. Als er meinen Blick bemerkt sieht er wieder weg, mürrischer denn je. Dann zieht er ein letztes Mal an der Zigarette und wirft sie schwungvoll von sich weg. Er stößt sich von der Wand und kommt mir entgegen, bläst dabei den Rest Qualm aus seinem Mundwinkel. Riley deutet mit dem Kopfnicken auf den Schlauchschal in meiner Hand, noch bevor er mich erreicht.
„Zieh‘ den an.“
„Es bestimmt an die vierzig Grad“, protestiere ich fassungslos. Wobei die Fassungslosigkeit eher von seiner respektlosen Art herrührt. Er befindet sich gerade meilenweit entfernt von dem Kerl aus meinen Träumen. Er befindet sich genauer gesagt nicht einmal im gleichen Sonnensystem.
„Meine Tour. Meine Regeln“, entgegnet er und damit ist das Thema für ihn beendet. Er wendet sich ab, als Xavier auf mich zukommt. Sein Lächeln ist amüsiert, als würde es ihm Spaß machen mitzuerleben wie Riley mich behandelt.
„Für jetzt solltest du tun, was er dir sagt, auch wenn’s schwer fällt“, rät er mir mit leiser Stimme und packt mich mit beiden Händen an den Schultern, um mir nochmal ins Gesicht zu sehen. Xavier kennt mich sicherlich länger, als ich ihn. In all den Tagen, in welchen ich in der Bewusstlosigkeit schwebte, die mir ein Teil meiner Erinnerung geraubt hat, hat er sich aufopfernd um mich gekümmert, um mein Leben gebangt. Und ich weiß, dass ich ihm das niemals vergessen werde. Ich kann ihm ansehen wie schwer es ihm fällt. Da ist eine Trauer in seinen alten Augen, eine gewisse Melancholie, die ich nicht zuordnen kann und die mich für einen kurzen Moment fragen lässt, ob er nicht doch mehr weiß, als er zugegeben hat.
Doch das ist nicht die Zeit dafür und ich bin mir sicher, dass er alles, was er für sich behält, aus einem guten Grund für sich behält. Ein Schritt nach dem anderen.
Er zieht mich vorsichtig an sich heran, als wäre ich noch immer zerbrechlich und drückt mich dann doch fester an sich, als ich es dem gebrechlichen Mann zugetraut hätte. Zögerlich schließen sich meine Arme auch um ihn, als er flüstert: „Sieh‘ nach vorne, schöne Helena. Manchmal ist es besser sich nicht zu erinnern.“
Als ich ihm wieder ins Gesicht sehe, weiß ich, dass da mehr ist. Dinge, die er mir nicht gesagt hat. Aber ich bin ihm nicht böse, denn ich gedenke nichts Geringeres als das zu tun. Nach vorne zu schauen, der einzigen Erinnerung hinterher jagen, die mir noch geblieben ist.
Er winkt mir noch, als ich Riley mit schnellen Schritten folge, mir dabei den Schlauchschal anziehe, die Kapuze dabei tief ins Gesicht. Blöd bin ich nicht. Ich weiß genau, dass es Riley bei dieser Art Schal sicherlich mehr drum ging mich zu verbergen, als meinen Hals vor einer unwahrscheinlichen Erkältung zu schützen. Vielleicht hat Xavier Recht. Er ist ein ziemliches Arschloch im Moment, aber seine Ratschläge sind die einzigen, die mich in einer fremden Welt am Leben halten können. Frauen sollten in diesen Zeiten nicht alleine unterwegs sein, schießen mir Xaviers Worte durch den Kopf, als sich mein Blick auf den Rücken meines Vordermannes legt, der mich nicht einmal beachtet. Ob er mich beschützen würde? Dass er es kann, glaube ich ihm. Er hat diesen Blick, der manchmal schon ausreicht, um Kerle in die Flucht zu schlagen. Er wirkt zwar nicht so muskulös wie Ben, dem es besonders wichtig war, dass jeder einzelne Muskel in den Vordergrund tritt, wenn er ihn anspannt, aber er wirkt von Natur aus kräftig, stark. Sein Gang auf eine stolze Art und Weise männlich, die schon fast als arrogant durchgehen könnte, wenn da nicht immer das Schimmern in seinen Augen wäre. Stille Wasser sind tief, so sagt man doch.
Als mein Blick auf seinen Rücken fällt, realisiere ich erst in diesem Moment den großen Aufnäher darauf, wie von einer dieser Motorrad Gangs, halb verdeckt von dem großen Rucksack, den er noch immer auf einer Seite trägt. Ich beschleunige meine Schritte, um etwas zu ihm aufzukommen. Wir laufen einen asphaltierten Weg entlang zu einem Parkplatz, der umgeben von den hohen Gräsern wie eine Lichtung wirkt.
„Weißt du, wir können uns abwechseln. Du musst nicht die ganze Zeit fahren“, biete ich ihm aufmerksam an. Mein erster Verdacht scheint sich langsam zu bestätigen, als er amüsiert schnaubend seinen Gang beschleunigt, als wöllte er unter keinen Umständen neben mir laufen. Er antwortet mir jedoch nicht und das braucht er auch gar nicht, denn es ist ziemlich schnell klar was unser Gefährt sein wird.
Auf dem Parkplatz stehen einige Fahrzeuge, doch nur eins ist nicht vollkommen verrostet. Nur bei einem fehlen nicht die notwenigen Türen und Motorhaube. Nur eins ist nicht vollkommen ausgeweidet worden bis auf das letzte Polsterstück.
Das Gefährt ist tiefschwarz, glänzt in der Sonne wie Teer. Einzelne Chromteile schimmern wie Silber. Es ist keins dieser Sporträder, bei denen man mehr liegt, als sitzt. Aber es ist auch keins dieser Dinger, auf denen ich mir nur dickbäuchige Männer mit weißem, langen Vollbart vorstelle. Vielleicht eine Mischung? Ich bin sicherlich kein Experte und das macht es mir wirklich schwer mir meine weitere Reise auch nur annähernd vorzustellen. Riley beachtet mich gar nicht weiter, kramt in seiner Hosentasche nach einem Dreieckshalstuch, welches er sich um seinen Hals bindet, dabei wie selbstverständlich weiter läuft, obwohl ich stehen geblieben bin. Erst als er den Rucksack blind nach hinten reicht, bemerkt er, dass ich da gar nicht mehr stehe, sondern Meter hinter ihm, mein Blick auf das schwarze Monstrum geheftet.
„Nich‘ dein Ernst“, knurrt er laut und wedelt auffordernd mit dem Rucksack herum.
„Was sagtest du, wie viele Kilometer sind es bis Beaumont?“
„Vierhundert. Eher mehr. Ich will die Highways meiden.“
„Vierhundert“, wiederhole ich geistesabwesend. Das scheint etwas bei Riley auszulösen, denn er kommt mit einem genervten Laut zurück zu mir, bleibt kurz vor mir stehen. Die aufgehende Sonne scheint ihm nun mitten ins Gesicht, trotz der zugekniffenen Augen kann ich nun erkennen, dass sie tatsächlich blau sind. Wie in meinem Traum. Aber seine Gesichtszüge sind so viel härter, so viel kälter, dass ich an dem Mann zweifele, der mir dort begegnet ist.
„Hör‘ zu, du hast keinen Schimmer was ich mir aufhalse, weil ich dich auf deinem beschissenen Selbstzerstörungstrip mitnehme, kapiert? Du kannst jetzt entweder aufhören die Prinzessin zu spielen oder du läufst. Aber dann geb‘ ich dir einen Tag und deine Leiche verkokelt unter der Sonne.“
Ich erwiderte seinen harten Blick, lege aber gleichfalls so viel Härte in meinen Blick, wie ich es in diesem Moment schaffe. Keine Ahnung mit welcher Art Frauen er glaubt sonst zu tun zu haben, aber er wird sich dran gewöhnen müssen, dass er mich nicht einfach so herumkommandieren kann.
„Vierhundert Kilometer so nah hinter dir sitzen oder als verkokelte Leiche enden, das ist für mich erschreckend nah auf einer Stufe.“
Seine Augen schießen abwechselnd zwischen meinen hin und her und ich würde nun alles dafür geben, um seine Gedanken lesen zu können. Obwohl es sich in manchen Momenten anders anfühlt, so ist er doch ein unberechenbarer Fremder, der nur darauf gewartet haben könnte, dass Xavier uns nicht mehr sieht, um mich dann in den Boden zu stampfen.
Er gibt einen Laut von sich, der eine Mischung aus einem Grunzen und Knurren ist und wendet sich ab, stampft zu seiner Maschine zurück. Ich gebe mich geschlagen, denn genaugenommen habe ich keine Wahl. Die wenigen Möglichkeiten habe ich schnell abgewogen. Alleine losziehen haben mir sowohl Xavier, als auch Riley nicht gerade schmackhaft gemacht. Und ein Blick zu den ausgeweideten Wracks rechts und links von mir lässt die Hoffnung schwinden, dass ich selbst ein Gefährt finde.
Doch, obwohl mich Ben immer gerne als Geschwindigkeitsjunkie bezeichnet hat, ist es mir noch nie in den Sinn gekommen auf ein Motorrad umzusteigen. Nicht, weil ich darauf keine Lust gehabt hätte oder wegen der Angst. Im meinem Leben hat es bislang, neben meinem Sport, nur äußerst wenig Spielraum für andere Hobbys gegeben. Die wenige Zeit, die mir neben dem Reit-, Schieß-, Schwimm-, Fecht- und Lauftraining geblieben war, hatte ich ausschließlich für Ben verwendet. Und keine Sekunde davon war verschwendet, denke ich nun sehnsüchtig, während ich mich in Bewegung setzte, um die nächsten Stunde fest geklammert an diesen Affen zu verbringen.
Im Vorbeigehen greife ich nach dem Rucksack am Boden, der überraschend schwer ist, und hieve ihn auf meinen Rücken. Riley hat derweil den Schlüsselbund rausgekramt, dort einen Schlüssel gelöst, den er nun in das Schloss steckt. Er schwingt sich in einer Bewegung auf die Maschine, die kurz unter dem Gewicht schwankt, aber noch immer aufgebockt auf dem Ständer steht. Ich verkneife mir die Frage nach einem Helm, weil ich mir die Frage anhand unseres Gepäcks recht schnell selbst beantworten kann. Die Stimmung betreffend wäre es auch sicherlich nicht förderlich gewesen. Er dreht sich ungelenkig um und klappt an beiden Seiten des Motorrads zwei, mit Gummi überzogene Stäbe heraus, dann sieht er nochmal kurz zu mir.
„Tret‘ da hin, um drauf zu kommen und lass‘ deine Füße auch während der Fahrt da.“ Ich habe das dringende Bedürfnis zu salutieren, lasse aber auch das lieber und komme gezwungenermaßen näher. Doch ich sehe recht schnell, dass es damit nicht getan ist. Ich werde mich zudem irgendwie an ihm festhalten müssen. Unschlüssig stehe ich also da und starre auf seinen unbeweglich, abwartenden Rücken. Doch hauptsächlich, weil ich mir nicht erneut eine verbale Watsche einfangen will, lege ich meine Hand zögerlich auf seine Schulter, fühle da das raue, aufgeheizte Leder. Dann ziehe ich mich hoch, erhasche einen letzten Blick auf seinen Rücken und das dort aufgestickte Bild.
Ein Totenschädel, der finster lächelnd von unten aus dem Boden oder durch den Asphalt zu brechen droht. Er scheint dabei wie die Sonne. Darüber steht groß; Sun Raider. Sonnenräuber. Wie nett, denke ich mir noch bevor die heiße Sitzfläche mich ganz automatisch an seinen Rücken zwischen meinen Beinen presst und ich aufgrund der augenblicklichen Intimität die Luft anhalte.
7. Kapitel
Wie als wäre jede Sekunde, die er länger mit mir verbringen müsste, verschwendet startet er das Motorrad sofort. Ich spüre die donnernden Vibrationen unter mir, die sich auf meinen Vordermann übertragen und bis in meine Gedärme vordringen. Mir ist schlecht. Ich weiß nur noch nicht so ganz aus welchem Grund und ob es nicht eigentlich ein angenehmes Gefühl ist. Meine Hände liegen noch immer, leicht wie eine Feder, auf seinen Schultern. Er wird mir sicherlich sagen, wenn das nicht ausreichend ist.
Doch da liege ich falsch. Er gibt zum ersten Mal Gas und es reist mich so plötzlich nach hinten, dass ich hektisch nach vorne greife und Riley so fast mit meinen Armen erwürge. Er bremst abrupt und späht wutentbrannt über seine Schulter zu mir zurück.
„Scheiße, was stimmt nicht mit dir!“, brüllt er gegen den Lärm des stotternden Motors an.
„Vielleicht, dass ich zum ersten Mal auf diesem Ding sitze und du wirklich ein äußerst mieser Lehrer bist“, entgegnete ich, nicht minder wütend.
„Was gibt’s da nicht zu verstehen? Halt dich fest, damit du nicht runterfällst, halt die Klappe beim Fahren und hör auf mit deinen panischen Aktionen, die können uns bei voller Fahrt beide ins Grab bringen.“
„Verlockend“, zische ich unter angehaltenem Atem und versuche meine innere Ruhe zu finden. Durchatmen, Kontrolle über die Gefühle bekommen, so wie mein Trainer Clark es mir schon immer gezeigt hat.
„Was?“, will er wissen.
„Verstanden“, gebe ich mit einem Augenrollen nun lauter zurück.
Er zögert noch einen Moment, zieht dann das Halstuch über Mund und Nase und stellt das Motorrad wieder in Position. Es scheint eine Art Kompromiss zu sein, dass er dieses Mal nicht ganz so viel Gas beim Anfahren gibt, auch wenn ich jetzt zumindest gewusst hätte was mich erwartet. Er dreht die Maschine im langen Bogen, was bei mir ein kurzes Bauchflattern verursacht bei dem Gedanken daran, dass sie so das Gleichgewicht verlieren könnte. Unter dieser schweren Maschine zu liegen stelle ich mir nicht angenehm vor.
Riley fährt langsam vom Parkplatz auf eine verlassene Asphaltstraße hinaus. Mir bleibt kaum Zeit meine nähere Umgebung zu erkunden, als er den Motor aufheulen lässt und das Motorrad einen Satz nach vorne macht. Es ist eine Warnung an mich. Er möchte bei der nächsten Beschleunigung nicht schon wieder gewürgt werden und ich tue schließlich das, worum ich wohl nicht herum komme. Meine Arme schlingen sich um seinen Oberkörper, bis sie sich an seiner Vorderseite treffen. Darauf scheint er gewartet zu haben, denn nun drückt er das Gas mit der Hand voll durch und das Motorrad schnellt mit einem Sprung nach vorne, der mich überrascht, obwohl ich damit gerechnet habe. Die Maschine wird lauter unter uns. Die Geschwindigkeit schiebt mich nach hinten und sorgt ganz automatisch dafür, dass ich mich fester an ihn klammere, nun auch meine Wange an sein Schulterblatt lege. Motorenöl und Zigarettengeruch dringt mir in die Nase. Ich schließe die Augen krampfhaft. Ich spüre wie er sich bewegt, das Motorrad schlingert, aber kaum an Geschwindigkeit verliert und als ich kurz blinzele sehe ich, dass der Asphalt an vielen Stellen aufgebrochen ist wie der Lack an der Fassade von Xaviers Kirche. Riley fährt im geübten Slalom herum, erwischt aber immer mal wieder eine Bodenwelle, die mir kurz die Luft aus der Lunge presst. Meine Rippen sind noch weit davon entfernt sich nicht mehr bemerkbar zu machen.
Nach einigen Minuten entdecke ich den Vorteil an dieser Reise. Ich muss nicht mit ihm sprechen. Meine Wange ist noch immer wie ein verängstigtes Kleinkind an sein Schulterblatt gepresst. Langsam löse ich mich und sehe die vorbeirasende Natur um uns herum. Doch es ist erschreckend wenig, was sich uns offenbart. Ich hatte erwartet die Welt in einem wesentlich schlimmeren Zustand vorzufinden. Das Einzige, was unbestreitbar Einzug gehalten hat, ist die Natur selbst. Hüfthohe Graslandschaften, verwucherte Häuserreste, die allesamt unbewohnt aussehen. Das Zweite, was mir in dem Zusammenhang auffällt, ist die Einsamkeit. Die Sonne scheint munter auf diesen verlassenen Abschnitt hinab, wir rasen an keinem Menschen vorbei. Niemand ist interessiert an dem knatternden Lärm, der an ihnen vorbei rauscht. Millionen Tote, denke ich traurig. Dieses Land ist so riesig und wir nur noch ein unbedeutender Teil davon, den die Wildnis zu verschlucken droht. Wie hatte es nur so weit kommen können?
Überall sehe ich vereinzelte Autos stehen, doch keins sieht noch fahrtüchtig aus. Der Rost ist die eine Sache, doch sie sehen vollkommen ausgenommen aus. Allesamt. Ich entdecke ein rotes Kreuz auf den Tankdeckeln, das aufgesprayt aussieht und immer wieder und wieder auf den vorbeirauschenden Autowracks zu erkennen ist. Rileys Motorrad hingegen sieht beinahe aus wie neu.
Nach nur wenigen Minuten drosselt er das Tempo und ich runzele verwirrt die Stirn, als er von der einigermaßen befestigten Straße, die zum Highway führt, auf eine offensichtliche Schotterpiste abbiegt. Nachzufragen hätte akustisch und menschlich nichts genutzt, das ist mir klar, aber der Sinn dahinter erschließt sich mir nicht wirklich. Nun muss ich die Zähne zusammenbeißen, als Riley wieder Gas gibt und die Maschine über Erdhügel und kleinere Krater springt. Meine Rippen schmerzen, als würde mir bei jeder Erschütterung jemand in den Bauch boxen. Ich drücke meine Stirn gegen sein Schulterblatt, versuche den Schmerz gleichmäßig nach außen zu atmen. Vielleicht bemerkt er es, vielleicht ergeht es ihm auch nicht anders, denn er fährt langsamer. Ich merke wie er Hubbel und Löcher umkreist, anstatt sie voll mitzunehmen. Ist sicherlich auch besser für das Motorrad und für seine Fracht darauf allemal.
Doch er bleibt dennoch auf dem Schotterweg, der sich zumindest etwas bessert, als das Geröll festem, rötlichem Sandboden weicht. Kurz sehe ich zurück. Wir ziehen eine staubige Sandwolke hinter uns her. Ich kann nicht einmal erkennen an welchem Punkt sie sich wieder setzt. Rechts und links von uns waren wohl einst Felder, denn die Gebiete sind mit Zäunen begrenzt. Manche davon stehen nicht mehr. Doch der Mais und das Getreide, welches hier wohl einst wuchs, sind verdorrt und kaum noch als solches zu erkennen. Auch die Bäume um uns herum wirken kahl und abgestorben. Nur Gräser und Büsche halten sich noch wacker. Der Staub brennt mir langsam in den Augen und ich ziehe die Kapuze tiefer ins Gesicht und über meine Nase. So sitze ich eine Zeitlang hinter Riley und sehe mit zusammengekniffenen Augen in die so neuartige Welt um mich herum. Fast schon schäme ich mich für den Gedanken, dass das ungezügelte Wüten der Natur auch etwas für sich hat. So sollte die Welt eigentlich sein. Nicht kontrolliert durch den Mensch. Wir sind hier nur ein Gast, können jederzeit wieder verschwinden. Doch die Natur wird bleiben, sich ihr Anrecht zurück erkämpfen.
Tief in Gedanken versunken beginne ich mich zu entspannen. War es vorher noch undenkbar gewesen diese Tour auf diese Art zu bestreiten, so gewinne ich ihr langsam etwas ab. Ich nehme die Gerüche wahr, genieße den Fahrtwind, der sich manchmal unter meine Kapuze schummelt und dann wird mir auch klar, dass selbst die Anwesenheit meines Begleiters beruhigende auf mich wirkt. Besonders, wenn er schweigt.
Es vergeht sicherlich mehr als eine Stunde, als Riley die Schotterpiste wieder verlässt und sich einer befestigten Straße nähert. Ich beobachte aufmerksam wie er das Motorrad zurück auf die Straße lenkt und nochmals abbiegt. Das Ortsschild ‚Giddings‘ hängt schief und hat zu meinem Entsetzen diverse Schusslöcher, trotzdem passiert Riley es in aller Ruhe. Ich richte mich etwas auf, spähe über seine Schulter nach vorne. Wir nähern uns einer Betonwüste, die wohl einst ein Industriegebiet gewesen ist. Neben uns befinden sich gleich drei Tankstellen, die ihre besten Jahre schon lange hinter sich haben. Auch dort entdecke ich die verdächtigen roten Kreuze. Auf der anderen Seite befindet sich wohl eine ehemalige Shoppingmall, diverse Fast Food Läden mit ihren Drive In Möglichkeiten ebenfalls. Alles in allem eine vollkommen unscheinbare Gegend, wenn sich auf dem großen Parkplatz davor nicht zahlreiche Menschen tummeln würden.
Riley lenkt das Motorrad in die Richtung, wird langsam und langsamer, bis er schließlich die Füße absetzt und das Motorrad ganz zum Stehen kommt. Ich selbst bemerke es kaum und bin viel zu fasziniert von den Geschehnissen vor mir.
Was ich sehe erinnert mich an eine Mischung aus Mittelalter und Neuzeit. Ich höre das Gackern von Hühnern, das Grunzen von Schweinen und hier und da kreuzen Reiter auf Pferden mein Blickfeld. Wäre da nicht ihre Kleidung, die zwar alt und staubig, aber dennoch neumodisch aussieht und der große Shoppingmall Komplex im Hintergrund, hätte man die Szene tatsächlich für einen Mittelaltermarkt halten können. Denn nichts anderes scheint dies zu sein. Vereinzelt stehen da Stände, auf denen ich Stapel an Dosen, Tiere in Käfigen und Lebensmittel sehe. Es erinnert mich eher an einen Flohmarkt, auch wenn mir schnell klar ist, dass das hier einem lebensnotwendigeren Zweck dient.
„Steig ab“, befiehlt Riley mir und seine Stimme klingt noch um einiges rauchiger, als zuvor.
Sofort lockere ich meinen Griff um seinen Körper und schiebe mich nach hinten, kraxele dann seitlich von der Maschine. Meine Beine zittern leicht, ich halte mich vorsichtshalber an dem Motorrad fest. Während Riley ebenfalls absteigt, entgehen mir nicht die Blicke, die uns die Menschen zuwerfen und die ich zunächst nicht zuordnen kann. Ich ziehe meine Kapuze tiefer in mein Gesicht, doch schon einen Wimpernschlag später fällt mir auf, dass man mir keinerlei Beachtung schenkt. Es ist Riley, den sie mustern. Nur ganz kurz, als würden sie es nicht wagen ihn länger anzusehen. Und irre ich mich oder ist das Furcht in ihrem Blick? Ich sehe irritiert zu Riley, doch der schaltet unbekümmert seine Maschine ab, kommt dann zu mir, um mir, ohne ein Wort zu sagen, den Rucksack vom Rücken nimmt.
„Was ist das hier?“, will ich von ihm wissen.
Er schenkt mir nur einen kurzen, verwirrten Blick, als hätte ich ihn nach der Farbe des Himmelns gefragt. Doch im nächsten Moment scheint ihm wieder einzufallen, warum ich diese Frage stelle.
„‘n Markt. Gibt’s in jedem kleineren Ort.“
„Aha.“
Eine Frau mit Tüchern in einer Plastikwanne läuft an uns vorbei, so konzentriert auf ihren Weg, dass sie uns nicht bemerkt. Kurz bevor sie in Riley rennt, sieht sie auf, macht eine Vollbremsung.
„Oh Gott, es … tut mir so leid. Verzeihung“, stammelt sie mit weit aufgerissenen Augen. Riley schenkt ihr keine Beachtung, lässt sie einfach stehen und marschiert mit dem Rucksack in der Hand davon. Ich sehe abwechselnd zu ihr und zu Riley, schüttele dann fassungslos den Kopf. Was zur Hölle war das? Riley gehört sicherlich nicht zu einem vertrauenserweckenden Typ Mann, aber so furchteinflößend ist er sicherlich auch nicht. Ich eile ihm hinterher, senke irgendwann den Blick, weil ich die Blicke der Leute kaum noch ertrage, die er offensichtlich kaum noch spürt. Zielstrebig läuft er zu einem Stand mit spärlichen Vorräten an Früchten und Gemüse. Vor uns steht ein Mann vor dem Händler.
„Ich geb dir fünfhundert Gramm Salz dafür. Gute Qualität. Stillt sogar Blutungen, hab ich gehört.“
„Nein, Mann. Dafür bekommst du höchstens zwei Rüben, keine zehn“, entgegnet der Händler mit verschränkten Armen. Dann wandert sein Blick an dem Mann vorbei zu Riley, der ihn gerade erreicht. Seine harten Gesichtszüge ändern sich sofort, er tritt einen Schritt zur Seite, ignoriert den Mann mit dem Salzbeutel nun vollkommen.
„Was darfs sein?“, will er von Riley wissen.
„Gib mir ‘n Kanister und von den Ramen da fünf Packungen.“ Riley nickt mit dem Kopf zu einer Holzkiste, in welcher Nudelsuppen liegen, die ich kenne. Einfach nur heißes Wasser drauf und schon eine eher schlechte als rechte Mahlzeit. Du bist was du isst, schießen mir Clarks Worte durch den Kopf. Ob Clark überhaupt noch lebt?
„Natürlich“, antwortete er sofort und holt einen von etwa fünf Kanistern von unter dem Holztisch hervor. Der Mann neben Riley, den er gerade wohl offensichtlich umgangen hat, schweigt mit gesenktem Kopf, als wollte er sich so unsichtbar wie möglich machen. Riley scheint auch das nicht zu bemerken. Er öffnet den Rucksack und fischt einen grauen Plastikchip hervor, den er kurz studiert und ihn dann mit einem Schnippen zu dem Händler wirft. Dann greift er nach den Nudelsuppen und steckt sie grob in seinen Rucksack. Kurz bevor er sich abwendet, schweift sein Blick nochmal den Tisch.
„Weißt du, gib mir noch zwei Pfirsiche und zwei Feigen.“ Riley deutet auf die Früchte auf dem Tisch.
„Sicher“, erwidert der Händler wieder ebenso demütig. Ich kann meinen Blick nicht von der Szene abwenden. Es ist wie ein Autounfall von dem man einfach nicht wegsehen kann. Der Händler packt die Früchte in eine alt aussehende Plastiktüte und streckt sie Riley entgegen, doch der tritt zur Seite und nickt zu mir.
„Nimm. Ich hab die Hände voll.“
Ich reagiere mehr aus dem Schock heraus und greife mit beiden Händen nach der Tüte und bedanke mich mit einem gezwungenen Lächeln bei dem Mann, der leicht den Kopf neigt. Riley greift sich den Kanister und marschiert mit strammen Schritten wieder davon. Ich folge ihm, die Plastiktüte wiegt schwer in meinen Händen.
An seinem Motorrad angekommen öffnet er den Tankdeckel und entleert den Kanister mit einem Trichter in die Maschine. Als er fertig ist wirft er den leeren Kanister achtlos in einen naheliegenden Strauch und reicht mir den Rucksack.
„Wir machen ein Stück weiter ‘ne Pause“, erklärt er und es wundert mich, dass er es überhaupt für nötig hält mir eine Erklärung zu geben. Ich ziehe den Rucksack auf, halte die Früchtetasche umständlich in meinen Händen und klettere wieder hinter ihn auf das Motorrad. Das letzte Mal sehe ich die Blicke der Menschen um mich herum und möchte mich am Liebsten ganz klein hinter ihm machen. Fast schon schäme ich mich dafür an seiner Seite zu sitzen, auf seiner Seite zu sein. Was auch immer das für eine Seite sein mag. Der Mann streitet weiter hinten noch immer mit dem Händler. Sie haben sich wohl noch immer nicht geeinigt.
Tatsächlich fährt er nur in eine verlassene Nebenstraße ein paar Meter weit, stellt da das Motorrad wieder ab. Nachdem wir abgestiegen sind, nimmt er mir die Tasche mit den Früchten ab, marschiert zielsicher auf einen alten Pick-Up Truck zu und zieht sich auf die geöffnete Ladefläche hinauf. Dort greift er in den Beutel und zieht als erstes eine Feige heraus. Ich nähere mich ihm vorsichtig und beäuge ihn misstrauisch.
„Was war das da eben?“, will ich wissen, bevor er in die Feige beißen kann. Er hat ein Bein lässig auf die Ablagefläche gezogen, das andere baumelt in der Luft. Als ich ihn anspreche sehe ich wie er kurz in seiner Inspektion der Feige stockt, dann beißt er beherzt herein, ohne zu antworten, wischt sich mit dem Handrücken über seinen Mund. Ich habe selten einen Mann so essen sehen. Es ist fast als würde er die Feige in seinem Mund vergewaltigen. Noch bevor sein Mund leer ist, schiebt er den letzten Rest hinein. Dann greift er in die Tasche, befördert die Zweite heraus und wirft sie mir zu.
„Hier. Iss.“
Ich fange sie geschickt mit einer Hand, was ihm gerade mal einen kurzen Blick wert ist und lehne mich neben ihn an die Ablagefläche. Der Gedanke an das süße Fruchtfleisch in meinem Mund ist wirklich verlockend, aber meine Neugierde kann er damit nicht annähernd stillen.
„Warum haben sie solche Angst vor dir?“, will ich weiter wissen und verenge meinen Blick, achte nun auf jede Gesichtsregung. Er schnippt sich eine Haarsträhne aus den Augen, greift nach dem Pfirsich.
„Du solltest Respekt nicht mit Angst verwechseln“, entgegnet er.
„Tue ich nicht“, schieße ich sofort zurück. Er teilt den Pfirsich mit seinen Händen, nimmt den Kern und wirft ihn weg. Danach sieht er zu mir und seine Augen wandern durch mein Gesicht, misstrauisch, skeptisch. Als wüsste er nicht so Recht wie viel er mir sagen soll. Ob er mir überhaupt was sagen soll.
„Der Händler bekommt was für die Marke. Er wird nicht über’s Ohr gehauen, falls du das meinst.“
„Meinte ich nicht, aber gut zu wissen. Immerhin. Erklärt aber noch viel weniger, warum die Menschen so auf dich reagieren.“
Wieder dieses Abwägen. Wieder das Durchsuchen meines Gesichtes nach irgendwas. Ich weiß nicht einmal, ob er findet, wonach er sucht. „Vielleicht reagieren sie nicht auf mich so, vielleicht ist es mehr das, was ich ausstrahle.“
„Was soll das sein?“ Ich schmunzele. „Warmherzigkeit und Mitgefühl?“
Seine Augen verengen sich gereizt und ich beiße zum ersten Mal in die saftige Feige. Sie schmeckt köstlich. Sie könnte vermutlich die letzte übrig gebliebene Feige im Supermarkt sein und noch immer göttlich für mich schmecken. Ich unterdrücke das Verlangen die Augen genießerisch zu schließen, während die kleinen Kerne zwischen meinen Zähnen knacken.
„Also bist es nicht du persönlich vor dem sie Angst haben, sondern das, was du ausstrahlt“, wiederhole ich nachdenklich und nage weiter an der Feige. Er wird mir nicht weiter dabei helfen, das kann ich sehen. Ich lasse meine Augen über seine Gestalt wandern. Angefangen bei der dunklen Jeanshose, den groben Boots, zu seinem schwarzen Hemd unter der Lederjacke mit dem Aufnäher auf dem Rücken. Dann fällt es mir langsam wie Schuppen von den Augen. „Du bist in einer Gang!“
Ich scheine ziemlich nah an der Wahrheit zu sein, denn sein Blick ist noch immer verengt, aber nun ist es mehr eine Warnung. Eine ernstgemeinte Warnung.
„Sun Raider“, murmele ich, als mir der Schriftzug auf seinem Rücken einfällt.
„Iss auf. Wir müssen weiter“, antwortet er lediglich und schwingt sich von der Ablagefläche, schiebt sich den Rest der Frucht in den Rachen. Er ist so schnell aus meinem Sichtfeld getreten, dass ich ihm nur hinterher sehen kann. Ist es ihm unangenehm? So hat es auf dem Markt jedoch nicht gewirkt. Da war es mehr eine Selbstverständlichkeit, dass die Leute so auf ihn reagieren. Warum steht er dann nicht einfach dazu und klärt mich endlich mal auf?
Als er sich auf die Maschine schwingt, sieht er kurz zu mir zurück und ich erwarte schon einen Spruch reingedrückt zu bekommen, weil ich ihm noch nicht gefolgt bin. Doch der bleibt aus. Stattdessen sitzt er etwa fünf Meter entfernt auf seiner Maschine und sieht mich an. Und kurz leuchtet etwas in mir auf. Ein Gedanke, der so schnell ist, dass ich ihn einfach nicht zu fassen bekomme. Aber etwas ist in diesem Augenblick anders an ihm, sein Blick weicher, obwohl er die Backenknochen fest zusammenbeißt und wohl versucht die Härte mir gegenüber wieder aufrechtzuerhalten. Ich runzele die Stirn, als er den Blick abwendet, als hätte er innerliche Schmerzen auszuhalten. Kurz war da etwas Warmes in meinem Magen, was ich am liebsten mit den Händen umschließen möchte, damit es nicht entweicht. Doch es ist so schnell weg wie es gekommen ist. Immerhin erkenne ich seinen Blick wieder. Es ist der Gleiche, den ich aus meinen Träumen kenne. Es war ein kurzer Blick hinter seine steinerne Fassade. Ein vorsichtiges Bröckeln seiner Härte. Und ich weiß, dass er es auch gefühlt hat.
Bald geht's weiter!
:-)