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1.Kapitel
Es gibt
schlimmere Tage zum Sterben, denkt Rainn, als sie kurz in den lichtblauen Himmel zu der grellen
Sonne hinauf blinzelt, die sich, gefiltert durch die hundert Meter entfernte Glasdecke, bricht. Sie presst den Rücken an den Baumstamm, schließt die Augen und atmet gleichmäßig ein und aus,
lauscht in die Natur um sie herum. Dabei vernimmt sie deutlich das Rascheln und Surren des künstlich erzeugten Windes an diesem schwülen Sommertag, der nicht einmal annähernd erfrischend wirkt
bei der Hitze, die man hier simuliert.
Ein leises
Knacken von Ästen auf dem Untergrund, lässt sie aufhorchen. Zu weit weg.
Als Nächstes
folgt das Knistern von verdorrten Blättern auf dem Boden. Leichtes Gewicht. Sehr nah.
Rainn öffnet
ihre Augen und umklammert den Compoundbogen in ihrer Hand fester. Dann drückt sie sich vorsichtig mit dem Hintern vom Baum weg und greift über ihre Schulter an den Köcher auf ihrem Rücken.
Langsam, und so leise wie sie nur kann, zieht sie einen Carbonpfeil heraus und legt ihn nach vorn an den Bogen. Sie späht um den Baumstamm herum. Nur ganz kurz blitzt ihr dunkelblonder Schopf in
der Umgebung auf, verschwindet dann wieder ungesehen hinter dem Stamm. Aber es reicht, um den Hasen zu entdecken, der auf dem fast identisch gefärbten Blätterwerk nach etwas Essbarem
scharrt.
Sie legt den
Pfeil vollständig ein, befestigt den Handgelenkrelease an der Sehne. Es ist mittlerweile so still, dass sie meint, das eigene Herz schlagen zu hören, das das Rauschen des Blutes bis in ihre Ohren
trägt.
Schließlich
hebt sie den Bogen auf Gesichtshöhe und spannt ihn sorgfältig. Sie fühlt, wie ihre Armmuskeln die Spannung halten, während sie sich umdreht und wieder zu dem Hasen zurücksieht. Er scheint von
seinem nahenden Unheil noch nichts zu ahnen, scharrt unbeirrt weiter auf dem Boden herum.
Rainn hat
ihn genau im Visier. Er bewegt sich nicht, ist ein leichtes Ziel. Erst recht auf die entspannte Distanz. Doch bis zu diesem Moment wartete sie Minuten lang und hat sich ihm mühsam von Baum zu
Baum genähert. Nur um schlussendlich zu merken, wie er wieder davon gehoppelt war, sodass sie sich ihm erneut hatte nähern müssen. Aber jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem er nicht mehr
flüchten kann. Ihr Bogen ist zu schnell, die Pfeile zu stabil und haben dank des Releases kaum Schwingungen.
Der Hase ist
so gut wie tot.
Sie achtet
noch ein weiteres Mal auf ihre Atmung und entlässt den Pfeil schließlich beim Ausatmen, als würde sie ihm noch letzte Glückwünsche auf den Weg geben. Nur einen Wimpernschlag später schießt sie um
den Baum herum und sucht mit hektischem Blick nach dem Hasen am Boden. Ein triumphierendes Lächeln ziert ihr Gesicht. Den Bogen noch immer fest in ihren Händen, nähert sie sich ihm nun gemächlich
und geht neben dem durchbohrten Tier in die Hocke. Vorsichtig streicht sie den, noch warmen, Kopf entlang die langen Ohren hinauf, an welchem ein türkisfarbener Plastikclip steckt. Sie dreht ihn
in ihre Richtung, um die eingravierte Zahl lesen zu können.
„Sieh mal
an“, murmelt sie fasziniert. „Nummer Dreiundzwanzig. Weißt du eigentlich, dass dieser Clip mal einem deiner Vorfahren gehört hat? Einem echten Gründungsmitglied. Ich hoffe, dir ist bewusst, was
es für eine Ehre war, den Clip so lange tragen zu dürfen?“ Sie streicht dem verstorbenen Tier mit dem Daumen liebevoll über den Nasenrücken.
Zu sagen,
dass sie Mitleid mit ihm empfindet, wäre wohl nicht ganz wahr. Dafür sind schon eindeutig zu viele Lebewesen durch ihre Hand gestorben. Aber man brachte ihr bereits früh den Respekt vor dem Leben
bei. Sie essen schließlich, um zu überleben. Doch Überleben können sie nur, wenn sie in einem ständigen Gleichgewicht existieren. Wenn sie nehmen, müssen sie auch geben. Geben sie zu viel, stürzt
alles ins Chaos und nehmen sie zu viel ebenfalls.
Dieses
Geschenk in ihren Händen, der Tod des Hasen, schafft Gleichgewicht. Hält sie am Leben. Und hält selbst die Hasen am Leben.
Rainn sieht
sich um, kann Milo aber nirgendwo entdecken. Also greift sie nach der Hundepfeife, die um den Hals hängt. Sie bläst hinein und macht sich anschließend an die Arbeit, die Hinterpfoten des Hasen
zusammenzubinden. Sie schaut sich nicht noch einmal um, doch das muss sie auch gar nicht. Milo und sie sind ein perfekt eingespieltes Team. Auch, wenn ihr Vater ihr immer wieder eingebläute, dass
der Jagdhund kein Freund ist, sondern ein Arbeitsmittel, das man mit strenger Hand führen muss, hat der Weimarer Hund ihr Herz von der ersten Sekunde an erobert. Sie vertraut ihrem Vater für
gewöhnlich in jedem Punkt und hört auf so ziemlich alles, was er ihr sagt. Aber in dieser Hinsicht liegt er falsch. Milo ist ein Teil ihrer Familie, kein reines Arbeitsmittel, wie es der Jagdhund
ihres Vaters war. Er ist ihr Bruder, den sie nie hatte, und vermutlich der einzige Grund, warum sie keinen Mann in ihrem Leben vermisst. Nicht, dass es ihr ohnehin gestattet ist, so eine
Beziehung zu führen, wie es ihre Schwester tut. Zudem es ist auch nichts, was Rainn überhaupt möchte. Ganz sicher nicht.
Sie wirft
sich den zusammengebundenen Hasen über die Schulter und erhebt sich in dem Moment, als Milo zwischen den Bäumen auf sie zu geschossen kommt. Sofort schnüffelt er nach Spuren auf dem Boden und
widmet sich anschließend akribisch Rainn und dem Hasen, der an ihrem Rücken baumelt. Es wirkt beinahe, als versuche er zu verstehen, was hier ohne ihn geschehen ist.
„Sorry, mein
Guter, aber das habe ich gerade noch ohne deine Hilfe geschafft.“ Sie schmunzelt, setzt sich in Bewegung und tätschelt ihm kurz im Vorbeilaufen den Kopf. Der große, graue Hund mit dem samtweichen
Fell und den himmelblauen Augen, die Rainns so ähnlich sind, trottet schließlich entspannt neben ihr her, während sie das kleine Waldgebiet wieder verlassen.
Als die
Bäume sich lichten, wirft Rainn einen kurzen Blick nach oben. Die Sonne steht hoch und kämpft sich gewaltvoll durch das dichte Blätterwerk des Mischwaldes hindurch. Immer wieder, wenn sie so in
den Himmel sieht, versucht Rainn das zu erkennen, was sie alle hier im Gleichgewicht hält. Das, was sie schützt und versorgt. Sie kennt kein anderes Leben, als das hinter der großen Glaskuppel,
die sie alle seit so vielen Jahren beherbergt. Selbst ihr Großvater wurde schon hier geboren und kam als eines der ersten Kinder hier in der Biosphäre 5 auf die Welt. In dem Ort, den ihr
Urgroßvater geholfen hatte aufzubauen.
Doch auch an
diesem Tag kann sie keine Stelle ausmachen, die preisgeben würde, dass sie in einer abgekapselten Welt leben. Kein Riss, keine Spiegelung. Nur ein strahlend blauer Himmel über ihrem Kopf, der
aussieht, als müsse sie nur die Hand danach greifen, um ihn zu berühren.
Sie wendet
den Blick wieder ab, springt über einen Baumstamm und erreicht daraufhin den befestigten Betonpfad, der den künstlich angelegten Wald begrenzt. Das Lebensmittellager befindet sich
glücklicherweise in fünfminütiger Laufentfernung, sodass Rainn die Beute schnell vorbeibringen und noch mal in den Wald zurückkehren kann. Der Lagerkomplex ist das größte Gebäude in der Biosphäre
5 und in verschiedene Bereiche eingeteilt, in die die Lebensmittel, das Handwerkszeug und alles, was sie zum Leben brauchen und herstellen, in akribischer Buchhaltung aufbewahrt wird. Es stehen
empfindliche Strafen auf das Stehlen oder Einbehalten der erwirtschafteten Güter. Doch allein der Gedanke an diese Möglichkeit ist absurd und Rainn kann sich nicht vorstellen, dass es
irgendjemandem hier anders ergeht. Sie haben doch alles, was sie brauchten. Jeder bekommt die gleichen Rationen, die gleiche Hilfe und Unterstützung. Mehr gibt es sowieso nicht, da reicht nur ein
Blick in die Bestände, die jedem Bewohner frei zugänglich sind. Sollte es Engpässe geben, dann werden diese gerecht auf alle Schultern verteilt. Besondere Güter, wie Erdbeeren oder Wassermelonen
im simulierten Frühling und Sommer ebenso. Selbst das harte Schicksal der, nicht ganz so beliebten, Kohlernte im Winter teilen sie gemeinsam. Aber dieses Vergnügen liegt zum Glück noch einige
Tage in der Zukunft, denn es ist Sommer. Zumindest in ihrer eigenen, kleinen Welt.
Die weiße
Stahlkonstruktion der Lagerhalle lässt sich beinahe aus jedem Winkel der Biosphäre 5 erkennen und ragt schneeweiß, aus mehreren rechteckigen Gebäudeteilen bestehend, in die Höhe. Jedes Rechteck
ist anderen Gütern zugeordnet und hat eigene Buchhalter, die die Bestände kontrollieren. Rainn jedoch hat es ausschließlich mit Claire zu tun, die den Bereich der leicht verderblichen, tierischen
Lebensmittel führt. Frisches Fleisch. Fisch. Milch und Eier.
Claire
steht, wie üblich, hinter dem gläsernen Tresen und tippt auf dem dort integrierten Touchscreen herum. Die Brille trägt sie dabei auf der Nasenspitze, als wäre sie uralt und nicht erst Anfang
Dreißig. In dem vorderen Bereich des Lagers ist es immer angenehm kühl und riecht leicht steril, wie auf der Krankenstation. Rainn hat hier stets das Gefühl zu stinken und so ganz und gar nicht
in diese Welt zu passen. Sie riecht nach Wald, nach Erde und ist dreckig, manchmal sogar noch blutbeschmiert. Im Inneren des Lagergebäudes ist es weiß oder silbern glänzend, alles hat seine
Ordnung, seinen Platz. Aber genau diese Gegensätze mag sie so an ihrer Welt. Sie besteht aus allem, was man sich nur vorstellen kann. Eine ganze Welt in nur wenigen Quadratkilometern.
„Oh, hallo
Rainn.“ Claire strahlt sofort, als Rainn in den Vorraum der Lebensmittelhalle platzt. „Und hallo Milo.“ Ihr Strahlen wird noch ein wenig größer, als sie den Hund an ihrer Seite bemerkt. Es ist
ihnen in B5, wie sie ihr Zuhause verkürzt nennen, grundsätzlich gestattet, Haustiere zu halten. Doch man musste diesen Wunsch bei der Verwaltung anmelden und bekommt dann ein Haustier zugeordnet,
wenn man ausgelost wird. Rainn und ihr Vater stellen dabei eine Ausnahme dar. Sie sind Jäger, tragen das Brandmal des Jägers auf ihrer linken Wange und zur Ausübung ihrer Berufung ist ein
Jagdhund an ihrer Seite vorgesehen. Ein weiterer Grund, warum Rainn ihren Job liebt.
Milo beginnt
mit dem Schwanz zu wedeln, als er Claire bemerkt und steigt auf die Hinterpfoten, um mit den Vorderpfoten auf den Tresen zu gelangen. In dieser Position ist der gutmütige Hund beinahe ebenso groß
wie Rainn. Ein Glück, dass er im Grunde recht wenig von seiner eigenen Kraft zu wissen scheint. Claire lächelt verschmitzt, greift in ihre Hosentasche und fischt ein Stück Trockenfleisch heraus,
welches sie Milo schnell entgegen schiebt.
„Also, was
hast du für mich?“ Claire richtet sich wieder an Rainn, nachdem sie dem vergnügt kauenden Milo noch mal den Kopf tätschelte.
„Ein Hase.
Noch nicht ausgenommen, damit Fred auch mal ein bisschen Arbeit bekommt und …“, Sie macht eine Pause, während sie den toten Hasen von ihrem Rücken löst und auf den Tresen wirft, „ … einen
interessanten Clip.“
Claire zieht
das Tier in ihre Richtung und begutachtet den Clip. „Oh, Dreiundzwanzig? Eine so niedrige Zahl hatten wir schon ewig nicht mehr.“ Sie beginnt sofort den Touchscreen zu bearbeiten und schiebt sich
hektisch die Brille zurecht. „Da haben wir’s. Tatsächlich. Das ist der Clip eines Gründungshasen, der seitdem den Besitzer nur zweimal gewechselt hat.“
„Das
bedeutet, dass einer der Hasen ziemlich lange irgendwo lag und wohl halb verrottet war, als man den Clip fand. Aber, was noch viel wichtiger ist; was ist Dads Rekord?“
Claire sieht
vom Bildschirm auf und schmunzelt. „Vierundfünfzig.“
„Ja,
endlich!“, ruft Rainn triumphierend und reckte die Faust in die Höhe. Milo bellt neben ihr laut auf.
„Was hat
dein Vater dir versprochen, wenn du ihm eine niedrigere Nummer bringst?“
„Sein
Jagdmesser, das einmal meinem Urgroßvater gehört hat. Gott, du glaubst gar nicht, wie lange ich darauf schon scharf bin.“ Rainn greift gierig nach dem Hasen, nachdem Claire den Clip unter den
Scanner gehalten und den Hasen im System registriert hat. Nicht gerade liebevoll, reißt sie den Clip vom Ohr und steckt ihn in den Beutel an ihrer Hüfte, in welchem sich noch zahlreiche weitere
Clips tummeln.
„Forderst du
es sofort ein?“
„Nein, heute
Abend erst. Ich muss noch ein paar Lebendfallen kontrollieren, vielleicht werde ich den Clip gleich wieder los, wenn ich einen Hasen ohne Clip erwische.“
„Na dann.“
Claire streicht Milo das letzte Mal über den Kopf und schenkt Rainn ein fröhliches Lächeln. „Weidmannsheil.“
Beschwingt
verlässt Rainn das Lager wieder und sieht nach oben, als sich die Welt um sie herum plötzlich verfinstert. Vor die Sonne hat sich eine große, bauschige Wolke über den, ansonsten
klaren, Himmel geschoben. Ihre Schritte
werden langsamer, während sie noch immer mit zusammengekniffenen Augen nach oben blickt. Auch Milo bleibt stehen und sieht hinauf.
Ob die
Wolken eine andere Farbe haben, wenn man draußen ist? Vielleicht sind sie gar nicht weiß,
sondern rot, pink oder grün.
Ob die
Temperaturen rapide sinken, wenn die Sonne plötzlich fehlt, weil eine Wolke sie verdunkelt? Immerhin wird das Klima in B5 nicht durch die Außenwelt reguliert, so wie das draußen die Sonne und der Wind tun.
Und ob
auch die Wolken vollgesogen sind, mit all den verseuchten Stoffen, die die gesamte Welt befielen? Rainn weiß aus dem Unterricht, den sie als Kind erhielt, dass der ganze Boden kontaminiert ist, die Wasserversorgung
und die Luft. Aber was ist mit den Wolken, die so rein und unschuldig aussehen? Kann man sie berühren? Wie fühlen sie sich an?
Rainn
betritt den Wald, als die Sonne wieder beginnt hervor zu spähen. Doch ihre Gedanken befinden sich noch immer an fernen Orten. Sie denkt oft an das, was außerhalb der Strahlenschutzgläser wartet.
Vermutlich ist es nicht viel, denn die Gegebenheiten, die vor knapp siebzig Jahren zur Flucht in B5 führten, ließen kein Leben auf dieser Welt mehr zu. Dennoch fragt sie sich nicht schon zum
ersten Mal, ob man sich dessen wirklich sicher ist?
Sie weiß
nichts von der Größe der Welt, doch wenn sie am Rand der Glaswand ankommt, hat sie einen unglaublichen Blick in die Wüste Arizonas, in der sie hier leben. Sie erkennt sie rötlich braune
Erhebungen, die imposant den Horizont schmücken. Überall sind vereinzelte, verdorrte Büsche und saftig grüne Kakteen. Es fällt ihr schwer, sich vorzustellen, dass die Welt hinter diesen Hügeln
noch weitergeht. Aber das muss sie. Sie hat Bilder gesehen in der großen Bibliothek, die sie hier besitzen. Von gigantischen Meeren, weißen Sandstränden, antarktischen Gegenden, gefährlichen
Dschungelgebieten und hunderte Meter hohe Berge. Sie kann es einfach nicht begreifen, ist tief drin überzeugt davon, dass das alles nur ein Märchen ist. So wie die Märchen, die ihr ihre Mutter
damals vor dem Einschlafen vorlas.
Sie will
wirklich glauben, dass all diese wundersamen Dinge da draußen sind und es der Welt gut geht, nachdem die Menschheit sie in ihrem fanatischen Wahn fast vollkommen zerstörte. Aber die Wahrheit ist
wohl vielmehr, dass ein Schritt nach draußen den sicheren Tod bedeutet und nichts und niemand mehr dort überleben kann. Genau so, wie man es sie schon als Kind lehrte.
Noch immer
in Gedanken versunken, kontrolliert sie
ein paar Lebendfallen, findet jedoch nur bereits gechipte Tiere darin, die sie wieder frei lässt. Umso tiefer sie sich in den Wald begibt, umso mehr nähert sie sich dem Ende ihrer kleinen Welt.
Aber das tut sie an jedem einzelnen Tag, seit sie den Wald patrouilliert. Sie verweilt dann stets ein paar Minuten vor dem imposanten Glas, welches sich vor ihr, in nicht erkennbare
Höhe, nach oben schraubt. So steht sie
auch an dem heutigen Tag schließlich am Ende der Welt, nur eine Handbreit entfernt von dem Glas. So nah, dass sie ihren eigenen Atem spürt, ihn auf der Scheibe sehen kann. Es ist mittlerweile
später Nachmittag, die Sonne geht in ihrem Nacken unter und haucht diesen Wüstenabschnitt vor ihr in dunkle Schatten. Sie versucht, etwas zu erkennen, Bewegungen auszumachen. Doch da ist nichts,
außer dem Wind, der da draußen braune Gräser erzittern lässt. Der echte Wind. Ob er sich anders anfühlt, als ihr Wind, der durch die Turbinen erzeugt wird? Vielleicht ist er zärtlicher.
Mit höherer Wahrscheinlichkeit jedoch grausamer. Todbringender. Eine Gänsehaut zieht sich über ihren Körper.
Gerade als
sie sich abwenden will, um nach Hause zu ihrem Vater zu kommen, erregt eine Ungereimtheit in ihrem Augenwinkel ihre Aufmerksamkeit. Der Wind draußen hat Sand und Staub gegen das Glas geweht,
welches nah am Boden auf der anderen Seite besonders undurchsichtig ist. An dieser Stelle lässt sich für gewöhnlich kaum etwas erkennen, da die Staub- und Sandschicht hier am dichtesten an der
äußeren Glaswand haftet.
Rainn geht in die Hocke und hält Milo am Halsband zurück, als dieser sich sogleich schnuppernd vor sie drängen will. Zögerlich streckt sie die Hand aus, wischt an der Scheibe hin und her. Die darauf folgende Erkenntnis lässt sie erschrocken zurückfahren, sodass sie auf dem Hintern aufkommt. Ihr Atem stockt ihr abrupt in der Kehle.
Der eindeutig zu erkennende Handabdruck auf der dicken Staubschicht befindet sich auf der anderen Seite des Glases.
2. Kapitel
Rainn hat keinen Schimmer, wie lange sie da sitzt und auf den Handabdruck starrt. Irgendwann wird es so dunkel um sie herum, dass sie ihn kaum noch erkennen kann. Einer plötzlichen Panik folgend, lehnt sie sich nach vorn und presst ihre eigene Hand auf den Abdruck. Als ob sie ihn so bewahren kann. Er darf nicht wieder verschwinden. Der Gedanke daran, dass sie glaubt etwas zu sehen, was dann nicht mehr da ist, wird sie an den Rand des Wahnsinns bringen. Ein klassischer Kuppelkoller. Solche Phänomene gab es, laut den Büchern, in der Anfangszeit der B5 oft. Menschen drehten durch, wurden verrückt und sahen Dinge, die nicht da waren. Dieser Handabdruck darf nicht verschwinden, denn ansonsten besteht die Gefahr, dass sie selbst wahnsinnig wird bei dem Gedanken daran, was er bedeuten könnte.
Und so sitzt sie weitere Minuten und starrt auf ihre eigene Hand, die flachgepresst auf dem kühlen Glas liegt. Bis sie den Blick hebt und die Gegend um den Handabdruck absucht. Es ist so verflucht dunkel und sie müsste eigentlich schon längst zurück sein. Ihr Vater wartet sicherlich auf sie mit dem Essen auf dem Tisch. So wie jeden Abend seit man sie zur Hauptjägerin machte und ihr Vater langsam in den Hintergrund trat. Aber wie kann sie jetzt gehen? Sie kramt an ihrem Gürtel nach ihrer Taschenlampe und versucht in dem Lichtschein etwas zu erkennen, doch der Staub von außen lässt das Licht reflektieren, sodass sie die Welt außerhalb des Glases kaum mehr sieht. Nur der fremde Handabdruck ist jetzt nur noch deutlicher zu sehen. Sie reibt erneut darüber, muss noch mal sicherstellen, dass es nicht ihr eigener Abdruck ist. Doch er bleibt an Ort und Stelle. Sie bildet sich das nicht ein. Dort, auf der anderen Seite, sind Menschen.
Oder zumindest einer, der vor kurzem noch da war.
Wie ist das möglich? Man hat ihr, seit sie ein kleines Kind ist, immer und immer wieder erzählt, dass nur ein einziger Schritt nach draußen der sichere Tod bedeutet. Die Strahlung ist noch viel zu stark, sodass alle Menschen, die nach den Mega-Gaus, die das ganze Land durchzogen, außerhalb der Kuppel gewesen waren, keinerlei Überlebenschancen haben konnten. Selbst wenn es heutzutage, nach all den Jahrzehnten, möglich ist dort zu überleben, wie kann sich seitdem dort kein Leben entwickelt haben? Das würde bedeuten, dass manche die Katastrophe vor fast siebzig Jahren tatsächlich überlebten.
Ihre Gedanken rasen unaufhörlich, als sie sich langsam wieder erhebt und versucht mit der Taschenlampe noch mehr zu erkennen. Sie ist kurz davor ihre Suche abzubrechen und am nächsten Tag wiederzukommen, als das Licht der Taschenlampe etwas anderes als Staub reflektiert. Ein kurzes Aufblitzen, so fein wie ein Menschenhaar. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sie das Blitzen erneut findet und im Schein der Lampe festhält.
„Was zur Hölle ist das?“, flüstert sie und erschreckt sich bei dem Klang ihrer eigenen Stimme in der Totenstille, die sie umgibt. Wie beängstigend die Dunkelheit und Stille mit einem Schlag nur ist.
Bei genauerer Betrachtung wirkt das Haar wie ein feiner, gradliniger Riss in dem Glas und je näher sie es geäugt, umso sicherer ist sie, dass es sich tatsächlich in dem Glas befindet und nicht dahinter. Sie verfolgt den Riss mit dem Licht ihrer Lampe, fährt ihn gleichzeitig mit dem Zeigefinger nach. Er hat die Form eines Rechtecks und ist vielleicht einen Meter hoch und einen breit. Genauer lässt sich das nicht sagen, denn er verschwindet nach unten in der Erde. Der Handabdruck befindet sich exakt in der Mitte des Rechtecks, als hätte er versucht, von der anderen Seite dagegen zu drücken. Der Abdruck kann noch nicht sonderlich alt sein. Der Sandsturm der letzten Tage hätte ihn sicherlich verblichen oder ganz zerstört. Jemand oder Etwas hat also vor kurzer Zeit versucht. Hier hereinzukommen.
Milo beginnt hinter ihr zu winseln. Es klingt wie ein gelangweiltes Jammern, welches sie ihm so ganz und gar nicht übel nehmen kann. Aber Rainn kann hier nicht einfach aufhören. Auch wenn sie insgeheim weiß, dass das keine Sache ist, die sie für sich behalten wird. Unter keinen Umständen. Dafür ist das zu immens, zu wichtig. Es wird eine riesige Welle machen, man wird die Stelle genauestens analysieren, so wie Rainn es nun tut.
Sie beginnt den Boden darunter abzusuchen. Das Rechteck verschwindet sofort vollkommen, als sie den Schein der Lampe nicht mehr darauf hält. Doch auch an dieser Stelle ragt das Glas so weit in den Boden hinein, dass kein Ende in Sicht ist. Rainn fängt an zu buddeln und erregt damit Milos Aufmerksamkeit, der interessiert an ihre Seite tritt und den Untergrund beschnüffelt. Die Taschenlampe zwischen den Zähnen verharrt sie schließlich schwer atmend. Keine Chance. Die Wand geht hier metertief in die Erde. Genau so, wie es auch sein soll. Also tastet sie stattdessen das, nun freigelegte, Glas ab. Etwa zwanzig Zentimeter unter der Erde wird sie tatsächlich fündig. Das Rechteck schließt sich an dieser Stelle vollständig.
Was hat all das zu bedeuten? Sind das die Wesen von draußen gewesen, die versucht haben sich hinein zu schneiden? Oder kam der Riss von Innen und jemand hat dann hier den Abdruck hinterlassen? Aber wie hätte dieser jemand die Erde auf ihrer Seite wieder darüber scharren können? Und wenn er es getan hätte, dann wäre Rainn das doch aufgefallen! Die Erde wäre aufgewühlt. Aber das ist sie nicht. Das lässt nur den Schluss zu, dass das Rechteck in der Glaswand schon seit sehr langer Zeit hier ist. Der Unterschied scheint nur zu sein, dass jemand auf der anderen Seite es nun auch bemerkt hat. Der Abdruck, genau in der Mitte, kann kein Zufall sein.
Rainn hebt erneut den Blick, blinzelt finster in die beginnende Nacht heraus. Sollen sie nur versuchen hier hereinzukommen. Rainn würde nicht zulassen, dass man zerstört, was sie sich hier aufgebaut haben.
Sie erhebt sich, klopft den Staub und die Erde von ihren Händen. Sie wird morgen wiederkommen, wenn sie mehr sieht. Und sie wird ihrem Vater noch heute davon berichten. Er wird wissen, was zu tun ist. Mit diesem Entschluss wendet sie sich schließlich wieder von der Wand ab und läuft mit einem anhaltenden Grummeln im Magen zurück zu der Jagdhütte, die sie mit ihrem Vater gemeinsam bewohnt.
Den Weg nach Hause findet sie normalerweise blind, tritt dabei sicher über Stock und Stein. Doch heute versagt sie, stolpert oft und sucht Halt bei den zahlreichen Bäumen um sie herum. Sie versucht so sehr nicht an die Erkenntnis der letzten Stunde zu denken, aber es gelingt ihr einfach nicht.
Und so entgeht ihr auch, dass aus den Fenstern der kleinen, metallischen Jagdhütte am Rande des Waldes kein Lichtschimmer zu sehen ist, als sie sich ihr nähert. Auch als sie die Tür aufstößt und ein „Dad?“, fragend in den Raum ruft, realisiert sie noch nicht, dass die Hütte leer und der Herd kalt ist. Verwirrt sieht sie sich um und schaltet das Licht ein. Auf dem kleinen Esstisch in der Mitte des Raumes, welcher ihnen sowohl als Wohnzimmer als auch als Küche dient, entdeckt sie eine gekritzelte Notiz.
Bin bei deiner Schwester. Komm sofort nach, wenn du das liest. H.
Rain ist ein Bauchmensch durch und durch. Als sie diese Nachricht liest, vergisst sie im Sekundenbruchteil den Handabdruck. Sie dreht auf dem Absatz um und stürmte nach draußen. Milo folgt ihr sofort. Nicht einmal den Bogen hat sie in der Hütte abgelegt. Als sie in strammen Schritten durch die Nacht marschiert, ist er noch immer um ihren Körper geschlungen.
Ihre Schwester bewohnt zusammen mit ihrem Mann ein kleines Häuschen nahe der Getreidefelder, die ihr Mann bewirtschaftet. Es kostet Rainn fast zehn Minuten, bis sie das Haus erreicht, welches um einiges größer ist als das von ihr und ihrem Vater. Juniper hat Glück gehabt, als man ihr das Haus zuloste. Rainn erinnert sich, als wäre es gestern gewesen, als sie ihr freudestrahlend von dem Losglück erzählte. Damals noch im siebten Monat schwanger mit der kleinen Ravi.
Als sie durch die Tür stürmt, blicken sie ihr Vater und Knox, Junipers Mannes, überrascht, mit einem Hauch von Panik, an. Diese Panik verfliegt im nächsten Moment, als sie lediglich Rainn in der Tür stehen sehen. Milo löste sich sofort von ihrer Seite und kommt schwanzwedelnd auf ihren Vater zu, der den großen Hund jedoch ignoriert, so wie er es immer tut. Es nervt ihn, dass Milo so anhänglich ist. Buster, der jahrelang an seiner Seite war, bevor er ihn einschläfern ließ, war das genaue Gegenteil von Milo. Diszipliniert und wohlerzogen.
Rainn sieht sich hektisch um. „Wo ist Juniper?“
„Bringt Ravi ins Bett.“ Knox zuckt mit den Schultern. Rainn blickt zu ihrem Vater, der an dem hell beleuchteten Esstisch steht, die Hände auf der Stuhllehne abgestützt. Sie muss kein zweites Mal hinsehen, um zu erkennen, dass er innerlich brodelt. Die dichten, dunklen Augenbrauen, die Rainn von ihm geerbt hat, sind tief ins Gesicht gezogen. Sein Kiefer malmt unaufhörlich.
„Okay, was zur Hölle ist hier los?“, fragt Rainn und blickt fordernd zwischen den beiden Männern hin und her. Doch ihr Vater ignoriert sie, sieht mit strengem Blick zu Knox hinüber, der an der Küchenzeile lehnt. Es wirkt, als hätte er sich in diesem Raum den größtmöglichen Abstand zu ihrem Vater gesucht. Zu Recht. Ihr Vater kann mit seinem breiten Körper, dem finsteren, dunklen Blick wirklich furchteinflößend sein. Auch wenn Rainn weiß, dass er tief drin ein Herz aus Gold besitzt.
„Du wirst das regeln, wirst sie zur Vernunft bringen, haben wir uns verstanden?“, knurrt er an Knox gewandt.
Knox tritt einen Schritt näher. „Denkst du, das habe ich nicht schon versucht, Harkin?“ Er flüstert, als wenn er Angst hat, dass Juniper ihn aus dem ersten Stock hören kann.
„Ich red nicht davon, es zu versuchen. Du bist der Mann hier im Haus. Deine Aufgabe ist es deine Familie zu schützen und du wirst es nicht einfach nur versuchen, du wirst es gefälligst tun! Was immer das bedeutet!“ Die rauen, vernarbten Hände ihres Vaters schließen sich fest um die Stuhllehne, die Knöchel stechen weiß hervor.
Knox fährt sich mit den Händen über den Kopf, wendet sich mit einem gequälten Stöhnen ab und läuft unruhig umher. Rainn nutzt die Gunst der Stunde und schiebt ihren Körper in das Sichtfeld ihres Vaters.
„Klärst du mich mal auf?“, fragt sie energisch fordernd. Nur äußerst langsam wandert sein Blick ab von Knox zu seiner Tochter hinüber und beinahe scheint es, als würde ihr Anblick ihm ein wenig der Wut nehmen und ihn ein Stückchen mehr erden.
„Deine Schwester ist schwanger.“
Rainn sieht ihn einen Moment verständnislos an, dann zu Knox hinüber, der nun mit verschränken Armen am Tresen steht, den Blick zu Boden gesenkt.
„Na und?“ Sie schaut zurück zu ihrem Vater. „Ist nicht das erste Mal und auch nicht das Zweite. Wir regeln das wie letztes Mal.“
In diesem Moment hören sie Schritte auf den Treppenstufen. Rainn blickt zu ihrer Schwester hinüber, die gerade den Raum betritt. Und immer wenn sie Juniper sieht, breitet sich in ihrem Magen eine einzigartige Wärme aus, die sie nur in ihrer Gegenwart so fühlt. Sie verloren ihre Mutter schon sehr früh und auch wenn Juniper nur drei Jahre älter als Rainn ist, so war sie immer in gewisser Art und Weise der Mutterersatz. Sie war so unheimlich perfekt in dieser Rolle. Ihre Stimme so zart und zerbrechlich, wie ihr feines Äußeres, aber sie selbst so stark, wenn es darum geht die Familie zusammenzuhalten. Wenn sie lächelt, lächelt man mit ihr. In ihren Armen ist der einzige Ort, an dem Rainn es wagt zu weinen. Sie selbst ist ihrem Vater so ähnlich. Aufbrausend, leicht zu verärgern und überaus impulsiv. Juniper ist schon von Anfang an das Gegenteil gewesen. Ihr heiliger Gral, in dem ihre Mutter weiterlebte. Sie liebt diese Familie und hält sie im Gleichgewicht. Immer wenn es um Juniper geht, fühlt Rainn einen unmenschlichen Beschützerinstinkt. Weil sie zu gut für ihre Welt ist, viel zu rein. In der Nacht, als Ravi geboren wurde, ist Rainn vermutlich nervöser als Knox gewesen. Sie schreien, leiden zu sehen war unerträglich. Sie denkt nicht gern darüber nach, auch nicht daran, dass ihr jemals etwas Schlimmes zustoßen könnte. Das ist einfach undenkbar für sie.
Und so dauert es einen Augenblick, bis Rainn erkennt, warum plötzlich eine eigenartige Stille im Raum herrscht. Im folgenden Moment sieht sie an dem, eigentlich zierlichen, Körper ihrer Schwester entlang. Sie schließt zwar schnell das Hemd um ihren Bauch, doch es ist zu spät.
Sie erkennt die große Beule sofort, auch wenn Juniper sie nun zu verbergen versucht.
Rainn erstarrt für einen Moment, als die Erkenntnis sackt, die unweigerlich auf eine zerschmetternde Tatsache hinführt. Es vergeht dann nur noch ein weiterer Sekundenbruchteil, in dem sie blitzschnell herumwirbelt und Knox mit ihrer Faust treffsicher auf die Nase schlägt. Auch wenn es unheimlich schmerzt, so weiß sie ganz genau, dass es ihm noch mehr trifft und die Genugtuung hinterlässt ein kurzes, grimmiges Schmunzeln in ihrem Gesicht.
„Rainn!“, ruft Juniper aufgebracht und stürmt die letzten Schritte auf ihren Mann zu, der sich mit einem Stöhnen die Nase hält. „Spinnst du?“
„Ich? Was ist nur los mit euch? Man sollte ihm den Schwanz abschneiden, das hätten wir schon vor einem Jahr machen sollen!“
„Rainn!“, brummt ihr Vater scharf. Aber er hat sich keinen Millimeter von seinem Platz wegbewegt und sieht nur mit bohrendem Blick zu seiner jüngsten Tochter hinüber, als würde er seinen Wachhund zur Ordnung rufen. Und dieser bohrende Blick hat es stets in sich, lässt sie für gewöhnlich stocken. Doch nicht dieses Mal. Das hier ist zu wichtig, zu groß.
Knox hat sich wieder aufgerichtet und hält sich noch immer die Nase. Tränen stehen ihm jetzt in seinen Augen. Juniper hält ihn fest und funkelt Rainn wütend an. Doch aus ihrem liebevollen Gesicht hat das recht wenig Wirkung auf Rainn.
„Wieso hast du so lange gewartet?“, fragt sie sie bitter. Junipers Wut weicht schlagartig aus ihrem Gesicht und wird überschatten von der Trauer, die Rainn da schon exakt einmal so gesehen hat. Vor fast genau einem Jahr. Es brach ihr das Herz Juniper so zu sehen, aber es gab damals einfach keine andere Möglichkeit. Die gibt es doch jetzt auch nicht! Das müssen sie doch wissen. Alles andere ist undenkbar und definitiv keine Option.
Juniper hält ihren Blick nur für einen kurzen Moment. Rainn sieht sie schlucken, dann leicht den Kopf schütteln. „Ich kann es nicht. Nicht schon wieder.“
„Du musst!“ Rainn tritt einen großen Schritt auf sie zu.
Juniper starrt sie an, Tränen schimmern in ihren Augenwinkeln. Und dann lächelt sie gequält, so wie sie Rainn schon so oft angelächelt hat. Mit dieser Hoffnung in ihren Augen, von der sich Rainn als Kind so nährte und die ihr nun das Herz zu brechen droht.
„Wir werden morgen mit ihnen reden, versuchen, es zu erklären. Ich bin sicher, dass wir eine Lösung finden.“ Das allein klingt so absurd, dass Rainn zur Bestätigung zu ihrem Vater hinübersehen muss. Wie erwartet, blickt sie da die Hoffnungslosigkeit, die sie selbst auch fühlt, die Juniper offensichtlich nur nicht sehen kann.
„Es gibt exakt zwei Wege aus dieser Geschichte hinaus und das werden sie dir auch sagen. Und den einen Weg wirst du garantiert nicht gehen!“
„Wenn sie es mich nicht behalten lassen, dann bin ich doch sowieso so gut wie tot. Ich schaffe das kein zweites Mal mehr.“ Ihre Stimme zittert, während Knox sie nun in den Arm nimmt und seine Lippen auf ihre Schläfen drückt.
„So gut wie ist aber nicht tot, verfluchte Scheiße! Hast du mal eine Sekunde an Ravi gedacht? An uns alle?“
„Sie werden Verständnis haben“, antwortet Juniper beharrlich, doch Rainn erkennt, dass sie sich verzweifelt an diese eine Tatsache klammert, weil es für sie keine weitere Option gibt. Eine Welle der Panik schwappt über Rainn hinweg, als sie realisiert, was hier gerade um sie herum zu geschehen droht. Wie der perfekte Boden unter ihren Füßen zu schwanken beginnt. Leben durch Gleichgewicht, hallt das B5 Motto hohl durch ihren Kopf. Tod durch Ungleichgewicht.
„Wie konntet ihr so egoistisch sein.“ Rainn bringt diese Worte voller Verbitterung über ihre Lippen und sieht zu Knox. Gott, wie sehr sie ihn in diesem Moment hasst. Für seine Schwäche Juniper gegenüber. Er liebt sie abgöttisch und das weiß Rainn. Er liebt sie so sehr, dass er ihr gegenüber so schwach war. Ihr in ihrem Wahn kein Einhalt gebot. Aber wenn er nicht in der Lage ist, Juniper so zu beschützen, wie sie es verdient, dann muss sie das in die Hand nehmen. So oder so. Wenn Juniper sich für dieses Kind entscheidet, dann wird sie nicht diejenige sein, die das Gleichgewicht wieder herstellen muss. Die die Höchststrafe für dieses Vergehen auf sich nimmt. Es muss da einen anderen Weg geben. Und den wird Rainn finden.
Mit festem Blick sieht sie zu Juniper. „Du wirst morgen nicht zu ihnen gehen. Geb mir einen Tag, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.“
3. Kapitel
„Erklärst du mir, was du vorhast?“, fragt ihr Vater, nachdem sie volle fünf Minuten schweigend
nebeneinander herliefen. Sie durchquerten gerade das belebte Zentrum, begrüßten dort zahlreiche Bewohner und versuchten eine freundliche, unbekümmerte Miene zu machen, die ihnen doch so
schwerfällt. Nun haben sie endlich etwas Abstand zwischen sich und die Menschen gebracht und können frei miteinander sprechen.
„Wir brauchen sie“, antwortet Rainn lediglich auf die Frage ihres Vaters. Es ist ein einfacher
Fakt, dem er nicht widersprechen kann. Wie sie Sauerstoff, Essen und Trinken brauchen, brauchen sie auch Juniper in ihrem Leben. Sie hatte an jedem Tag, seit ihre Mutter starb, nichts anderes
getan, als diese Familie zusammenzuhalten. Nur ihr war es zu verdanken, dass Rainn und ihr Vater an dem frühen Verlust nicht zerbrachen, auch wenn es Juniper selbst schwergefallen sein musste.
Sie opferte sich auf, krempelte die Ärmel hoch und organisierte nicht nur den gesamten Haushalt, sondern war ihnen allen die gleiche emotionale Stütze, die ihnen durch den Tod der Mutter brutal
entrissen worden war. Und dabei denkt Rainn nur an sich und ihren Vater. Was Junipers Verlust für ihre eigene Tochter bedeutet, ist nicht einmal in Worte zu fassen.
„Ich hätte Knox das Genick brechen sollen“, knurrt sie unter angehaltenem Atem, während sie sich
langsam ihrem Zuhause nähern.
„Hm“, brummt ihr Vater nachdenklich. Rainn sieht zu ihm hinüber. Seine längeren, grau melierten
Haare hängen ihm strähnig im Gesicht, verbergen seinen Ausdruck vor ihr.
„Was? Siehst du das etwa anders?“
Er sieht auf und blinzelt kurz in den ausgesperrten Nachthimmel hinauf. Dann seufzt er. „Dass sie
sie letztes Jahr gezwungen haben es wegzumachen, hat sie gebrochen. Du und ich haben es ignoriert, so getan als wäre das eine Kleinigkeit, wie eine Erkältung, die wieder weggehen wird. Nur, dass
es das nicht ist.“
„Und jetzt will sie da noch mal durch? Das ergibt keinen Sinn!“
„Muss es das? Deine Schwester ist ein sehr gefühlvoller Mensch, die sich bislang immer davon hat
leiten lassen. Gefühle sind Gefühle, manchmal kann man das nicht nachvollziehen.“
„Du glaubst, dass es kein Unfall war, oder? Dass sie es so wollte, es darauf angelegt
hat?“
Ihr Vater zuckt ratlos mit den Schultern. „Es war sicherlich kein Unfall, dass sie solange gewartet
hat, bis sie es nicht mehr so leicht entfernen können.“
„Ich werde nicht zulassen, dass sie ihr etwas antun“, spricht Rainn bestimmt und stößt die Tür zu
ihrer Jagdhütte auf. Milo ist dicht auf ihren Fersen, so wie immer. Sie bemerkt, dass ihr Vater hinter ihr kurz stehen bleibt und zu seiner jüngsten Tochter blickt. Sie weiß, dass sich dabei sein
Gesicht für einen Sekundenbruchteil schmerzhaft verzieht. Sie spürt seine Blicke förmlich in ihrem Rücken, wie sie sie durchbohren. Aber er sagt nichts, auch wenn er die ganze Situation schneller
begreift, als jeder andere. Das tat er immer schon.
Vermutlich ahnt er in diesem Moment bereits, dass seine Familie nach all dem hier nicht mehr
dieselbe sein wird. Dass er unter keinen Umständen beide Töchter behalten kann. Auch wenn er keine Ahnung hat, welche Gedanken Rainn tatsächlich umhertreiben. Er muss wissen, dass sie für Juniper
alles geben würde, sogar ihr eigenes Leben. Es versetzt ihn womöglich in einen Zustand anhaltender Angst, die er so das letzte Mal erlebte, als der leitende Arzt ihm von der Krankheit seiner Frau
berichtete. Damals war er wie erstarrt, vegetierte von da an nur als Statur vor sich her. Bis Juniper kam und ihm auf die Beine half, bis Rainn immer mehr Verantwortung übernahm und er die Zeit
fand, die Trauer zu verarbeiten. Doch alles ist jetzt anders.
Denn sie werden aus dieser Sache niemals alle gemeinsam herauskommen. Das muss ihm in diesem Moment
wohl klar werden, ebenso wie Rainn.
Rainn schläft in der Nacht kaum.
Ihre Gedanken drehen sich immer wieder im Kreis. Sie beginnen bei dem Handabdruck, dem eigenartigen
Rechteck in der Glaswand und huschen weiter zu Juniper und ihrem ungeborenen Baby. Rainn erinnert sich an die Zeit vor etwa einem Jahr, als Juniper für eine kurze Zeit wieder nach Hause kam, weil
sie es nicht ertrug neben Knox und Ravi zu schlafen. Dad hat Recht. Dass man sie zwang das Kind wegzumachen, brach sie innerlich und nahm ihr etwas von ihrem Leuchten. Sie war noch immer
irgendwie die Alte gewesen und kümmerte sich weiterhin aufopfernd um Ravi. Sie liebte ihren Mann inbrünstig, pflegte die Verletzungen von ihr und ihrem Vater mit der gleichen Sorgfalt und
verwandelte Rainns Haare stets in ein praktisches Flechtwerk. Ganz so, als wäre alles noch beim Alten. Doch etwas war anders. Bis heute ist sie in dieser Familie weiterhin diejenige, die am
meisten lächelt und am meisten lacht. Aber manchmal erscheint es, als würde dieses Lächeln ihre Augen nie erreichen und auf dem Weg dahin absterben, verdursten.
Zum ersten Mal fühlt Rainn so etwas wie Wut in ihrem Bauch, die nicht nur Knox oder ihrer Schwester gilt, sondern dem System in dem sie leben. Man lässt ihnen die die Freiheiten, die sie brauchen, um glücklich zu sein, aber erwartet gleichzeitig die Einhaltung der Regeln, die unbestreitbar Naturgesetze sind. Alle Ressourcen sind bis ins Kleinste berechnet und jeder neue Mensch, der dieses empfindliche Ökosystem stört, eine Bedrohung für ihr Zusammenleben. Die Gründungsmitglieder verpflichteten sich und ihre Nachkommen, das Prinzip zu befolgen, das besagt, den Selbsterhaltungstrieb der Gemeinschaft über den Selbsterhaltungstrieb eines Einzelnen zu stellen.
Rainn unterstützte diese Art zu leben immer, weil es einer klaren Logik entspringt. Es sind keine Machtansprüche, die ihre Führung damit geltend machen will. Es geht nicht um Geld, um das es den Menschen aus dem früheren Zeitalter oftmals ging. Der einzige Grund, für diese Gesetze, ist der Schutz der gesamten Biosphäre. Der Schutz ihrer Welt und jedes Einzelnen darin.
Doch nun fragt sich Rainn wie in all diesem, perfekt durchdachten, Konstrukt den freien Willen des Menschen vergessen konnten? Juniper ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich nicht alles mit dem Kopf steuern lässt. Ihre Liebe zu Knox ist unberechenbar, im wahrsten Sinne des Wortes, und ihre Liebe zu ihren Kindern nur umso mehr. Wenn all das eine Bedrohung ist, warum lassen sie die Menschen hier frei über ihr Schicksal entscheiden? Sie hätten Knox sterilisieren sollen, so wie sie es bei den Tieren manchmal tun, wenn die Population zu groß wird. Wo ist da der Unterschied? Doch stattdessen schwört man die Menschen auf ihren freien Willen ein, auf ihr vorhandenes Selbstbewusstsein, welches sie schon die richtigen Entscheidungen treffen lassen wird. Und dann bestraft man sie dafür, dass sie Gefühle und Empfindungen haben, die unkontrollierbar sind.
Doch so unfair sie das persönlich empfindet, weil es in diesem Moment den Mensch trifft, der ihr die Welt bedeutet, so sehr weiß sie, dass die Führung keine Ausnahme machen kann. Eine Ausnahme wird alles in Frage stellen. Soll dieses Kind wirklich leben, dann muss ein anderes Menschenleben in dieser Welt für das Kleine Platz machen.
Und das wird garantiert nicht Junipers Platz sein. Das lässt Rainn unter gar keinen Umständen zu.
Sie erhebt sich entschlossen aus ihrem Bett, noch bevor die ersten Sonnenstrahlen durch die Glaswände brechen. Zur Jagd steht sie oft früh auf. Doch die Jagd ist an diesem Tag nicht der Grund für ihre Unruhe, auch wenn sie sich dennoch den Köcher auf den Rücken bindet und ihr altes, ungeliebtes Jagdmesser in den Holster steckt. Alles wie immer, nur, dass ihr Blick grimmiger und ihre Miene verbissener ist. Selbst Milo scheint die Anspannung zu bemerken und ist weniger aufgekratzt an ihrer Seite, so wie sonst. Als wenn er spürt, dass es aktuell keinen Grund für Freude gibt.
Ihr fehlt jeder Blick für die künstlich geschaffene Natur um sie herum. Ausdruckslos stiefelt sie stattdessen durch den kleinen Bachlauf, der sich durch den dichten Wald in einem endlosen Kreislauf schlängelt. Selbst die Lebendfallen ignoriert sie, als sie ein paar von ihnen passiert und sogar das ein oder andere Tier darin erspäht. Rainn hält erst an, als sie die gleiche Stelle erreicht, wie am Tag zuvor.
Die Stelle, wo die Erde von ihr aufgewühlt wurde, wo sich jetzt eine sandige Staubschicht auf den Handabdruck gelegt hat und er kaum mehr zu erkennen ist. Sie begreift nur am Rande, dass das bedeutet, dass der Handabdruck tatsächlich ziemlich frisch gewesen sein muss.
Sie geht sogleich in die Hocke, buddelt das Rechteck wieder aus und sucht es mit ihren Fingern ab. Dieses mal wird sie fündig. Sie ertastet etwas, was ihr am Abend zuvor durch einen großen, eingebuddelten Stein verborgen geblieben war. Schnell beginnt sie den Stein freizulegen. Tannennadeln stechen in ihr Nagelbett und ihre Fingernägel sind voller Erde, spannen unangenehm. Aber sie stoppt erst, als sie den faustgroßen Stein umgreifen kann und ihn mit Wucht aus seiner Einkerbung in der Erde zieht.
Zunächst glaubt sie, rein gar nichts darunter zu erkennen, doch als sie noch etwas mehr der Erde entfernt, sieht sie, dass das Glas an dieser Stelle breiter wird, als wäre es hier unten auseinandergelaufen. Inmitten dieser Breite ist ein Loch, welches zwar mit Erde vollgestopft ist, doch als Rainn mit dem Messer zu stochern beginnt, löst sich diese. Das Loch endet etwa in der Mitte der Glaswand und geht offensichtlich nicht vollständig durch. Es befindet sich zentral innerhalb des Rechtecks am unteren Rand.
Egal wie sehr sie in ihren verwirrten Gedanken auch nach einer anderen Erklärung forscht. Dieses Loch an dieser Stelle kann nur eine einzige Schlussfolgerung zulassen. Es ist ein Fenster in die Außenwelt. Ein Fenster, das einst durch die Menschen geschaffen wurde, deren Nachkommen jetzt hier drin Leben. Ein Durchgang, wie ein Hoffnungsschimmer in ihrer aktuellen Situation.
Rainn sitzt noch einen langen Moment so da, starrt abwechselnd auf das Loch und anschließend in die düstere Wüstenlandschaft, die sie umgibt.
Wäre ihre Entscheidung nicht die gleiche, wenn ihre Schwester sie nun nicht braucht? Hätte sie ihr Leben wirklich weiterleben können, im Wissen, dass es womöglich noch so viel mehr gibt als diese Kuppel? Vermutlich. Aber nun, in ihrer aktuellen Situation, ist es keine Frage mehr, sondern eine unendliche Erleichterung. Es ist eine Chance für Juniper so zu leben, dass es sie glücklich macht. Es ist eine Chance für Rainn diese Neugierde zu stillen, die sie jeden gottverdammten Tag an den Rand ihrer Welt bringt.
Eine Chance, so wertvoll, dass kein Weg mehr dran vorbei führt.
„Du kannst meine Kämpfe nicht für mich austragen“, spricht Juniper hinter ihrem Rücken leise. Rainn ballt ihre Hände zur Faust, vielmehr um all die Erde zu verstecken, die sie nicht schaffte von ihren Fingernägel zu entfernen. Wie zur Untermalung ihrer Worte zieht Juniper fest an einer von Rainns dunkelblonden Haarsträhnen, um einen Knoten darin zu lösen.
„Autsch“, zischt Rainn daraufhin und verzieht das Gesicht. „Du bist heute verflucht brutal.“
„Weil ich will, dass du mir auch zuhörst.“
Ihre Schwester steht hinter ihr, während Rainn auf dem Küchenstuhl sitzt und sich wie üblich von ihr die Haare flechten zu lassen. Eine Tradition, die sie seit viele, vielen Jahren pflegen. Eine Tradition, die Rainn so schmerzhaft vermissen wird, wie die Luft zum Atmen. Juniper drückt ihren Kopf zur Seite, um nun einen seitlichen Zopf zu flechten.
„Ich hör dich, keine Sorge. Immerhin stehst du direkt hinter mir.“
„Das reicht mir nicht. Du sollst mir nicht nur zuhören, du sollst auch machen, was ich sage.“ Rainn unterdrückt einen erneuten Schmerzlaut, als Juniper, nicht gerade sanft, Strähnen abteilt und beginnt sie an ihrem Kopf zu verknoten. „Ich kenne dich. Du wirst etwas Dummes tun und ich mir das niemals verzeihen.“
„Und mit welchem Alternativszenario könnte ich mir verzeihen, wenn dir etwas passiert?“, fragt Rainn mit zusammengebissenen Zähnen. Teilweise, weil ihre Kopfhaut langsam echt schmerzt, teilweise aber auch, weil Juniper so unglaublich naiv ist, dass es zusätzlich wehtut.
„In dem, wo alles gut werden wird.“
„Na dann, brauchst du dir um mich keine Sorgen zu machen. Alles wird gut, hast du gesagt. Und dein Wort ist hier immerhin Gesetz.“ Es gelingt ihr nicht so Recht, all den Sarkasmus aus ihrer Stimme zu halten und Juniper bemerkt das sehr wohl.
„Sei nicht so gehässig“, spricht ihre Schwester unbeirrt weiter, drückt und schiebt sich dabei ihren Schädel so zurecht, wie sie es braucht. „Ein bisschen mehr Vertrauen könnte dir nicht schaden.“
Rainn beißt die Zähne erneut zusammen und starrt aus dem kleinen Fenster hinaus zu den Getreidefeldern, die gerade in voller Blüte stehen. Vereinzelt sieht sie Menschen dort, die die Ernte kontrollieren. Im Hintergrund erheben sich die rötlichen Berge der Wüste Arizonas, wie eine ständige Erinnerung an das, was Rainn plant zu tun. Oder aber eine Warnung. Rainn wird das erst ziemlich spät sicher wissen. Vermutlich zu spät.
Juniper fährt schweigend fort, so wie sie es bereits hunderte Male zuvor tat. Sie flicht auf jeder Seite zwei schmale Zöpfe fest an ihren Kopf, einen großen, breiten in der Mitte und verknotet alles zu einem Dutt in Rainns Nacken. So wie sie es schon immer tat. Die Gewohnheit dieser Handlung schmerzt angesichts der unerträglichen Situation, in der sie sich befinden.
Als Juniper fertig ist, schlingt sie von hinten die Arme um Rainns Körper und drückt sich fest an ihre kleine Schwester heran. Ihre Schläfe liegt neben Rainns Wange, ihr Blick ist ebenfalls nach draußen aufs Feld gerichtet.
„Ich bin auch nur ein Mensch, Rainn“, haucht sie.
„Nein“, flüstert Rainn zurück, aus Angst ihre Stimme schwankt, und greift sofort nach Junipers Hand, hält sie fest in ihrer. „Du bist mein Mensch.“
Als Rainn an diesem Abend nach Hause kommt, ist ihr Magen voller Steine, ihr Kopf unheimlich schwer. Sie weint selten, im Grunde nie. Aber in diesem Moment ist ihr zum Heulen zumute. Sie will sich auf ihr Bett werfen, Milo rausschmeißen und lautstark flennen wie ein Baby. Aber sie wird es nicht tun. Denn es wird sich wie eine Niederlage vor ihrer eigenen Stärke anfühlen.
Sie ist im Grunde froh, dass ihr Vater mit ein paar Freunden unterwegs ist, so wie er es einmal im Monat tut. Es ist besser so, leichter. Sie hat keine Ahnung, wie sie ihm unter die Augen treten soll. Wo Juniper sie zwar kennt, wie niemand sonst, glaubt sie stets an das Positive im Leben. Alles wird gut werden. Sie wird Rainn nicht verlieren. Ihr Vater ist da anders. Er wird sehen, was Rainn plant, auch wenn er es nicht begreifen kann. Ihm kann sie nichts vormachen, keine Sekunde lang.
Dass er heute nicht hier ist, ist eine Erleichterung. Abschiede sind scheiße.
Als sie die Hütte betritt und das Licht einschaltet, fällt ihr Blick sofort auf den Esstisch. Darauf befindet sich sowohl Dads Jagdmesser, als auch eine Nachricht an sie.
Habe heute Claire getroffen. Du hast es dir verdient. Bin stolz auf dich. H.
Andächtig greift sie nach dem Messer, das sich in dem passenden ledernen Holster befindet, das man am Gürtel und Oberschenkel festmachen muss. Dads Messer ist im Grunde kein klassisches Jagdmesser, sondern ein Bowie Messer. Ein vielseitiges Kampfmesser, das damals hauptsächlich von Cowboys getragen wurde. Die Klinge ist länger und dicker, als die von gewöhnlichen Jagdmessern. Der Griff aus schickem, rötlich schimmerndem Palisanderholz, liegt so weich und passend in ihrer Hand, dass sie es am liebsten nie wieder ablegen will.
Wo sie sich zuvor wie ein kleines Kind über dieses Geschenk gefreut hätte, fühlt sie allein beim Anblick einen fetten Kloß im Hals, der es ihr verflucht schwer macht zu schlucken. Dad ist Jäger. Sein Gespür für seine Umgebung ist so ausgefeilt, wie bei kaum jemanden sonst. Dass er ihr dieses Geschenk zu diesem Zeitpunkt überlässt, schmeckt so verdammt nach Abschied. Das beginnt Rainn zu diesem Augenblick zum ersten Mal richtig zu realisieren.
Sie zögert nicht weiter und befestigt das Messer an ihrem Gürtel. Dann stürmt sie in ihr Zimmer. Sie will keine Zeit mehr verlieren und gar nicht erst in Versuchung kommen, es sich noch mal anders zu überlegen. Sie wird ihrem Instinkt vertrauen, auf ihr Bauchgefühl hören. So wie es Juniper immer tut.
Wie kann sie ihr also einen Vorwurf daraus machen?
Den Rucksack hat sie schon gepackt, mit allem, was ihr irgendwie nützlich erschien. Das war alles andere als leicht, wo sie doch keinen Schimmer hat, was sie wirklich erwartet. Der Gedanke, dass es wahr sein könnte, was man ihr hier über die Außenwelt erzählte, dass die Strahlung da draußen sie in Sekundenschnelle qualvoll dahinsiechen lassen wird, verdrängt sie. Sie muss all ihre Hoffnung auf diesen verdammten Handabdruck bündeln. Und wenn sie stirbt, dann ist das eben so. Juniper wird es so oder so retten. Als sie das Zimmer wieder verlässt, stolpert sie beinahe über Milo, der irritiert zu ihr aufsieht, als würde er sie fragen, was zur Hölle sie hier treibt.
„Okay.“ Rainn seufzt. „Du begleitest mich bis zur Wand, aber nicht weiter, kapiert?“
Ihr Blick fällt auf die kleine Vitrine in dem Aufenthaltsraum, die ihr Vater immer gewissenhaft abschloss. Er trägt auch jetzt sicherlich den Schlüssel bei sich. Als sie versucht sie zu öffnen, ist genau das auch der Fall. Abgeschlossen unter dickem Glas schimmern ihr die Jagdgewehre mit Zielfernrohr und zwei Handfeuerwaffen entgegen. Die Biosphäre beherbergt viele Schusswaffen, die unter strengen Sicherheitsvorkehrungen im Lager gehalten werden. Das Gerücht, dass seit der Versiegelung keine Waffe mehr abgefeuert wurde, hält sich hartnäckig. Sie werden jedoch gepflegt, gereinigt und instand gehalten. Aber manchmal zweifelt Rainn daran, ob das nicht vollkommen sinnlos in ihrer Welt ist. Niemand denkt mehr an den immensen Waffenvorrat, niemand hier braucht ihn. Lediglich Rainn und ihr Vater dürfen Feuerwaffen besitzen, um zu jagen oder sich gegen Wölfe oder Wildschweine zu wehren, die durch den Wald streifen und den Bestand auf natürliche Weise in Schach halten. Obwohl ihre Ausbildung auch den Gebrauch von Schusswaffen beinhaltete, hat sie sich mit dem Bogen in der Hand und dem Messer am Gürtel immer sicherer gefühlt. Irgendwann nahm sie das Gewehr gar nicht mehr mit. Seitdem liegt es in dieser Vitrine wie ein Mahnmal an eine längst vergessene Zeit, wie eine Erinnerung an Gefahren, die in dieser Welt nicht mehr existieren.
Sie wendet ihren Blick wieder ab. Vielleicht ist es besser so. Ihr Vater würde sicherlich Ärger bekommen, wenn von diesen Waffen etwas bei der jährlichen Zählung fehlen würde.
Unter die Nachricht von ihrem Vater kritzelt sie schnell und mit rasendem Herzschlag:
Sucht mich nicht, denn ihr werdet mich nicht finden. Ein Leben für ein Leben. Ich liebe euch. R.
Und dann verlässt sie die Hütte mit energischen Schritten, ohne noch ein letztes Mal zurückzublicken. Den Bogen um ihren Körper geschlungen, die Pfeile auf dem Rücken und der Rucksack darüber. Zusammen mit ihrer dicken, dunkelbrauen Wildlederjacke, fühlt sie sich so eingeschnürt und eingeengt, wie noch nie zuvor. Ihre stockende Atmung trägt schließlich den Rest dazu bei, dass ihr bei jedem Schritt schwindeliger wird. Sie friert und schwitzt gleichzeitig in ihrer Haut. Und dennoch läuft sie unbeirrt weiter. Mit schnellen Schritten und der Taschenlampe, sucht sie sich eilig ihren Weg, als wenn sie Angst hat, dass man sie erwischen könnte, noch bevor sie entkommt. Sicherlich steht auf ihr Vorhaben die Todesstrafe. Denn sie versucht nicht nur aktiv auszubrechen, sie setzt dem Ökosystem auch der Gefahr aus, kontaminiert zu werden, wenn sie einen Spalt nach außen öffnet. Doch wenn sie Recht hat, dann ist es keine Gefahr, sondern eine über alle Maßen wertvolle Chance. Und das hier ist ihr Bauchgefühl, ihr Instinkt. Sie wird nicht mehr daran zweifeln.
Aus ihrem Rucksack ragt eine große Metallstange hervor, die sie in dem Geräteschuppen hinter ihrem Haus fand. Sie ist etwa handgelenkbreit, so wie das Loch, welches sie entdeckte. Als sie den Rucksack an ihrem Ziel schließlich absetzt und nach der Stange greift, beginnt Milo neben ihr zunächst leise, dann immer lauter zu winseln.
Sie schaut zu ihm, doch sein Blick ist versteinert nach draußen gerichtet und sein Fell auf dem Rücken aufrecht gestellt. Das an sich ist schon seltsam, weil er so gut wie nie nach draußen sieht, denn die dicke Wand dazwischen lässt keine Gerüche zu, die diese Sinne reizen könnten. Doch sie darf sich nicht ablenken lassen, sondern muss fokussiert bleiben. Keine Zweifel. Kein Zögern. Also ignoriert sie ihn und rammt die Eisenstange in das Loch. Sie passt beinahe perfekt und durch weiteres Drehen und Schieben bekommt sie dort schließlich einen so festen Halt, dass die Stange kaum noch Spielraum hat. Rainn hat im Grund keine Ahnung, ob die Stange als Hebel in dem Loch so funktionier, wie sie das glaubt. Vielleicht ist viel mehr als das notwendig, um das Fenster zu öffnen. Ein Schlüssel zum Beispiel. Doch, wenn es funktioniert, dann darf sie nicht zögern. Dann muss alles unheimlich schnell gehen.
Sie drückt noch einmal fest und die Stange rutscht noch ein paar Millimeter tiefer. In der Stille der Umgebung glaubt sie, ein Klicken zu hören, als hätte sie einen Auslöser betätigt. Ihr Herz rast, als sie mit beiden Händen die Stange umgreift, die jetzt leicht in Richtung Boden deutet. Zwei tiefe Atemzüge, dann beißt sie schnaufend die Zähne aufeinander und zieht die Stange mit aller Gewalt, wie einen Hebel, in die Höhe. Das Klicken, welches sie beim Reindrücken hörte, bestärkt sie nur darin, dass das Rechteck sich nur so lösen lässt. Doch allmählich beginnen ihre Schultern zu brennen und ihre Zähne zu schmerzen, so fest beißt sie sie aufeinander. Zudem scheint sich rein gar nichts zu bewegen, außer ihre Hände, die immer feuchter werden. Keuchend lässt sie los und flucht lautstark, als sie zu dem Rechteck sieht.
Und dass sie das Rechteck auf den ersten Blick sofort als solches erkennt, begreift sie erst eine Sekunde später.
Augenblicklich fährt ihre Hand nach vorn. Tatsächlich ertastet sie eine Unebenheit, die am gestrigen Tag noch nicht da war. Sie hat die Öffnung leicht verschoben und so wie sie das sieht nur am oberen Abschnitt. Das spricht dafür, dass es sich wie eine Klappe nach oben öffnet, durch die sie schnellstmöglich herauskrabbeln muss, bevor sich die dicke Wand wieder schließt und sie zwischen dem Spalt zerquetschen würde.
Doch dafür muss sie ein letztes Mal all ihre Kräfte bündeln und sie öffnen. Rainn wartet, bis sich ihre Atmung stabilisiert hat und geht dann in die Hocke, um die Stange beim Aufstehen mit sich zu heben. Milo steht aufmerksam neben ihr, beobachtet ihre Handlungen akribisch.
Sie zählt von drei abwärts und reißt erneut mit aller Gewalt an der Stange in ihren Händen, die Augen fest geschlossen. Wenn sie es nun nicht schafft, wäre es das für heute gewesen. Sie wird an diesem Abend nicht noch mal solche Kräfte in sich wachrufen können.
Doch dieses Mal ist etwas anders. Etwas bewegt sich. Als sie das begreift, brüllt sie vor Anstrengung, reißt die Stange mit den letzten, verbliebenen Kräften in ihrem Körper in die Höhe. Das Brennen in den Schultern und Armen, der schmerzende Kiefer sind plötzlich vollkommen egal. Sie wird es schaffen. Sie muss es einfach.
Und noch bevor sie irgendetwas sieht, noch bevor sie überhaupt irgendetwas realisiert, fühlt sie einen eigenartigen Luftzug an ihren Händen. Kalt, prickelnd. Sie zieht keuchend weiter und die Stange bewegt sich noch ein wenig mehr. Als sie schließlich die Augen öffnet, muss sie sich zusammenreißen nicht in eine augenblickliche Schockstarre zu fallen. Die Klappe steht etwas mehr als einen halben Meter offen.
Sie hat es tatsächlich geschafft!
Die Freude darüber verfliegt einen Herzschlag später, als sie realisiert, dass die Klappe sich, ohne ihren Halt, wieder zu schließen beginnt. Sie drückt sie erneut mit der Stange in ihren Händen auf und schaut sich schnell um. Sie hinterlässt nichts, alles, was sie benötigt, ist sicher in dem Rucksack auf ihrem Rücken verstaut.
Dann sieht sie noch mal zu Milo und spricht ein energisches „Bleib!“, das ihn veranlasst sich sogleich hinzusetzen, sie aber weiterhin nicht aus den Augen zu lassen. Bitte, gehorch mir nur einmal in deinem Leben so gut, wie Buster Dad gehorchte. Nur ein einziges Mal, fleht sie Milo in Gedanken an.
Und dann geht alles rasend schnell.
Sie lässt die Stange los, greift nach der Öffnung und springt förmlich hindurch, drückt und schiebt ihren Körper gleichzeitig durch die sich schließende Öffnung, bis sie mit wildem Herzschlag auf die andere Seite rutscht. Dort kommt sie mit dem Blick zurück zur Luke auf dem Boden auf. Zeit ihre Lage zu analysieren, bleibt ihr jedoch nicht, denn im folgenden Augenblick sieht sie, wie Milo zum Sprung ansetzt. Seine Pfoten treffen auf die, sich behäbig schließende, Platte. Er robbt sich verzweifelnd winselnd nach oben, ist beinahe schon mit dem halben Körper drüben.
Mit einem wütenden Laut, der eher einem erstickten Keuchen gleicht, rappelt sich Rainn auf die Beine, umgreift seinen Körper und zieht ihn in die Höhe. Er jammert angstvoll und tritt um sich, scheint zu spüren, dass die Klappe sich bewegt und ihn mühelos zerquetschen wird, wenn Rainn ihn nicht schnellstmöglich auf ihre Seite schafft. Als seine Hinterpfoten im letzten Augenblick aus dem verbliebenen Spalt gezogen werden, schließt sich die Klappe eine Sekunde später mit einem dumpfen Rumsen.
Rainn fällt mit Milo in den Armen zurück, spürt wie sie auf sandigen, steinigen Grund landet. Nach dem ersten, starken Atemzug, glaubt sie felsenfest daran, hier wirklich zu sterben, so wie man es ihr immer prophezeite. Sie hustet und keucht, würgt, als muss ihr Körper sämtliche Inneren loswerden, während ihre Lunge gleichzeitig zu explodieren droht. Milo scheint es neben ihr nicht anders zu gehen. Sein Hecheln wird laut, klingt wie ein kehliges Bellen. Als würde man aus ihm die Luft rauslassen, wie aus einem Luftballon. Er liegt auf der Seite, scharrt mit den Pfoten, als wenn er kaum Kraft hat, sich zu erheben. Rainn versucht, auf die Beine zu kommen, schafft es aber lediglich auf alle Vieren, wo sie weiterhin husten und keucht. Ihr wird schwindelig, im gleichen Moment speiübel.
Und vermutlich ist es dieser Tatsache geschuldet, dass sie nicht bemerkt, wie sich in diesem Augenblick eine scharfe Klinge an ihre Kehle schiebt.
„Willkommen im Ozean, kleiner Goldfisch.“
4. Kapitel
Rainn fällt zurück auf ihren Hintern. Es war ein verzweifelter Versuch in eine aufrechte Position zu kommen. Doch alles um sie herum ist noch immer so verschwommen, dass sie keinen Halt findet und für einen kurzen Moment nicht einmal weiß wo oben und unten ist. In der Biosphäre las sie viele Bücher, Romane aus den alten Zeiten und auch, wenn sie kaum Erfahrungen mit Alkohol hat, so trifft ihr Zustand, auf die Beschreibung eines Rausches, doch ganz gut zu. Sie fühlt die Kühle des sandigen Bodens an ihren Händen, wie ihre Haut prickelt und ihre Arme noch immer von der Anstrengung brennen wie Feuer. Aber trotz der offensichtlichen Schmerzen und der Kälte um sie herum, zweifelt sie weiterhin ernsthaft daran, dass all das gerade wirklich passiert.
Was nur ein wenig besser wird, als die Person hinter ihr, ihre plötzliche Bewegung mit einem: „Ah, ah, ah … nicht so schnell. Bleib schön, wo du bist“, kommentiert.
In der Hocke wankt sie von der einen zur anderen Seite, wie ein dünner Baum im Sturm. Das unkontrollierte Schwindeln lässt sie recht schnell spüren, dass mit der Klinge an ihrem Hals nicht zu spaßen ist. Sie zuckt leicht zurück, als sie beim nach vorne Sacken ihren Kehlkopf an die Klinge drückt und diese daraufhin fein in ihre Haut schneidet.
„Was is mit dem Köter?“ Rainn vernimmt eine weitere Stimme aus dem Hintergrund. Erst jetzt realisiert sie, dass die Person in ihrem Nacken eindeutig weiblich ist, die andere jedoch nur ein tiefes, rauchiges Brummen.
„Er wirkt gefährlich.“ Eine dritte Stimme. Auch männlich, aber bei weitem nicht so tief wie die andere. „Wir sollten ihn erledigen.“
„Nein!“ Das ist alles, was Rainn verzweifelt hervorbringen kann. Ihre Augen suchen den Boden nach Milo ab. Das Bild vor ihr beginnt langsam Kontur anzunehmen. Er ist nicht minder außer Kraft gesetzt wie sie und liegt mehr, als dass er steht. Doch sie hört ihn knurren, ein leises Gurgeln aus seiner Kehle. Verdammt, warum nur hat er nicht auf sie gehört? Dämlicher Hund!
Vor ihm befindet sich ein dunkler Mann, für Rainn lediglich ein Schatten, doch in den Händen hält er einen dicken Stock, an dessen Ende eine lange Klinge befestigt ist. Und diese ist eindeutig auf ihren Hund gerichtet, der sich in seinem Zustand wohl kaum gegen einen Angriff verteidigen kann.
Im nächsten Moment spürt sie die Nähe der Person in ihrem Nacken, wie sie sich zu ihr herunter beugt. Ihr Mund befindet sich so nah neben Rainns Ohr, dass sie ihren Atem auf der Haut fühlt.
„Was meinst du, kleiner Goldfisch? Kann sich dein Köter benehmen oder müssen wir ihm die Gedärme rausreißen? Er wäre ´ne gute Mahlzeit für uns, weißt du.“
„Bitte … nicht.“ Rainns Blick ist starr auf Milo gerichtet, dessen Konturen langsam wieder vollständig zu erkennen sind. Die Person hinter ihr scheint noch einen Augenblick zu zögern, dann erhebt sie sich mit einem Zungenschnalzen. „Wir nehmen ihn mit ins Lager, legen ihm einen schönen Maulkorb an. Eine so selten hübsche Kreatur zu töten, wäre aber auch echt eine Schande.“
„Wobei ich mir sein Fell auch gut über meiner Haut vorstellen könnte.“ Der dritte Mann, der langsam in Rainns Sichtfeld tritt, lacht. Er wirkt furchteinflößend auf sie. Groß, glatzköpfig und breitschultrig, auch wenn er vollkommen in dunklen Klamotten gehüllt ist, die sie kaum im Detail erkennen kann. Viel Leder, vielleicht auch etwas Fell.
Der Mann mit der tiefen Stimme, der noch immer seine Waffe auf Milo gerichtet hat, sagt nichts, sondern fokussiert ihren Hund weiterhin, ohne zu blinzeln. Als würde er jeden Moment damit rechnen, dass er auf ihn losgeht. Und Milo ist kurz davor. Es genügt ein Wort von Rainn und er stürzt sich freiwillig in den sicheren Tod, egal wie schwach er gerade ist.
„Conor!“, ruft die Frau hinter ihr auffordernd in seine Richtung. Nur widerwillig sieht er von dem Hund weg zu ihnen hinüber. So finster wie seine Stimme, wirkt auch die gesamte Erscheinung auf Rainn. Seine dunklen Haare hängen ihm strähnig in der Stirn, sind jedoch nicht so lang, dass sie seinen Blick verbergen können. Schmale, misstrauische Augen, tief sitzende Augenbrauen, die sicherlich einiges zu dem ersten Eindruck beisteuern. Im nächsten Moment dreht er die Holzwaffe geschickt in den Händen und verstaut sie über der Schulter hinweg an seinem Rücken, sodass nur noch die scharfe Klinge hinter dem Schulterblatt hervorlugt. Doch egal wie einschüchternd er auf sie wirkt, es scheint wohl außer Frage zu stehen, dass die Frau hinter ihr hier das Sagen hatte.
Im nächsten Moment packt sie sie auch schon an der Schulter und reißt sie in die Höhe. Rainn folgt, steht schließlich wackelig auf ihren Beinen, wie eine altersschwache Frau. Es geht ihr besser, ihr Körper scheint sich langsam an die fremde Umgebung zu gewöhnen, aber sie ist noch weit davon entfernt ihre gesamten Kräfte zur Verfügung zu haben.
„Sieh mal einer an.“ Die Frau lacht unangenehm laut hinter ihr, als sie Rainn ein Stück nach vorn stößt. „Die Kleine hat einen ziemlich ordentlichen Bogen auf ihrem Rücken. So ein schickes Teil hab ich noch nie gesehen.“
Rainn spürt, wie sie an ihr herumfummelt. Erst löst sie den Rucksack, dann wird der Bogen von ihrem Körper gerissen. Rainn kooperiert nur widerwillig, weil ihr im Grunde nicht viel mehr übrig bleibt, als zu gehorchen. Sie fühlt sich schwach und ist viel zu sehr überrumpelt von der Tatsache, dass es nur Sekunden dauerte, bis sie wahrhaftig auf Leben gestoßen war. Und nicht nur auf irgendein Leben. Auf Menschen. Gesunde, lebendige Menschen, die erst mal nicht sonderlich anders wirken als sie selbst. Vielleicht ein wenig schlechter gelaunt.
Der mürrische Mann vor ihr, der wohl auf den Namen Conor hört, lässt seinen Blick ihren Körper entlang fahren, bleibt schließlich an ihrem Gürtel hängen.
„Da is noch ´n Messer“, brummt er erneut recht wortkarg.
Sofort tasten Hände gierig von hinten um ihre Hüfte, greifen nach dem Messer ihres Vaters und lösen es aus der Halterung. Rainn beißt ihre Zähne fest aufeinander, funkelt den Mann ihr gegenüber wütend an, doch dieser nimmt das vollkommen unbeeindruckt zur Kenntnis und sieht schließlich, fast gelangweilt, zu Milo zurück.
„Leck mich am Arsch, schon wieder so ´n schönes Teil. Ihr habt da drin richtige Schmuckstücke versteckt, was Goldfisch?“
„Ihr werdet mir die Sachen wiedergeben, sonst …“ Die Frau hinter ihr unterbricht sie jäh, indem sie nach ihrer Schulter greift und sie zu sich herum wirbelt. Rainn sieht sich nun konfrontiert mit der bisher gesichtslosen Gestalt hinter sich. Sie ist hübsch, auf eine arrogante Art und Weise. Dichte, dunkle Dreadlocks liegen in einem dicken Zopf geflochten über ihrer Schulter, die Augen sind rabenschwarz geschminkt. Sie überragt Rainn mit einem halben Kopf und sieht von da mit gereiztem Blick zu ihr hinab. Doch hinter diesem wütenden Blick scheint eine perfide Freude zu stecken, als hätte sie nur auf einen solchen Moment gewartet.
„Was sonst, hm? Hast du dich mal umgesehen? Ihr mögt in eurer Festung vielleicht unangreifbar sein, ein Leben wie Könige führen, aber das hier ist unser verficktes Land, unser Boden. Du bist hier ein Nichts, ein Niemand, verstanden?“, zischt sie so nah an Rainns Gesicht, dass sie ihren Atem auf ihrer Haut fühlen kann. Selbst die Wärme ihres Körpers prickelt an ihrem.
Rainn beißt die Zähne zusammen, fühlt das altbekannte Brodeln tief in ihrem Magen. Ein Brodeln, welches sie oftmals spontane Entscheidungen treffen ließ, die sie später weitaus häufiger bereute. „Hätte ich gewusst, dass wir heute die Ehre haben, hätte ich dir ein paar Pfefferminzblätter mitgebracht. Du hast echt einen üblen Mundgeruch.“
Die Frau vor ihr zögert nicht. Mit einer blitzschnellen Bewegung holt sie aus und schlägt Rainn mit der Rückseite ihrer Hand gegen die Wange. Sie scheint auf der Hand irgendeinen Schmuck zu tragen, denn es fühlt sich unverhältnismäßig hart an und schmerzt bestialisch, als hätte sie ihr damit gleichzeitig die Haut aufgerissen. Das reflexartige Wegzucken und ihr noch immer wackeliger Stand, lassen sie zur Seite wegbrechen. Sie hört das wütende Knurren von Milo näher kommen und weiß genau, was das bedeutet.
Ihr hektisches „Milo! Stopp!“ mischt sich mit einem warnenden „Selena!“ von dem mürrischen Mann.
Milo verharrt tatsächlich in der Bewegung, lässt die Frau aber nicht aus den Augen. Er hat wirklich etwas Furchteinflößendes an sich, wenn er seine Reißzähne so fletscht. Doch ohne den Befehl von Rainn würde er nicht angreifen. So viel Kontrolle hatte sie ihm dann doch über die Jahre beibringen können, auch wenn ihr Vater das womöglich anders sieht. Rainn dreht sich erschöpft auf den Rücken und tastet ihre Wange ab, die die Frau mit ihrem Schlag erwischte. Zischend zieht sie die Luft ein, als die Haut bei der Berührung brennt. Tatsächlich hat das Miststück ihr da die Haut aufgerissen.
Das besagte Miststück sieht mit verächtlichem Blick zu ihr hinab, beobachtet Rainn, wie sie die Verletzung inspiziert und schließlich dringt ein amüsiertes Schnaufen aus ihrer Nase.
„Du hast Eier in der Hose, das muss ich dir lassen. Es gibt nicht mehr viele Frauen wie dich. Leider bist du ziemlich dämlich dazu.“ Langsam geht sie neben Rainn in die Hocke. „Du musst nämlich immer wissen, wann du es dir erlauben kannst deine Eier zu zeigen und wann nicht. Gerade war zum Beispiel ein verflucht mieser Zeitpunkt dafür.“
Trotz brennender Wange spürt Rainn weiterhin das wütende Brodeln tief in ihr drin. Die Frau verengt ihren Blick, der anschließend abwartend zwischen Rainns Augen hin und her springt. Schließlich gibt Rainn nach und kapituliert still vor ihrem Gegenüber. Das Miststück sieht es und nimmt es mit einem überheblichen Schmunzeln zur Kenntnis.
„Kluger Goldfisch“, sagt sie und streckt die Hand nach Rainn aus. Nur zögerlich ergreift sie diese und lässt sich von ihr wieder auf die Beine ziehen.
„Wir sollten hier weg, falls noch mehr kommen und die Kleine vielleicht wiederholen möchten“, spricht der Glatzkopf, der bislang recht wenig zu den bisherigen Geschehnissen beitrug.
„Auch, wenn ich nicht wüsste, warum man sie wiederhaben will, geb ich dir Recht. Wir sollten die Nacht noch im Lager verbringen und morgen aufbrechen.“ Mit diesen Worten stößt sie Rainn vorwärts, die vor ihr her taumelt. Ihre Beine fühlen sich an wie halbfester Pudding.
„Aufbrechen? Wohin?“ Rainn ist noch immer vollkommen außer Atem, als sie das fragt. Sich, nach der gesamten Anstrengung, nur zu bewegen, fällt ihr unendlich schwer.
„Du warst eben so klug und jetzt vermasselst du es wieder.“ Die Frau hinter ihr seufzt genervt und drückt in unregelmäßigen Abständen ihre flache Hand in Rainns Rücken, um sie gewaltvoll vor sich herzuschieben. Auch der Rest setzt sich in Bewegung. Milo ebenfalls, der nah bei Rainn herläuft, als wolle er damit demonstrieren, auf welcher Seite er steht. Dieser dämliche Hund sollte gar nicht hier sein!, schießt es ihr durch den Kopf, als sie zu ihm hinab späht. Aber so sehr sie sich gegen die egoistischen Gefühle zu wehren versucht, sie ist gleichzeitig unendlich froh ihn an ihrer Seite zu haben. In ihrer aktuellen Situation kann sich noch nicht mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass sie ihre Familie vermutlich nie wiedersehen wird. Alles daran wirkt noch so absurd, wie ein Traum, aus dem sie jeden Moment wieder erwachen wird. Aber allein Milo an ihrer Seite zu haben, nimmt ihr etwas von dieser namenlosen Trauer.
Während sie schweigend weiterlaufen, bleibt Rainn endlich auch ein Moment, um ihre Umgebung genauer zu betrachten. Sie wagt es nicht, sich vollständig umzusehen, aus Angst dann zu stolpern oder aber erneut in einer Konfrontation mit ihren Gefährten zu stecken. Aber um sich nicht vollkommen zu überfordern, reicht es aus, sich auf das Bild vor sich zu konzentrieren. Auch wenn sie nicht sonderlich viel sieht. Im Grunde fast gar nichts. Schemenhaft erkennt sie leichte Hügel im Hintergrund, die sich dunkel von dem schwarzblauen Himmel abheben. Sie nimmt die spärliche Vegetation um sie herum wahr. Zahlreiche braun verdorrte Büsche, scharf wirkende Steinbrocken und vereinzelte Kakteen. Doch was ihr für einen Augenblick den Atem raubt, ist ein kurzer Blick in den Himmel hinauf.
Das Sternenzelt hat sie auch stets in B5 beobachten können. Doch sie versteht nun, dass es etwas komplett anderes ist, ungetrübt davor zu stehen. Das Tiefblau wirkt so viel satter, die einzelnen Sterne leuchteten so viel klarer. Und hier und jetzt begreift sie erst die Unendlichkeit des Himmels, seine überwältigende Größe. Der Himmel, die ganze Welt um sie herum ist nicht mit einem Blick erfassbar, geht weiter und weiter und weiter. Natürlich war ihr das theoretisch schon immer klar, doch erst in diesem Augenblick kribbelt ihr gesamter Körper von der Erkenntnis, dass sie frei ist. Sie kann gehen, wohin sie will. Tun, was sie will. Sie kann selbst zurück zur Biosphäre und die Menschen darin aufklären, dass die Welt außerhalb nicht tödlich ist. Aber stimmt das wirklich? Die Menschen um sie herum sind ein Beleg dafür, dass Leben hier draußen möglich ist, aber vielleicht nicht für die Bewohner der Biosphäre. Vielleicht haben diese Menschen Abwehrkräfte gegen die Strahlung entwickelt. Die Chance, dass Rainn noch immer an der qualvollen Strahlenkrankheit krepieren kann, besteht weiterhin. Nein, sie kann das Risiko nicht eingehen, bevor sie sich nicht ganz sicher ist. Außerdem, und das versucht sie, so gut es geht zu verdrängen, scheint sie die Gruppe nicht freiwillig zu begleiten. Dass sie sie schnell wieder gehen lassen, glaubt Rainn nicht. Und wer weiß, was diese Wilden mit ihr vorhaben. Wenn sie denkt, dass die Gesetze in der Biosphäre schon grausam sind, wie sind dann erst die Gesetze hier draußen? Ein Schaudern überkommt Rainn und sie verschränkt die Arme schützend vor dem Körper.
Zusätzlich zu dem Schaudern, das tief aus ihrem Inneren kommt, ist es unheimlich kalt und sie lediglich bekleidet mit ihrer dünnen Wildlederjacke. Ihre Weggefährten hingegen sind in mehreren Lagen Stoff gehüllt, die aussehen als hätte man sich wüst alles übergezogen, wo Arme, Beine und Köpfe hindurchpassen. Ein kurzer Windstoß fegt über sie hinweg und Rainn schlingt die Arme fester um ihren Körper. Als sie zur Seite späht, fängt sie den Blick des mürrischen Mannes, Conor, doch als er auch ihren Blick bemerkt, sieht er eilig wieder weg. Das lässt Rainn irritiert die Stirn runzeln.
Komischer Kerl.
Sie laufen noch etwa eine halbe Stunde, in der die Kälte schlimmer wird und Rainn sich immer schwächer und schwächer fühlt. Sie ist müde und ausgelaugt, als wenn die vergangenen Ereignisse ihr sämtlichen Kräfte aus dem Körper gesaugt haben. Dazu kommt, dass sie nicht nur auf den Hügel am Horizont zulaufen, sondern diese auch noch besteigen. Nicht nur einmal rutscht Rainn auf dem unsicheren Boden aus, wird von hinten gerade noch rechtzeitig von Selena gehalten, bevor sie auf ihren Knien den geröllartigen Weg zurück schlittert. Selena hingehen wird nicht müde, das jedes verfluchte Mal einem abfälligen Spruch zu kommentieren. Das Ganze beginnt Rainn mächtig zu stinken, auch wenn sie zu erschöpft ist, um großartig Einspruch dagegen zu erheben. Am liebsten würde sie sich freistrampeln, zurückrennen und an die Biosphäre klopfen, damit man sie wieder reinlässt. Doch sowohl ein Fluchtversuch in ihrer aktuellen Verfassung, noch die Aussicht darauf, dass man sie dort tatsächlich wieder reinlässt, ist mehr als nur unwahrscheinlich.
Als sie schließlich auf einer Ebene ankommen, auf der die Vegetation dichter und grüner erscheint, entdeckt Rainn etwas am Boden leuchten. Beim Näherkommen sieht sie ein fast erloschenes Lagerfeuer, in dem lediglich die Glut noch glimmert. Allein die Aussicht darauf, ihre durchgefrorenen Glieder am Feuer zu wärmen, lässt sie vor Verlangen seufzen.
„Mach das Feuer wieder an, Conor. Sonst erfriert uns der Goldfisch noch“, ruft Selena hinter ihr fordernd.
Conor zögert nicht, greift nach ein paar vertrockneten Sträuchern und platziert sie neben der Glut, dann pustet er so lange kraftvoll, bis die verdorrten Äste Feuer fangen. Rainn beobachtet ihn dabei, folgt ihm mit ihrem Blick, als er ans Ende des Camps läuft, wo ein toter Baum steht. Da fallen ihr erst die vier Pferde auf, die dort stehen wie Einrichtungsgegenstände und keine Lebewesen. Eins der Tiere schnaubt, als er ihren Hals im Vorbeigehen tätschelt. Dort bückt er sich, um an größere Äste zu kommen, die bereits abgebrochen auf dem Boden liegen. Wie lange sind sie schon hier und beobachten die Biosphäre? Leben sie hier irgendwo?
Selena tritt neben sie und mustert sie von der Seite, was Rainn im Augenwinkel unberührt zur Kenntnis nimmt. „Ich geh nicht davon aus, dass es Conor ist, den du so anstarrst. Habt ihr bei euch im Glaskasten etwa keine Pferde?“
„Doch“, antwortet Rainn lediglich und reißt ihren Blick los. Sie hat bislang nur nicht unbedingt die besten Erfahrungen mit diesen Tieren gemacht und seitdem einen grundsoliden Respekt vor ihnen und ihren riesigen Augäpfeln. Aber das wird sie Selena nicht unter die Nase reiben und ihr somit noch mehr Angriffsfläche für Sticheleien bieten.
„Hier.“
Der glatzköpfige Riese kommt in diesem Moment auf Selena zu und hält ihr ein paar struppige Kordeln entgegen, die er soeben aus einer der Satteltaschen holte.
„Damit wirst du deinen Köter knebeln und ihn da drüben an den Baum binden. Ich kontrolliere das anschließend, also machst du’s besser richtig. Und heb noch was von der Kordel auf. Den Rest brauche ich für dich.“
„Das müsst ihr echt nicht machen. Ich habe nicht vor …“
„Interessiert mich nicht, kapiert?“ Selena stößt Rainn grob in Milos Richtung.
Es bricht ihr beinahe das Herz ihren treuen Gefährten zu knebeln, der sie dabei weiterhin so treu ansieht, weil er Rainn mit jeder Faser seines Körpers vertraut. Sie könnte wohl mit ihm machen, was sie will und das macht alles im Grunde nur noch schlimmer. Es fühlt sich wie Verrat an. Als sie fertig ist, bindet Selena ihr die Hände unsanft auf den Rücken und die Beine an den Knöcheln zusammen, dann drückt sie sie neben das Feuer auf den Boden und wendet sich Conor zu.
„Hab ´n Auge auf sie.“ Er wippt nur ganz langsam mit dem Kopf auf und ab. Wenn Rainn sich nicht täuscht, wird sein Blick noch ein wenig verbissener und unfreundlicher. Aber Rainn könnte sich durchaus täuschen, denn immerhin scheint das auch irgendwie Standardgesicht zu sein.
Dann verschwindet Selena zielstrebig in einem provisorisch aufgebauten Zelt, dessen Dach aus Gräsern und Decken zu bestehen scheint. Rainn sieht ihr irritiert hinterher. Ihr Blick wird noch verstörter, als sie bemerkt, wie der Glatzkopf sich gemächlich auf den Weg macht, Selena in das recht kleine Zelt zu folgen. Rainn starrt zurück zu Conor, der es sich ihr gegenüber am Feuer bequem gemacht hat, den Rücken zu dem Zelt gedreht. Er meidet ihren Blick plötzlich noch akribischer, als bisher, während er mit einem Stock in dem Feuer herum stochert.
Es vergehen nur wenige Sekunden, bis aus dem Zelt eigenartige Geräusche zu ihnen herüberdringen. Rainn runzelt die Stirn, schaut fragend zu Conor, der offensichtlich so tut, als würde er nichts hören. Doch sie sieht das kurze Zucken an seinem Augenwinkel. Zudem wäre es wirklich lächerlich anzunehmen, dass er es nicht auch hört. Immerhin wird das Grunzen und Stöhnen so laut, dass es das Knistern des Feuers bei weitem übertönt. Conor ignoriert es wohl nur mehr schlecht als recht. Es dauert noch ein paar Augenblicke länger, bis Rainn mit einem Schlag begreift, welche Art Geräusche das sind.
„Oh, ihr wollte mich doch verarschen“, murmelte sie und drückt ihren Kopf, in einem lächerlichen Versuch ihre Ohren zu stopfen, zwischen ihre Schulterblätter hinab. Aber sie kann so nicht einmal ansatzweise die nunmehr eindeutigen Laute dämpfen. „Ist das euer Ernst? Seid ihr echt so primitiv?“
„Halt’s Maul“, knurrt Conor. Sie sieht zu ihm auf, doch er blickt sie immer noch nicht an. Das wird er mit diesen Hintergrundgeräuschen wohl auch erst recht nicht tun. Wenn sie nicht alles täuscht, dann scheint ihm die Situation noch wesentlich unangenehmer zu sein, als ihr. Und das mag schon was heißen. Mit zusammengekniffenem Blick sieht er weiter in die Flamme, weicht keinen Millimeter von dem Fleck ab, zu dem er starrt.
„Wie läuft das? Bist du als Nächster dran? Wechselt ihr euch ab?“ Der Laut ihrer eigenen Stimme übertönt die Geräuschkulisse immerhin ein wenig.
„Ich hab gesagt, du sollst dein Maul halten.“ Er hebt nun den Blick und funkelt sie gereizt an, das Gesicht eingefroren in einer starren Maske, die wohl nie zu lächeln scheint. Trotzdem hat Rainn das Gefühl, dass sie da eine Menge Scham entdeckt, die sie zumindest glauben lässt, dass auch er das nicht als normal erachtet, was gerade im Zelt passierte. Er hält ihren Blick einen eigenartigen Moment länger, bis ein langgezogenes Stöhnen aus dem Zelt tönt und er ihn unsicher wieder abwendet.
Hier und jetzt fühlt sie zum ersten Mal echte Angst darüber, was das für Menschen sind, zu was sie fähig sein können. Und nur, weil sie ihren Blick weiterhin auf ihren Sitznachbar richtet, in dessen verschlossenem Gesicht sie so etwas wie Abscheu erkennt, spürt sie noch Hoffnung in sich. Sie sind offensichtlich nicht alle so primitiv. Sie sind vielleicht Menschen, so wie sie. Egal was dieses Leben mit ihnen hier draußen gemacht hat, sie können unmöglich all ihre Menschlichkeit aufgegeben haben.
Als es endlich ruhig in dem Zelt wird und nur noch die beängstigende Stille der Nacht sie umgibt, sieht Conor wieder zu ihr auf. Und Rainn starrt ihn noch immer an, weil sie damit nie aufgehört hat. Sein Blick wandert durch ihr Gesicht, bleibt für einen Sekundenbruchteil auf ihrer Wange stehen, wo sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr einen kleinen Pfeil eintätowiert hat. Die Verbissenheit, die Wut verschwindet aus seinen markanten Zügen und sie glaubt darin jetzt Neugierde zu erkennen.
Er senkt den Blick wieder, aber Rainn weiß, dass ihm zahlreiche Fragen auf der Zunge brennen. Da ergeht es ihm wohl nicht anders als ihr.
5. Kapitel
Irgendwann schlief Rainn tatsächlich am Lagerfeuer ein. So recht weiß sie nicht einmal wie und wann es passierte. Dass es überhaupt passierte, kann sie nur ihrer unheimlichen Erschöpfung zuschreiben.
Sie erwacht relativ unsanft, als ihr eine Staub- und Sandschicht ins Gesicht weht. Schniefend und hustend sieht sie sich verwirrt um und realisiert im nächsten Moment, dass das nicht der Wind war, sondern Selena, die ihr den Sand mit ihren Schuhen ins Gesicht geschnippt hat. Rainns Augen brennen unter dem feinen Sand, den sie kurz darauf ebenfalls knirschend zwischen ihren Zähnen findet. Als sie sich einigermaßen davon gesäubert hat, fällt ihr erst auf, dass man ihre Handfesseln gelöst, ihr außerdem eine Lederjacke über ihren Körper gelegt und ein undefinierbares Stück Stoff als Kissen unter ihrem Kopf geschoben hat. Die aufschäumende Wut über das unsanfte Erwachen verfliegt sogleich wieder. Stattdessen sieht sie die endlos lang erscheinenden, nackten Beine hinauf zu einer knappen, halb zerfetzen Shorts in das überheblich grinsende Gesicht ihrer neuen Begleiterin.
„Die Zeiten, in denen du faul in den Tag hineinpennen konntest, sind vorbei, Goldfisch.“
„Hab ich mir fast gedacht, als du mir den Sand liebevoll ins Gesicht getreten hast“, murmelt sie zwischen zusammengepressten Zähnen und reibt sich ein letztes Mal über die trockenen Augen. Dann blinzelt sie schläfrig in ihre Umgebung hinein. Es ist noch verdammt früh, das kann sie erkennen. Die Sonne zeigt sich noch keinen Bisschen am Horizont, schickt aber schon ihre Vorboten, die ihre Umgebung langsam in erwachendes, helles Licht tauchen. Sie erkennt nun auch eindeutig die imposanten Pferde beieinander stehen. Diese fressen gerade zufrieden irgendein Steppengras, das verdammt nach dem Gras aussieht, welches am Abend noch die Hütte bedeckt hat, die nun nur noch aus Einzelteilen besteht. Daneben befindet sich ein kleines, weißes Plastikfass, aus dem eins der Pferde trinkt.
Neben zahlreichen Rucksäcken und Taschen, sitzen Conor und der Glatzkopf über etwas gebeugt, was wie eine Karte aussieht. Rainns Blick fällt auf die Lederjacke auf ihrem Körper, dann wandert er wieder zurück zu Conor. Er trägt nur ein zerfranstes, schwarzes Shirt mit abgetrennten Ärmeln, das seine nackten Schultern offenbaren. Als er auf einen Punkt auf der Karte deutet, zeichnen sich die Muskelstränge an seinem schmutzbedeckten Oberarm deutlich ab. Hat er ihr seine Jacke überlassen? Sie sogar zugedeckt?
„Er scheint wohl nicht so sehr gefroren zu haben, wie du.“ Selena schmunzelt süffisant, als sie Rainns Blick auf Conor richtig deutet.
Rainn kämpft sich aus der Jacke und erhebt sich krampfhaft. Ihre Glieder schmerzen und ihre Wange spannt noch immer von der Schnittwunde, die einer von Selenas zahlreichen Ringen dort hinterlassen hat. Sie hat definitiv noch nie so schlecht geschlafen in ihrem bisherigen Leben. Eine Nacht von Zuhause weg und schon beginnt sie ihr Bett zu vermissen. Na ganz toll.
Ihr Blick richtet sich zum Horizont, wo in ein paar Minuten die Sonne aufgehen wird. Vor ihr liegt die Biosphäre 5 in all seiner Schönheit. Eine riesige, einzigartige Blase und eine kleinere, angeschlossene Blase daneben. Abgeschirmt von der Außenwelt in einer so tödlichen, kargen Umgebung wirkt sie aus der Entfernung betrachtet wie ein rettender Regentropfen in der Wüste. Ihre Heimat. Zumindest war sie das bis zum gestrigen Tag. Etwas in ihrer Brust zieht sich krampfhaft zusammen, als sie an ihren Vater und Juniper denkt. Daran, dass sie ihren Zettel mittlerweile sicherlich gefunden haben. Haben sie trotzdem alles nach ihr abgesucht? Oder es einfach nur zur Kenntnis genommen? Sind sie vielleicht sogar erleichtert, weil es Juniper das Leben so viel einfacher machen wird? Ihr Vater wird von nun an alleine jagen gehen müssen, obwohl er sämtliche Verantwortung schon an Rainn abgegeben hat. Rainn wird Junipers Kind niemals kennenlernen, nicht einmal erfahren, ob es ein Junge oder Mädchen wird. Vielleicht wird das Kind einmal in ihre Fußstampfen treten, ihren Platz einnehmen und auch irgendwann das Brandmal des Jägers tragen. Immerhin trägt es die Gene eines Jägers in sich.
Sie blinzelt heftig, als Conor an ihrer Seite erscheint und wortlos nach seiner Jacke greift. Er blickt kurz verstört in ihr Gesicht.
„Scheiß Staub.“ Rainn schnieft daraufhin und reibt sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht.
„Wer’s glaubt“, murmelt er nur ausdruckslos und lässt sie in ihrer Melancholie zurück.
„He! Mädchen!“, brüllt der Glatzkopf, der noch immer am Boden über der Karte kniet, in diesem Moment.
„Mein Name ist Rainn.“
„Wie auch immer. Dein Köter da frisst uns noch die Haare vom Kopf. Wenn er so weiter macht überleben wir keinen Tag.“ Er deutet zu Milo hinüber, der im Schatten des Busches neben den Pferden liegt und vergnügt auf etwas herumzubeißen scheint.
„Was isst er da?“, fragt sie Conor, der zwischen ihr und dem Glatzkopf stehen geblieben war.
„Trockenfleisch. Unser Trockenfleisch“, antwortet er, immer noch verdammt ausdruckslos. Rainn sieht erneut zu Milo zurück. Sie haben ihm etwas von ihrem Proviant gegeben? Warum haben sie das getan? Sie reißt sich aus ihren Gedanken und blickt zu dem Glatzkopf zurück.
„Er ist ein Jagdhund und ich seine Trainerin. Wir können jagen gehen, was organisieren.“
„Hier?“ Selena lacht ungläubig auf.
„Hier gibt’s einiges, oder nicht? Hasen, Erdmännchen und Vögel. Ich konnte sie manchmal von innen hier herumlaufen sehen.“
„Und giftige Skorpione und Schlangen gibt’s auch ´ne Menge“, sagt Conor, mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme, und wendet sich ruckartig ab, als wäre das Thema damit für ihn beendet. Er schnappt sich das halbleere Plastikfass bei den Pferden und verschwindet mit strammen Schritten hinter dem nächsten Hügel. Als könne er nicht schnell genug verschwinden. Rainn sieht ihm verstört hinterher. Ob ihm selbst klar ist, wie eigenartig er sich verhält? So abweisend, als würde er sie hier gar nicht haben wollen, auch wenn er sich trotzdem in der Nacht um sie kümmerte. Selena hingegen will sie sicherlich am liebsten noch immer gefesselt bei sich haben. Rainn wird mit der Gruppe gehen müssen, so viel steht fest.
„Du bleibst schön bei uns. Keine Einzelgänge, kapiert? Dank deines überraschenden Auftauchens können wir früher aufbrechen, als geplant und sollten noch genug Proviant übrig haben. Es war sowieso für vier geplant“, erklärt Selena. Rainn sieht zu den Pferden hinüber. Tatsächlich stehen dort vier und nicht drei. Sie konnten doch nicht geahnt haben, dass Rainn ihnen aus einer Klappe entgegenpurzeln würde? Für wen also ist das vierte Pferd gedacht? Selena sieht diese Frage offensichtlich in ihrem Gesicht, doch noch bevor Rainn den Mund aufmachen kann, wendet sie sich ab und läuft zurück zu den Taschen, die sie auf den Rücken der Pferde verstaut. Das ist auch eine Art zu antworten, denkt Rainn resigniert.
Sie zögert einen weiteren Augenblick, dann tritt sie ebenfalls auf den Haufen in der Mitte zu und trägt einen der ledernen Rucksäcke zu Selena hinüber.
„Hey“, macht sie auf sich aufmerksam. Die großgewachsene Frau mit den dunklen Dreadlocks schenkt ihr nur einen kurzen, abfälligen Blick. „Ich hab nicht vor zu türmen. Ich bin so gesehen freiwillig bei euch, auch wenn ihr mir allen Grund gegeben habt, schnell das Weite zu suchen. Euch zu treffen war im Grunde das, was ich wollte, nachdem ich den Handabdruck am Glas entdeckt habe.“ Selena stockt in ihrer Bewegung und wirbelt zu Rainn herum.
„Was für ein Handabdruck?“
„Nur so wusste ich, dass draußen noch jemand ist“, erklärt sie mit einem Schulterzucken.
Selena schnaubt und massiert angestrengt ihre Schläfen. Es wirkt, als wenn sie sich innerlich versucht zu beruhigen, auch wenn Rainn keinen Schimmer hat wovor sie sich beruhigen will. Doch dann stürmt sie an Rainn vorbei auf den Glatzkopf zu, der sich bislang noch immer nicht von dem Ort neben dem Lagerfeuer wegbewegt hat. Er kniet weiterhin im Staub und studiert in aller Seelenruhe die handgemalte Karte auf dem Boden. Mit voller Wucht tritt sie ihm mit ihren wadenhohen Schnürstiefeln in seine Rippen. Der stämmige Körper ihres Partners fällt mit einem spitzen Überraschungslaut zur Seite.
„Flint, du Hornochse! Wir haben gesagt, dass der Scheiß nicht angefasst wird! Wie kommst du auf die beschissene Idee deine Pfote aufs Glas zu drücken? Hat dir jemand ins Hirn geschissen?“, brüllt sie außer sich und tritt weiter auf ihn ein. Schockiert beobachtet Rainn, wie besagter Flint schließlich ihr Bein zu fassen bekommt und sie in der Staubwolke, die nun um sie herum herrscht, zu Boden reißt. Selena stöhnt laut auf, als sie auf dem sandigen Boden aufschlägt. Sie tritt und schlägt noch immer wie eine Furie um sich, als Flint seinen massiven Körper auf sie wuchtet.
Rainn will gerade auf die beiden losstürmen und irgendwie versuchen Selena bei ihrem aussichtslosen Kampf zu helfen, als sich schnell zwei Arme um ihre Hüfte schließen und sie zurückziehen.
„Besser nicht.“ Conors tiefe Stimme vibriert in ihrem Nacken, ganz nah an ihrem Ohr. Rainn erstarrt und verkrampft augenblicklich in seinem Griff. Selten zuvor ist ihr ein fremder Mann so nah gekommen und wenn, dann kann sie sich nicht erinnern, dass ihr Körper dabei so heftig reagiert hat. Eine Gänsehaut breitet sich rasend schnell auf ihrem Körper aus, zwingt sie beinahe dazu sich zu schütteln wie ein nasser Hund. Der Geruch nach Stall, nach Leder und Erde dringt ihr in die Nase und ihr Hals wird staubtrocken.
Conor scheint all das zu bemerken, denn er lässt sie sofort los, als hätte er sich an ihr verbrannt. Rainn dreht ihr Gesicht in seine Richtung, doch er meidet ihren Blick sogleich und kümmert sich um das Plastikfass, welches er wohl soeben an einer Wasserstelle wieder aufgefüllt hat.
Irritiert sieht sie zu den beiden Streithähnen zurück, nur um festzustellen, dass diese in einem innigen, schmatzenden Kuss vertieft sind. Sofort schießt das Blut in ihren Kopf und lässt ihr Gesicht glühen vor Scham. Oh nein, darin will sie nun wirklich nicht involviert sein. Sie sieht eilig wieder weg und erhascht im nächsten Moment noch den kurzen, durchaus amüsierten Gesichtsausdruck von Conor, der sogleich wieder verschwindet, als er das Plastikfass auf dem Rücken einer der Pferde befestigt.
Rainn saß in ihrem Leben exakt einmal auf einem Pferderücken. Das Tier warf sie ab und sie prellte sich die Hüfte. Das Laufen ist ihr daraufhin für eine unendlich erscheinende Zeit schwer gefallen. Sie durfte daraufhin lange nicht mehr jagen gehen. Seitdem mied sie diese Tiere, wo es nur möglich war. Wo andere Mädchen früher davon schwärmten ein eigenes Pferd zugelost zu bekommen, träumte Rainn stets davon eins von ihnen zu jagen und auszunehmen. Sie war noch nie das klassische Mädchen, was kein Wunder ist, wenn man von einem Menschen, wie ihrem Vater, aufgezogen wurde.
Würde sie sich nun nicht in einer grundsätzlich schwierigen Verhandlungsposition befinden, hätte sie vielleicht eine Szene gemacht und noch mal darum gebeten sie einfach zurück zu lassen. Doch Rainn weiß ganz genau, wie sinnlos dieser Versuch wäre und daher spielt es schon fast keine Rolle mehr, dass man sie schlussendlich zwingt, auf einem fuchsroten Monster aufzusteigen. Da sitzt sie schließlich versteinert, bis Selena das Zeichen zum Losreiten gibt.
Als Rainn spürt, wie sich das gewaltige Tier unter ihr zu bewegen beginnt, zuckt sie zusammen und reißt an den Zügeln, die sie bislang mehr als Attrappe in den Händen hielt. Das Pferd reagiert, indem es schnaubend den Kopf hochwirft, und stehen bleibt.
Conor, der hinter ihr auf seinem Pferd sitzt, taucht neben ihr auf und mustert ihre verkrampfte Haltung von unten nach oben. „Ist nicht so dein Ding, hm?“
„Was du nicht sagst“, schnauzt sie gereizt zurück.
„Pferde sind Herdentiere. Solange wir’s im Griff haben, wird nichts passieren.“
Rainn nimmt mit Anspannung im Körper wahr, dass das Pferd sich erneut in Bewegung setzt und sogar, trotz des leichten Abstieges, schneller wird, um wohl den Anschluss nicht zu verlieren. Als sie aufgrund des Abfalls im Sattel leicht nach vorn rutscht, lehnt sie sich mit Panik in den Augen schnell nach hinten. Sie sieht sich in Gedanken schon aufgespießt in einem der Feigenkakteen hängen oder aber mit aufgeplatztem Schädel auf den roten Sandsteinen.
„Wenn du ständig nur am Zügel ziehst, bleibt er stehen. Treib ihn mit den Schenkeln an“, sagt Conor neben ihr fordernd. Er scheint jede ihrer Bewegungen akribisch zu beobachten. Fast schon wäre es ihr lieber, wenn er nicht neben ihr reiten würde und sie somit nicht in diesem absoluten Schwächemoment erlebt. Selbst die gehässige Selena wäre ihr an ihrer Seite lieber und dazu bedarf es einiges. Doch diese schreitet entspannt ein paar Meter vor ihnen, scheint Conor zu vertrauen, dass er sie im Auge behält. Oder sie vertraut darauf, dass Rainn auf diesem Monstrum sowieso nicht weit kommen würde. Ein Vertrauen, dem Rainn nicht wirklich widersprechen kann.
Es ist vermutlich der Ablenkung auf dem Pferderücken zu verdanken, dass Rainn nicht damit zu kämpfen hat, sich permanent im Sattel umdrehen zu müssen. Die Biosphäre liegt hinter dem Hügel. Sie würde sie vermutlich nicht einmal sehen, so wie sie aus der Biosphäre hinaus auch nicht weiter blicken konnte. Sie fühlt trotzdem dieses anhaltende, ekelhafte Gefühl im Magen, als würde etwas an ihren Gedärmen ziehen, sie zurückhalten wollen. Sie konnte sich nicht einmal richtig verabschieden, sehen wie die Biosphäre in ihrem Nacken immer kleiner wird. Aber das ist in Ordnung so. Rainn ist nicht der Typ für Abschiede, die sie schwach und traurig machen. Sie schluckt die Sehnsucht, so gut es geht, hinunter, die sich wie ein kleines, quengeliges Kind an ihrem Körper festkrallt.
Als das Gelände wieder gerader wird, beginnt sich Rainn nach und nach etwas zu entspannen. Milo läuft derweil zu Höchstformen auf. Er trottet mal vollkommen entspannt neben ihr her, sprintet dann im nächsten Moment davon, als hat er etwas Interessantes entdeckt, das es zu erforschen gilt. Und vermutlich ist das auch so. Hier mit ihm zu jagen wäre sicherlich nicht anders, als in ihrem heimischen Wald. Er würde Fährten aufnehmen, sie jagen, genau so, wie sie es auch Zuhause tun würden. Und trotzdem wäre alles ganz anders. Ob sie lernen könnte auf dem Pferd zu jagen? Sie wäre definitiv schneller, was in dieser weitläufigen Steppe von Vorteil sein könnte. Sie späht wieder zu dem Tier unter ihr.
„Hat er einen Namen?“, fragt sie Conor und deutet zu der rostbraunen Mähne hinab, die munter beim Laufen hin und her wippt.
„Mhm.“ Die Frage bestätigt er mit einem Nicken und zusammengekniffenen Augen, die anstatt zu ihr nach vorn sehen. Dann blickt er zu ihr hinüber. „Pferd.“
Rainn sieht ihn zunächst perplex an, weil seine Miene dabei so ernst ist, doch als er von ihr wegsieht und sein Mundwinkel zuckt, muss auch sie schmunzeln. „Hast du gerade einen Witz gemacht? Dass ich das nochmal erleben darf! Bei meinem aktuellen Glück verratet ihr mir vielleicht auch, wo es eigentlich hingeht.“
„Wird nicht passieren.“ Er ist nun wieder der alte, ernste Conor, wie sie ihn am Tag zuvor auch kennenlernte.
„Warum?“
„Du denkst zwar hier freiwillig dabei zu sein, aber die Wahrheit ist, dass du’s nicht bist. Egal, was du glaubst.“ Rainn ist froh, dass das Tier auch weiterläuft, obwohl sie nichts weiter tut als Conor daraufhin anzustarren. Er spürt ihren Blick und sieht nur kurz zu ihr hinüber, als würde ein einziger Blick von ihm schon zu viel preisgeben.
Sie darf sich nicht täuschen lassen. Selena ist weder nett, noch verständnisvoll. Ihre Wange schmerzt noch immer von ihrem Schlag, auch wenn Gewalt wohl grundsätzlich zu ihrer Argumentationsform gehört. Wieso nur hat sie dann keine Angst davor mit ihnen zu gehen? Weil sie viel zu neugierig auf diese Welt ist, in der sie zwar geboren wurde und aufwuchs, aber die sie in ihrer Größe und Fülle nicht einmal ansatzweise begreifen kann. Sie lebt in dieser Welt und kennt sie nicht einmal.
Vielleicht ist es aber auch Conor an ihrer Seite und all das, was er durch Blicke und Anwesenheit auszulösen im Stande ist. Eine gewisse Ruhe, eine Gerechtigkeit, auf die sie vertraut. Auch wenn das absurd ist. Sie kennt ihn nicht einmal annähernd, weiß rein gar nichts von ihm.
Sie reiten durch die staubige Wüste Arizonas einen Moment schweigend nebeneinander her, während die Mittagssonne allmählich auf ihren Schultern brennt. Es ist ein eigenartiges Gefühl. Rainn hat sich immer gefragt wie schmerzhaft ein Sonnenstrahl auf der Haut ist. Sie hielt die Sonne immer für gefährlich, für schmerzbringend und auch, wenn sie wie winzige, zahlreiche Gewichte auf ihrer Haut drückt, ist es ein wohliges Gefühl. Rainn beginnt stark zu schwitzen, schält sich aus ihrer Wildlederjacke, die sie vor sich auf den Sattel legt und richtet ihr Gesicht mit geschlossenen Augen zum Himmel. Die Sonne wärmt ihre Wangen, selbst die Augenlider und als der seichte Wind aufkommt ist es fast, als würde sie sie streicheln. Rainn glaubt sogar die Sonne zu riechen, auch wenn sie es kaum definieren kann. Wie riecht schon Wärme?
„Ich bin sicherlich nicht der nächste“, sagt Conor plötzlich aus dem Nichts heraus. Rainn sieht überrascht zu ihm hinüber und zweifelt im nächsten Moment daran, dass er überhaupt etwas gesagt hat. Seine Miene ist unberührt. Die Sonne scheint ihm mitten ins Gesicht und außer, dass das seine Gesichtszüge verkrampfen lässt, ist da keine Regung in seinem Körper. Er sieht starr geradeaus.
„Was meinst du damit?“ Er nickt mit dem Kopf nach vorn in Selenas Richtung und Rainn begreift, dass er sich damit auf ihre Unterhaltung am Lagerfeuer bezieht, als Selena mit Flint beschäftigt war. „Ich wollte damit nicht andeuten, dass …“
„Nein“, sagt er unterbrechend. „Es wird einen Nächsten geben und dann noch einen und so weiter. Und das wird nicht mehr Flint sein. Ich werd’s nur auch nicht sein und damit vermutlich der einzige Mann bei uns, der sie noch nicht gevögelt hat.“
Rainn traut sich gar nicht nachzufragen. Sie weiß auch, dass das nicht nötig ist. Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen und lässt sich einen Augenblick Zeit, bis er weiterspricht. „Weil sie meine Schwester ist.“
6. Kapitel
Am dritten Abend sitzen sie gemeinsam um das Lagerfeuer, essen gekochten Feigenkaktus und rösten die Wurzel der Agave im Feuer. Rainn hat ihnen mittlerweile entlocken können, dass ihr Weg sie in Richtung Norden führt und sie in etwa fünf Tagen ihr Ziel erreicht haben werden. Fünf weitere Tagesmärsche auf dem Rücken dieses Höllentieres. Ihr Hintern schmerzt so sehr, dass sie vor dem Lagerfeuer auf dem Bauch liegt und an dem Fleisch des Kaktusblattes nagt, der ihr mittlerweile aus den Ohren heraus hängt. Der erste Bissen, vor drei Tagen, war gar nicht so übel gewesen. Säuerlich herb und bei den drückenden Temperaturen sogar etwas erfrischend. Da war es auch gar nicht so schlimm gewesen, dass sie sich bei der Zubereitung sämtliche Finger an den Stacheln aufriss. Erst nach dem vierten oder fünften Stück begann es in ihrem Magen zu rumoren. Der Kaktus schmeckte allmählich nach dem, was er auch ist; eine Pflanze. Nach bitterem Gras. Nach dem sechsten Stück am gestrigen Abend meldete sich zum ersten Mal der Würgereiz, trotz zuvor leerem Magen. Heute kann sie das Stück in ihren Händen kaum zum Mund heben, ohne, dass sämtliche Abwehrkräfte in ihrem Körper aktiviert werden.
Nicht zum ersten Mal bittet sie Selena am heutigen Tag darum, mit Milo jagen gehen zu dürfen, damit sie sich abends wenigstens einen Hasen grillen können. Doch sie scheint ihr noch immer nicht zu vertrauen. Selena und die anderen tun auch nichts, um das fehlende Vertrauen allmählich aufzubauen. Man fragt sie nicht einmal, warum sie überhaupt aus der Biosphäre 5 geflohen ist oder wie ihr Leben dort war. Und immer wenn sie ihre Begleiter nach ihrer Heimat befragt, bekommt sie entweder einen Spruch reingedrückt oder eine ausweichende Antwort. Es ist frustrierend und zermürbend, auch wenn sie ihr die Neugierde nicht vollkommen nehmen können. Rainn beobachtet die Gruppe ganz genau. Sie scheinen für das Überleben in der Wildnis wie geschaffen zu sein. Sie wissen, welche Pflanzen man essen kann und welche nicht. Conor findet in den Hügeln irgendwo immer Wasser, wenn Rainn glaubt, dass es in der staubigen Umgebung nicht mal einen Tropfen gibt. Erst zu diesem Zeitpunkt fällt ihr auch auf, dass die Klamottenfetzen, die sie am Körper tragen, auch ihren Sinn haben. Es sind Lagen voller Stoff, die sie am Tag nach und nach ausziehen, ohne sich der reißerischen Sonne vollkommen zu offenbaren. Rainn hingegen trägt ihre Wildlederjacke während der Nacht und ihr Leinenhemd am Tag. Ihre schwarze Lederhose fühlt sich tagsüber an, als würde sie mit ihrer Haut verschmelzen, so heiß werden ihre Oberschenken auf dem Pferderücken. In der Nacht jedoch friert sie manchmal so stark, dass ihre Zähne lautstark aneinanderschlagen. Wenn es einer ihrer Begleiter hört, dann ignoriert er es gekonnt.
Rainn beschwert sich nicht darüber, so wie sie sich über kaum etwas beschwert. Sie flucht höchstens mal leise vor sich her. Sie möchte Selena keinen Grund geben, sie als das verwöhnte Mädchen aus der elitären Blase abzustempeln, für das sie sie sowieso hält. Also erträgt sie die Hitze und die Kälte, schluckt den bitteren Kaktus hinunter und putzt sich die Zähne notdürftig mit Wasser und Sand, wenn niemand hinsieht. Und was den Geruch angeht? Eigenartigerweise wird dieser größtenteils von dem süßlich-bitteren Geruch der Pferde übertüncht. Ein Gestank, den Rainn am dritten Tag schon fast nicht einmal mehr wahrnimmt.
Rückblickend ist der Zusammenstoß mit Selenas Gruppe dennoch das Beste, was ihr passieren konnte. Auch wenn sie immer noch keinen Schimmer hat, was man von ihr will und Conors bedrohliche Worte weiterhin durch ihre Gedanken wabern. Aber die Anwesenheit der andere Menschen um sie herum lenkt sie ab und lässt sie an einem faszinierenden Leben teilhaben, welches sie bislang nicht für möglich hielt. Es lässt sie zudem die klaffende Wunde verdrängen, die der Verlust ihrer Familie in ihr hinterlassen hat und die sie ebenso ignoriert, wie die körperlichen Strapazen der Reise.
„Ich kotze gleich.“ Rainn stöhnt nach dem letzten Bissen und wirft den Rest der Kaktusfrucht ins Feuer.
„Ist auch nicht gerade die gesündeste Esshaltung“, entgegnet Conor, ohne von der Frucht in seinen Händen aufzusehen, die er eben noch bis zur Hälfte so gierig verschlang, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen. Anschließend wischte er sich schnaufend mit dem Handrücken den Mund ab und starrt seitdem auf die verbliebenen Reste zwischen den Fingern. Er wirft seine Reste ebenfalls in die lodernden Flammen, sieht kurz zu ihr hinüber und Rainn erkennt sehr wohl das Funkeln in seinen schmalen Augen, als er das sagt. Ein Funkeln, das nicht nur von dem Licht des Lagerfeuers kommt. Schatten tanzen über seine Gesichtszüge und in dem flackernden Schein wirkten seine Wangenknochen noch höher, die Kieferknochen noch breiter. Er hat keins dieser langweiligen Gesichter, die man nach dem ersten Hinsehen schon wieder vergisst. Er ist kantig und nicht das, was man unbedingt als Schönling in der Biosphäre bezeichnen würde. Doch je öfters sie ihn ansieht, umso mehr Kleinigkeiten fallen ihr auf. Wie die kleinen, feinen Narben auf seinem Handrücken und seiner Schläfe, den Lederfleck an seiner Wange oder die Art wie er durch seine strähnigen Haare blickt, als würde er auf etwas lauern. Einzig sein Körper wäre wohl das, wonach sich die einfach gestrickten Frauen in ihrer Heimat ohne jeden Zweifel die Finger lecken würden. Rainn ertappt sich immer wieder dabei, wie sie ihn verstohlen mustert, wenn er in der Mittagszeit seine Klamotten neu ordnet.
Als sie ihn weiterhin anstarrt, runzelt er irritiert die Stirn. Sie hat noch immer nichts zu seinem Kommentar gesagt. Doch das muss sie im Grunde auch nicht, denn natürlich weiß er ganz genau, dass ihr Arsch schmerzt, als wäre sie da verprügelt worden, wie ein verzogenes Kleinkind. Sie hat die Schmerzen schon am zweiten Tag gespürt und seit dem etwas steifer auf dem Pferd gesessen. Jeder schnellere Gang führte zu einem verkrampften Gesichtsausdruck. Gesagt hat er bislang nichts dazu, sie nur immer beobachtet, wenn sie die Zähne fester aufeinanderbiss. Nicht einmal gegrinst hat er. Eine Regung, zu welcher er wohl nicht fähig zu sein scheint. Da ist nur dieses amüsierte Funkeln in seinen Augen. So wie jetzt.
Sie ignoriert ihn und wendet sich Selena zu, die eng neben Flint sitzt und mit ihrer Hand seinen Oberschenkel entlang streicht. „Ernsthaft, du solltest mich morgen jagen gehen lassen. Das ist zu unser aller Wohl.“
„Ich soll dich mit deinem Köter und deinen Waffen außer unserer Reichweite lassen, meinst du? Die Sonne hat dir wohl die Hirnzellen verbrannt, meine Liebe.“
„Dann kommt eben jemand mit, mir egal.“
„Ja sicher.“ Sie lacht auf. „Du schießt einen Pfeil durchs Hirn und bist weg, dann hab ich dich verloren und einen Reisebegleiter weniger. Find dich damit ab noch ein paar Tage grün zu scheißen.“
Rainn hat sich schnell an Selenas derbe Aussprache gewöhnt. Aber auch wenn sie sich sicher ist, dass Conor nicht weniger ordinär ist und einfach nur weniger spricht als Selena, kann sie sehen, dass es ihm immer wieder missfällt, wenn seine Schwester so spricht. Oder Dinge tut. Wie das Ding, das sie jeden Abend tut. Sie braucht dafür nicht einmal ein Zelt, wie Rainn auf beschämende Art und Weise miterleben musste. Manchmal krallt sie sich Flint und zieht ihn hinter den nächsten Stein oder Busch, wenn sie gerade eine Pause einlegen. Rainn kann den beiden immerhin dankbar sein, dass sie es nicht direkt vor ihrer Nase treiben. Auch wenn sie sich niemals an die Geräuschkulisse und das peinlich berührte Schweigen von Conor gewöhnen wird. Was auch immer diesen Trieb bei seiner Schwester auslöst, ist definitiv nicht normal. Auch wenn Rainn von diesen Sachen im Grunde keine Ahnung hat, schon gar nicht wenn es um diese Wilden geht. Ihren Erfahrungen, was diese Dinge angeht, beschränken sich auf wilde Knutschereien mit Sawyer Sullivan hinter dem Generatorraum. Die theoretischen Erfahrungen stammen aus alten Büchern und Filmen und die Unsicherheit übertüncht sie stets mit dummen Sprüchen. Da es weder ihr noch Sullivan gestattet war ein Kind zu bekommen oder eine Ehe einzugehen, hatte sich das Thema für sie sowieso schnell, und ohne Bedauern, erledigt.
Doch sie versteht mittlerweile die stumme Abneigung in Conors Gesicht, wann immer sie sich mit Flint zurückzieht. Sie ist seine Schwester, verdammt! Sie muss doch wissen, dass das für ihn die Hölle ist, sie bei diesen Dingen so hautnah mitzuerleben. Allein die Vorstellung die Dinge, die sie die Menschen in Filmen hat machen sehen, bei Juniper zu sehen, lässt Rainn schütteln. Dabei haben Conor und seine Schwester nicht einmal das gleiche Geschlecht. So sehr es Rainn verstehen will, sie schafft es einfach nicht. Und so sieht sie auch an diesem Abend wieder verständnislos zu Selena, als diese sich erhebt und Flint einfach mit sich zieht.
„Ich geh Wasser holen“, brummt Conor und erhebt sich fast zeitgleich mit den beiden.
„Ich komm mit“, spricht Rainn schnell, beeilt sich ihm zu folgen und fängt dabei seinen missfälligen Blick. „Ich bleibe garantiert nicht hier, egal wie wenig du mich dabeihaben willst.“
Das quittiert er mit einem weiteren Brummen, was Rainn als Zustimmung deutet.
Es ist immerhin noch nicht so dunkel, dass sie den Weg den Hügel hinauf nicht finden. Rainn hat mittlerweile gelernt, dass es auf den Hügeln um sie herum häufig eine Wasserstelle gibt, an der sie Pferde tränken und die Vorräte aufstocken können.
„Irgendwann beißt sie ein Skorpion noch mitten in ihren nackten Arsch“, murmelt Rainn leise in die beängstigende Stille der Nacht hinein. Sie ist froh Conor an ihrer Seite zu haben, der mit der Dunkelheit und allem, was hier um ihn herum lebt, so gar keine Probleme zu haben scheint.
„Sie stechen.“
„Was?“
„Skorpione beißen nicht, sie stechen.“
„Danke für die Aufklärung, Schlaumeier.“ Rainn klettert neben ihm ein paar Felsbrocken nach oben, froh endlich auch mal ihre Beine und Arme benutzen zu können. Was auch immer geschieht, wenn sie an ihrem Ziel ankommen, sie wird ihren Hintern so schnell nicht wieder auf eins dieser Tiere schwingen.
Tatsächlich entdecken sie schon nach wenigen Metern einen plätschernden Wasserlauf, der sich aus einem der angrenzenden Canyons speist. Er ist nicht tief, aber die grüne Vegetation um ihn herum deutete immerhin darauf hin, dass er hier schon länger munter vor sich her plätschert. Das helle Mondlicht glitzert auf der bewegten Wasseroberfläche, wohingegen die restliche Dunkelheit des Bachs schwarz erscheinen lässt. Rainn hat sich an den Geschmack des Wassers hier erst noch gewöhnen müssen. Es schmeckt schmutzig, als wäre Erde und Sand darin, auch wenn es klar ist. Manchmal riecht es sogar muffig. Doch bei den heißen Temperaturen am Tag ist sie nicht wählerisch. Doch dieser Bach sieht so friedlich und klar aus, dass sie sich am liebsten für einen Augenblick hineinlegen würde. Gemeinsam schöpfen sie das Wasser ab und füllen das Plastikfass damit. Es ist mittlerweile so dunkel, dass sie Conor nur noch schemenhaft vor sich knien sieht. Sie weiß nicht genau was es ist, aber seine Silhouette bringt ihr eine innere Ruhe. Und diese Ruhe ist auf eine wohltuende Weise ansteckend. Er versprüht nicht die rohe, brutale Stärke, wie Flint, sondern eine Stärke, die erst beim genaueren Hinsehen zu erkennen ist. Und wenn man sie einmal entdeckt hat, war es schwer sich ihr wieder zu entziehen.
„Wieso wollt ihr nichts von mir wissen?“, fragt sie ihn in einem Moment der Stille. Seine Hand stockt kurz in der Bewegung, bis er sich kratzig räuspert und weiter das Wasser mit einer Kelle in das Fass schöpft. Er antwortet nichts darauf, was zu dem passt, was sie schon die Tage zuvor bemerkte. Absolutes Desinteresse an ihrer Person. „Ich meine, interessiert es euch kein bisschen, warum ich weg bin?“
„Wirst deine Gründe haben“, antwortet er knapp.
„Ehrlich? Mehr nicht? Ihr schleppt mich all die Meilen mit euch, verschont sogar meinen Hund und gebt ihm euer bestes Essen. All die Mühe und dann interessiert euch echt nichts, was meine Person betrifft?“
Er erhebt sich ruckartig und schüttet den erbärmlichen Rest aus der Kelle in das Fass zurück. Anstatt auf ihre Worte auch nur ansatzweise zu reagieren, verschließt er das Fass mit dem Drehverschluss und hebt es mit einem Schnaufen an.
„Hey! Ich rede mit dir!“, ruft sie aufgebracht und springt mit einem Satz über den Wasserlauf, blockiert seinen sicheren Weg hinab. Im Mondlicht sieht sie wie seine Gesichtszüge sich verhärten, aber Angst hat sie vor ihm keine. Vielleicht sollte sie das haben, doch tief drin ist sie sich sicher, dass er ihr nichts tun wird. Egal wie naiv das klingen mag.
„Nur weil du Bock hast zu quatschen, muss ich das auch? Ich wollte dich hier oben gar nicht haben!“, sagt er gereizt.
„Ich will’s nur verstehen.“ Sie hasst sich dafür, dass ihre Stimme beinahe nach einem Flehen klingt.
„Da gibt’s nix zu verstehen. Das Leben, dass du geführt hast, ist vorbei, raffst du das nicht? Es ist scheißegal, was du vorher getrieben hast, wie dein Leben ausgesehen hat, ob dein Daddy dir keinen Gutenachtkuss gegeben hat und du deswegen abgehauen bist. Das juckt keinen einzigen Mensch auf dieser kaputten Welt, kapiert?“, brüllt er nun fast.
Rainn steht wie versteinert vor ihm, weil sie ihn noch nie so außer sich gesehen hat. Vor allem aber, weil sie nicht glaubt, dass er jemals überhaupt so emotional sein kann. Schon gar nicht, wenn sie der Grund für seinen Ausbruch ist. Sie hat ihn gereizt, ihn zu einer Reaktion getrieben. Sie ist nur überrascht, dass es diese Reaktion ist. Aber vielleicht ist er der Typ Mann, dem es leichter fällt wütend zu werden, anstatt über seine Gefühle zu sprechen. Denn, dass da mehr in ihm ist, spürt sie in jeder Sekunde, in der er sie ansieht. Manchmal, wenn er glaubt, dass sie es nicht bemerkt. Sie erkennt in seinem Blick eine Form des Mitleids und eine Abneigung. Nicht gegen sie, sondern gegen die Tatsache, dass sie sie mitnehmen. Wohin auch immer. Wenn er nun behauptet, dass sie ihn nicht interessiert, dann weiß mit felsenfester Überzeugung, dass das gelogen ist. Vermutlich interessiert er sich schon zu sehr für sie und das ist das eigentliche Problem. Weil das, was ihr bevorsteht, offensichtlich nichts Gutes ist.
Er erkennt die Zweifel über die Ehrlichkeit seiner Worte in ihrem Gesicht, was nicht unbedingt zu einer Besserung seiner Laune beiträgt. Grob stößt er sie beiseite, sodass sie einen Schritt nach hinten taumelt und ihm sprachlos hinterher sieht. Er hievt das Fass auf den Rücken und stampft wortlos davon.
Wenn Rainn bislang Spaß an dem Ausflug hatte, dann ist dieser fortan vorbei. Conor ignoriert sie ganz offensichtlich und reitet immer eine Pferdelänge hinter ihr. Wenn sie mal seinen Blick kreuzt, ist da wieder dieser wütende Schatten in seinem Gesicht. Es bestärkt sie nur weiterhin in der Annahme, dass er jetzt wohl versuchen muss Abstand zu ihr zu gewinnen, damit ihm das, was mit ihr geschehen wird, nicht so schwer fällt. Das oder er ist einfach ein riesiges Arschloch. Was durchaus im Bereich des Möglichen liegt.
Unter den Stimmungsumschwung mischt sich irgendwann auch der richtige Hunger, der selbst an Milo nicht spurlos vorbei geht. Von seiner Anfangseuphorie ist nur noch wenig übrig geblieben. Er hinkt immer mehr hinterher, sodass Rainn langsamer reitet, um Rücksicht auf ihn zu nehmen. Etwas, was den anderen mit Sicherheit sauer aufstößt, doch es scheint ihnen kein Kommentar wert zu sein. Selbst die Foppereien von Selena in Rainns Richtung, hören am siebten Tag vollständig auf. Sie zieht Flint auch nicht mehr hinter den nächsten Busch, als würde ihr selbst dazu die letzte Kraft fehlen. Und dabei ist Rainn so erschöpft, dass sie das nicht einmal groß kratzen würde.
Am achten Tag bleibt Milo kraftlos auf dem Weg liegen. Er atmet schwer auf dem sandigen Untergrund, als wäre ihm die letzte Puste ausgegangen. Rainn stoppt sofort, springt von dem Pferd und rennt die letzten Meter zu ihm zurück. Es ist ihr mittlerweile egal, was sie mit ihr anstellen werden, sobald sie ankommen, wenn sie denn nur endlich ankommen. Milo hechelt schwer, hebt träge seinen Kopf, als Rainn neben ihm in die Hocke geht und über sein nasses Fell streicht. Die ständige Sonne ist zu viel für ihn, trotz der Pausen, trotz des Wassers, welches sie glücklicherweise genug haben. Sie vernimmt Hufschritte hinter sich und sieht wie Conor sich auf seinem Pferd nähert.
„Lass ihn da. Er ist die Mühe nicht wert!“, ruft Selena hämisch von hinten. Eine Welle der Wut kocht in ihr hoch und mischt sich mit dem ganzen Frust und Schlafmangel der letzten Tage. Rainn erhebt sich ruckartig, als Conor sich blitzartig von seinem Pferd schwingt. Er bekommt sie an ihrer Hüfte zu packen, als sie gerade auf direktem Weg zu Selena ist, um dort ihre Wut rauszulassen.
„Fick dich, du Miststück!“, brüllt Rainn stattdessen in ihre Richtung, während Conor sie noch immer festhält. Er muss dabei aber all seine Kraft aufbringen, weil sie wie wild um sich schlägt und immer wieder versucht nach vorn zu kommen.
Sie sieht Selena im Hintergrund schallend auflachen und das stachelt sie nur noch mehr an. Bis sie Conor Stimme nah an ihrem Ohr hört. „Wir haben ´ne Decke und Gürtel dabei, binden ihn einfach auf das Pferd. Beruhig dich erst mal.“
Sie schnauft noch immer wutentbrannt und es dauert einen Augenblick, bis sie Conors Worte versteht. Sie braucht hierbei ihre Hilfe, ansonsten wird Milo die Tour nicht überleben. Scheiße, wieso ist er nicht einfach Zuhause geblieben? Langsam sieht sie zu Conor auf. Er nickt bestimmt, um seine Worte zu untermauern. In dem Sonnenlicht und auf diese Nähe, erkennt sie erstmals, dass seine Augen ein tiefes Blau haben, wie der Nachthimmel, bevor es allmählich graut. Es fühlt sich an, als hätte er dieses Geheimnis gehütet, wie all die anderen Dinge, die sie nicht über ihn weiß. Für einen kurzen Augenblick hat sie das Gefühl, dass er ihr damit das erste Bisschen von sich preisgegeben hat. Es fühlt sich eigenartig an. Gut, aber gleichzeitig macht es ihr auf unerklärliche Weise Angst. Rainn erwidert sein Nicken erschlagen. Conor lässt sie wieder los und joggt, ohne zu Zögern, zu Selena und Flint, um sich an deren Satteltaschen zu schaffen zu machen. Sie hört Selena wild auf ihn einreden, hört aber ebenso, wie er ihr Gezeter mit einer stoischen Ruhe ignoriert. Rain schmunzelt. Das ist definitiv eine seiner Eigenschaften, die ihnen gerade sehr gelegen kommt.
„Okay, wir müssen ihn darauf fixieren. Am besten eingewickelt in die Decke, damit er sich nicht freistrampeln kann.“ Conor beginnt schon aus einiger Entfernung laut mit Rainn zu sprechen. Gemeinsam machen sie sich an die Arbeit Milo in die Decke einzuwickeln. Dieser bietet erschreckend wenig Gegenwehr. Conor trägt ihn, wie ein Baby in den Armen, zu einem größeren Felsen, von dem aus sie ihn sicher auf das Pferd hieven können. Mit Gürteln, Seilen und Kordeln fixieren sie ihn so fest auf dem Sattel, dass er sich kaum noch bewegen kann. Lediglich ein leises Winseln ist zu hören, als Rainn ihre Lippen kurz auf seine kühle Schnauze presst. Anschließend sieht sie zu Conor, der sie verstohlen beobachtet.
„Wie lange ist es noch?“
Und zum ersten Mal beantwortet er ihre Frage, ohne zu Zögern. „Nicht weit, vielleicht noch zwanzig Kilometer.“
„Das schafft er.“ Sie nickt fest entschlossen. Conor presst die Lippen zusammen und wippt mit dem Kopf auf und ab. Noch bevor er sich abwenden kann, packt sie ihn kurz an seinem Handgelenk und zwingt ihn sie noch mal anzusehen.
„Danke“, haucht sie und hofft, dass er spürt, wie ernst es ihr damit ist. Seine blauen Augen verschwinden daraufhin wieder in der Dunkelheit seiner verschlossenen Gefühlswelt. Er zieht wortlos sein Handgelenk aus ihrem Griff und trottet zurück zu seinem Pferd. Rainn folgt ihm, hält die Zügel ihres Pferdes dabei in der Hand. Sie wird notfalls den ganzen Weg laufen. Das ist ihr egal. Hauptsache Milo übersteht das.
„Ihr habt echt ´n Vogel.“ Selena schüttelt den Kopf.
„Sagt die, die sich jeden Abend durchknallen lässt wie eine billige Schlampe.“ Rainn presst diese Worte unter angehaltenem Atem hervor, glücklicherweise so leise, dass Selena davon nichts mitbekommt. Conor, der etwa zwei Meter vor ihr läuft, jedoch schon. Er sagt nichts, aber sie erkennt, dass er es sich gerade so verkneift ihr einen Blick über seine Schulter zuzuwerfen.
So legen sie ihren Weg weiter fort. Rainn versucht mit den langen Schritten der Pferde mitzukommen, fällt aber schon bald zurück. Schweiß läuft ihr in Bächen den Rücken entlang und in ihre Augen hinein, die daraufhin brennen und alles vor ihr verschwimmen lassen. Immer wieder sieht sie nach Milo und stellt zufrieden fest, dass er so festgeschnürt verflucht missmutig aussieht. Er versucht sich in unregelmäßigen Abständen energisch frei zu strampeln. Wenn er dazu noch in der Lage ist, dann kann es ihm nicht so schlecht gehen, wie angenommen. Doch die letzten Kilometer werden stattdessen für Rainn zur Qual. Ihre Füße beginnen von der Hitze unter ihr zu brennen. Sie macht immer größere Schritte, den Blick verbissen zu Boden gerichtet. Immer wieder kommt sie ins Stolpern. Manchmal über Steine, manchmal aber auch einfach nur über ihre eigenen Beine, die kaum mehr die Kraft finden die Füße richtig anzuheben. Als sie ein weiteres Mal stolpert, knickt sie zur Seite weg und kann sich, gerade noch rechtzeitig, mit einem Stöhnen am Hals des Pferdes festhalten.
„Scheiße, das kann ja kein Mensch mitansehen“, brummt Conor irgendwann neben ihr ungehalten. Dann richtet er sich im Sattel auf. „Stopp!“
Selena fährt wie von einer Tarantel gestochen herum. „Wollt ihr mich jetzt vollkommen verarschen? Wenn der Köter nicht bald tot ist, dann bringe ich ihn eigenhändig um.“
„Davor stirbt aber noch jemand anderes“, sagt Flint neben ihr nachdenklich und nickt zu Rainn hinüber, die schwer atmend und schweißüberströmt ebenfalls stehen geblieben ist. Wenn sie könnte, würde sie erneut auf Selena losgehen oder zumindest aber etwas zurückbrüllen, doch selbst dafür fehlt ihr jede Kraft. Der Stillstand führt nur dazu, dass der Boden unter ihren Füßen langsam schwankt.
Erneut ignoriert Conor die Wutanfälle seine Schwester und steigt von seinem Pferd. Er deutet Rainn mit einem Kopfnicken an ihm zu folgen und das tut sie ohne zu murren, weil ihr sowieso keine Kraft mehr für etwas anderes bleibt. Etwas abseits der freien Fläche befindet sich erneut ein Felsen, vor dem er sein Pferd platziert. Die Zügel von Rainns Pferd befestigt er an dem Sattelgurt seines Tieres.
„Was … soll das?“, fragt Rainn mit schwacher Stimme.
„Steig auf.“ Sein Befehlston lässt keine Widerworte zu, als er auf sein Pferd deutet.
„Das … geht schon.“
„Ich diskutier nicht mit dir. Du treibst uns hier alle in den Wahnsinn und wenn du jetzt nicht machst, was ich dir sage, wird Selena in den nächsten Minuten deinem Köter die Kehle durchschneiden. Willst du das?“
Rainn fehlt jeder Elan, um mit ihm zu streiten und ihr Kopf besteht sowieso nur noch aus einer heißen, breiigen Masse, sodass sie keine Ahnung hat, was überhaupt aus ihrem Mund kommen würde, wenn sie ihn öffnet. Also gehorcht sie anstandslos und zieht sich mit Conors Hilfe auf sein Pferd.
Auch als er ein unfreundliches „Rutsch vor“, brummt, widerspricht sie nicht, sondern tut, was er ihr sagt, ohne weiter darüber nachzudenken. Conor klettert auf den Stein und schwingt sich dann mit einem Ruck hinter Rainn auf sein Pferd. Ohne auch nur zu zögern, umgreift er ihren Körper, um an die Zügel zu kommen und treibt sein Pferd im strammen Schritt zurück zu den anderen.
Rainn fühlt sich noch immer zu schwach, um irgendwas zu tun, schließt nur kurz die müden Augen und als sie sie wieder öffnet, entgeht ihr nicht Selenas finsterer Blick. Sie sieht ihrem Bruder einen Augenblick hinterher, ehe sie ihr Pferd ebenfalls antreibt.
„Das hätte wir schon früher machen sollen“, haucht Rainn genießerisch als sie ihren Oberkörper leicht zurückfallen lässt und der Kopf an seine Schulter sackt, die Augen dabei geschlossen. Sie fühlt nur noch das einschläfernde Ruckeln des Pferdes unter ihr und die warme, so gemütliche Lehne in ihrem Rücken. Für einen Moment vergisst sie tatsächlich wo sie ist, was mit Milo hinter ihr geschieht. Sie ist für einen kurzen Augenblick nicht hier, sondern Zuhause in der Biosphäre. Sie feiert Weihnachten mit Juniper, jagt die kleine Ravi um den Küchentisch und erntet dafür einen strengen, aber so liebevollen Blick von ihrem Vater. Rainn bemerkt nur am Rande, wie sich dabei eine Träne aus ihrem Augenwinkel löst und ihre staubbenetzte Wange hinabläuft. Und dabei weint sie doch nie. Vielleicht ist es die menschliche Nähe, die sie von allen Seiten umschließt. Vielleicht ist es aber auch das Entspannen ihrer Muskeln, das Fallen lassen können, dass etwas in ihr auslöst.
Und vielleicht ist es auch Conors Anwesenheit, seine nervige Beharrlichkeit, die in all den Tagen, die sie nun unterwegs sind, die einzige Konstante für sie war.
Sie schläft schließlich in seinen Armen ein, bis Rufe sie wecken. Um sie herum dämmert es langsam. Die untergehende Sonne taucht die so fremd wirkende Umgebung in einen grellen rötlichen Schimmer, der es ihr schwer macht alles auf einmal zu erfassen. Die Steppenlandschaft, die sie die ganze Zeit über umgab, hat aufgehört und würzig duftende Pinienbäume schrauben sich stattdessen rechts und links in die Höhe. Die Sonne blitzt dann und wann zwischen ihnen hindurch. Am Ende des kleinen Trampelpfades ganz vorn, sieht sie schließlich eine schwarze, gerade Mauer vor sich in die Höhe ragen. Zunächst glaubt sie, dass sie direkt auf eine Sackgasse zureiten, aber je näher sie kommen, umso deutlicher erkennt sie, dass sich oben auf der Mauer Menschen bewegen. Sie zittert vor Anspannung und vor der einsetzenden Kälte der Nacht. Conor umgreift die Zügel vor ihrem Körper strammer, überkreuzte sie leicht, sodass der Griff seiner Oberarme um ihre Schultern ein wenig fester wird. Das Zittern lässt nach.
„Wir sind da“, raunt er leise. Seine Stimme vibriert durch sein Brustkorb bis zu ihrem Herz hindurch.
7. Kapitel
Rainn hat im Grunde keine Ahnung, was sie erwartete. Aber es muss etwas gewesen sein, denn sie ist ehrlich überrascht, als man ihnen das große Tor öffnet. Zunächst glaubt sie, dass es im Inneren nur so von Menschen wimmelt, weil die Größe der Stahlmauer diesen Eindruck vermittelt. Doch, obwohl es früher Abend ist, entdeckt sie nur sehr wenige Menschen. Es stehen sicherlich mehr Wachmänner mit langen Speeren auf der rostigen Mauer, als sich dahinter befinden.
Das, was jedoch tatsächlich dahinter ist, lässt sich zunächst schwer in Worte fassen, weil es für Rainn ein chaotisches Sammelsurium an fremden Eindrücken ist. Manche Hütten bestehen aus Wellblech, das seine besten Jahre schon hinter sich hat. Andere wiederum sind mit Holzbalken verkleidet oder aber vollkommen aus dicken Baumstämmen mit Gräsern und Plastikplanen darüber erbaut. Alles wirkt zusammengewürfelt und alt. Es rostet, schimmelt und überwuchert an einigen Stellen. Ganz im Gegensatz zur Biosphäre, wo alles stets weiß und silbrig leuchtet. Dort ist es hell und rein, wohingegen ihr erster Eindruck hier dunkel und schmutzig ist. Etwas weiter hinten knistert ein riesiges Lagerfeuer und ein paar Menschen sitzen auf Holzbänken davor, sehen neugierig zu ihnen hinüber.
Die Männer um sie herum brüllen ihnen freudig entgegen, ein paar derbe Sprüche prasseln auf sie nieder. Selena ist die Einzige, die lautstark darauf antwortet. Dann stoppen sie die Pferde rechts neben dem Tor vor einer rechteckigen Hütte, die etwa drei Mal so groß ist, wie die Hütten um sie herum. Sie ist an der vorderen Front komplett offen und ein Holzzaun zieht sich von da nach außen. Der Zaun begrenzt offensichtlich einen Pferdestall, in dem weitere Tiere friedlich beieinander stehen und ihr Ankommen unbeeindruckt zur Kenntnis nehmen.
Sie stehen kaum eine Sekunde, als Conor die Zügel loslässt und sich mit einer eiligen Bewegung von dem Pferd schwingt. Erst durch das Fehlen seines Körpers hinter ihr, begreift sie, dass er sie die ganze Zeit über gewärmt hat. Als die Wärme so plötzlich verschwindet, nistet sich stattdessen Enttäuschung ein. Conor löst seinen Rucksack vom Hintern des Pferdes, wirft ihn sich über den Rücken und trottet mit langen Schritten davon. Offensichtlich scheint er es nicht einmal für nötig zu halten, sich bei ihr zu verabschieden.
„Hey, Idiot!“, ruft Selena ihm hinterher, die sich ebenfalls vom Rücken ihres Pferdes gehievt hat. „Hilfst du uns nicht?“
„Bekommt ihr schon alleine hin“, erwidert er, ohne seine Laufgeschwindigkeit zu verringern. In nächsten Augenblick schon ist er hinter einer der Hütten verschwunden und vollständig außer Sichtweite. Rainn beobachtet Selena genau, deren grimmiger Ausdruck sich auch nicht wirklich bessert, als sie Rainns Blick auf sich spürt.
„Was ist, Goldfisch? Ist dein Arsch da jetzt festgewachsen?“, brüllt sie in ihre Richtung. Rainn verdreht die Augen und schwingt sich ebenfalls, bei weitem nicht so elegant wie Conor, von dem Pferderücken. Sie kommt mit einem leichten Rumsen auf dem Boden auf und hält sich noch kurz an dem Sattel fest. Ihre Beine fühlen sich an wie O-beiniger Brei. Die Schritte zurück zu dem zweiten Pferd taumelt sie mehr, als dass sie läuft. Milo hebt träge den Kopf. Er sieht wirklich erbärmlich aus in seiner Decke. Als hätte er tagelang ausschließlich verdorbenes Futter gefressen. Aber er lebt und hat es tatsächlich bis hier hin geschafft. Jetzt können sie sie einsperren und sonst was mit ihr anstellen. Rainn ist es gleich.
Sie löst die Gurte um seinen Körper, fängt seinen, zur Seite rutschenden, Körper vorsichtig in ihren Armen auf und legt ihn sanft auf dem Boden ab, wo sie ihn aus seiner Decke befreit. Er bleibt dennoch liegen und versucht sich einen kurzen Moment in eine aufrechte Position zu kämpfen, aber ist dafür noch immer zu schwach.
„Siehst du das Gebäude da drüben mit den Kräutern davor?“ Selena erscheint an ihrer Seite. Rainn folgt ihrem ausgestreckten Finger zu einer kleinen Hütte, die aus Holzbalken erbaut wurde und sich direkt an der Metallwand befindet, die das gesamte Lager umzäunt. Schwaches Licht schimmert zwischen den Balken hindurch, beleuchtet zahlreiche umgedreht hängende Kräuter, die vom Dach hinab baumeln. „Frag nach Willow und nimm den Köter mit.“
„Was? Du lässt mich tatsächlich hier ganz alleine umher spazieren und das ganz ohne Wachen?“, fragt Rainn mit sarkastischem Unterton, während sie sich wieder aus ihrer Hocke erhebt und somit fast auf Augenhöhe mit Selena ist. Diese starrt sie aus ihren schwarz umrandeten Augen mit genervtem Blick an.
„Du kannst gern versuchen von hier zu entkommen, Kleine. Kletter schön die Mauern hoch wie ein Äffchen, wenn du dich traust.“ Sie deutet auf die große metallische Mauer. „Die Wachen erschießen dich im Sekundenbruchteil, so viel steht fest. Und selbst wenn du’s rausschaffen solltest, erledigt die Wildnis den Rest. Du hast echt keinen Schimmer, wie die Welt hier draußen tickt, wäre also verdammt schlau, wenn du tust, was wir dir sagen.“
„Und wärst du auch so freundlich mir zur Abwechslung mal zu sagen, was ich tun soll? Was ihr eigentlich von mir wollt?“
Selena schnaubt amüsiert auf und lehnt sich wieder von Rainn weg. „Schlaf dich heute Nacht gut aus, damit du morgen besonders hübsch funkelst, kleiner Goldfisch.“
Mit diesen Worten und einem lasziven Hüftschwung dreht sich Selena von ihr ab und beginnt damit die Pferde abzusatteln. Rainn seufzt gequält auf und sieht ihr noch einen Augenblick hinterher, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Milo bündelt.
Sie schiebt vorsichtig ihre Arme unter seinen Körper und stemmt sich mit ihm langsam in die Höhe. Auf dem Weg zu der Hütte auf der anderen Seite spürt sie die neugierigen Blick der Bewohner auf sich brennen. Sie vernimmt das Tuscheln und Zischen und ignoriert es, so gut sie kann. Zumindest scheint das zu bedeuten, dass man hier nicht oft fremde Menschen sieht. Oder dass sie einfach nur nicht willkommen sind.
Die Holztür der Hütte ist nur angelehnt. Rainn stößt sie mit einem Hüftschwung seitlich auf und tritt vorsichtig ein.
„Hallo?“, ruft sie und sieht sich gleichzeitig um. Die Hütte ist kreisförmig gebaut worden, mit einem dicken Holzstamm in der Mitte, der das Konstrukt wohl an Ort und Stelle hält. Über ihrem Kopf ziehen sich zahlreiche kleiner Stämme im Kreis nach außen und bilden so das Dach, welches von außen noch mit Gräsern und Planen abgedeckt ist. Die Wände bestehen ebenfalls aus Holz, die gezimmerten Balken lassen einiges an Luft herein, was den lodernden Steinkamin in der einen Ecke sicherlich auch notwendig macht. Wenn es kalt wird, dann zieht es hier drin sicherlich ordentlich. Doch wird es hier überhaupt richtig kalt? In der Steppe in der Nacht wurde es das zumindest und sie befindet sich nun nördlich der Biosphäre. Norden heißt Kälte. Das weiß sie aus den zahlreichen Büchern der Bibliothek. Vielleicht gibt es hier im Winter Schnee und Eis. Rainn kennt Schnee und Eis aus der Gefrierkammer, doch die Vorstellung, dass das kalte Zeug vom Himmel fällt, auf der Haut brennt und schmilzt ist … überwältigend. Es verursacht für einen kurzen Moment ein Kribbeln in ihrem Magen. Vorfreude, erkennt sie fasziniert. Auf all das, was sie hier entdecken und erleben kann. All die Dinge, die sie ansonsten nur aus den Büchern kennt.
Ein rostiges Eisenrohr bohrt sich von dem Steinkamin in die Decke, das den Ruß so nach draußen entlässt. Doch auch ansonsten ist der Raum ziemlich vollgestellt. Zwei Betten mit Holzrahmen und Fellen, über welchen gelbliche, schmutzige Bettwäsche liegt. Einen großen Schrank mit zahlreichen Dosen, Flaschen und Gläser. Viele davon trüb oder gesprungen. Wie alt diese Sachen wohl sein mögen? Aus der Zeit vor den Kriegen oder sind die Menschen heute noch in der Lage diese Gegenstände herzustellen? In der Mitte des Raumes steht ein großer, grauer Holztisch, ohne Stühle und beleuchtet von zahlreichen Kerzen, die an dem tragenden Stamm in der Mitte befestigt sin
Fast hätte Rainn die alte Frau nicht einmal bemerkt, die in dem dunkelsten Teil der Hütte an einem großen Bücherregal lehnt und neugierig zu ihr hinüber späht. Oder vielmehr zu dem Hund, den Rainn in ihren Armen hält.
„Ich suche Willow“, erklärt sie.
„Du hast sie gefunden“, antwortet die Frau mit ruhiger Stimme und tritt aus dem Schatten heraus in die Mitte des Raumes. Rainn ist wirklich verdammt schlecht im Schätzen, aber sie vermutet, dass sie wohl um die fünfzig, vielleicht ein wenig älter, ist. Ihre einst dunklen Haare sind mit vielen weißen Strähnen durchzogen, die sie in einem Knoten auf dem Kopf bündelt. Sie trägt eine bodenlange, braune Tunika, die an der Hüfte mit einem schmalen Ledergürtel befestigt ist. Vielleicht ist sie auch älter, als zunächst gedacht, denn als sie lächelt, ist ihr Gesicht plötzlich von zahlreichen Falten durchzogen.
„Ich … soll hier herkommen … wegen meinem Hund.“
Die ältere Frau kommt näher, sieht skeptisch auf das Tier hinab. „Einen Hund habe ich hier noch nie behandelt.“
„Ist nichts anderes als bei einem Menschen, schätze ich.“
„Außer, dass er nicht spricht“, wendet die ältere Frau schmunzelnd ein und deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den großen Tisch in der Mitte des Raumes. Eine Aufforderung für Rainn Milo dort abzulegen, wie sie etwas verspätet bemerkt. „Was hat er denn?“
„Erschöpfung, vielleicht zu viel Sonne. Keine äußeren Verletzungen.“
„Viel trinken, sagt man da. Hat er denn viel getrunken?“ Die ältere Frau sieht fragend zu ihr, nachdem Rainn Milo auf den Tisch gehievt hat, wo er bewegungslos liegen bleibt. Er hebt nur winselnd den Kopf, sucht mit seinen Blicken nach Rainn, die beruhigend über seinen Kopf streichelt.
„Viel würde ich nicht sagen, aber er hat getrunken.“
„Na dann“, spricht Willow munter und macht sich an einem der Schränke zu schaffen und kramt dort eine große Metallschüssel hervor, die sie mit Wasser aus einer großen Plastiktonne füllt. Als sie diese Schlüssel vor Milo platziert, kämpft sich dieser tatsächlich hektisch auf die Vorderpfoten und vergräbt seine Schnauze tief in dem Wassernapf. Lautes Schlabbern erfüllt den Raum.
„Na, sieh mal einer an!“ Die alte Frau lacht zufrieden. „Du bist wohl einer der einfachen Patienten, was?“ Sie tätschelt seinen Rücken liebevoll, was Milo vollkommen unberührt zur Kenntnis nimmt, wenn er es denn überhaupt in seinem Trinkwahn bemerkt.
„Sind Sie die Ärztin hier?“
„Zunächst einmal bin ich einfach nur Willow und keine Sie, Kindchen.“ Sie kichert und entblößt einen Mundraum, dem schon einige Zähne fehlen. „Und dann haben wir das Wort Ärztin hier schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gehört. Ich kümmere mich einfach um die Menschen, um ihre Verletzungen und um ihre Sorgen manchmal auch.“
Rainn erwidert das Lächeln freundlich, woraufhin Willow sie einen Augenblick von unten nach oben mustert, als würde sie erst in diesem Moment begreifen, dass eigentlich eine vollkommen Fremde vor ihr steht. „Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Sie … du bist die Erste, die mich das fragt.“ Rainn schüttelt lächelnd den Kopf und zuckt dann achtlos mit den Schultern. „Es scheint, als wenn man mich hier unbedingt herschleppen wollte, aber im Grunde wenig Interesse an meiner Person hat.“
„Täusch dich nicht, Kleines.“ Der ruhige, freundliche Ton verschwindet so plötzlich aus Willows Stimme, dass ein eiskalter Schauder Rainns Rückgrat hinabkriecht. „Das Interesse an deiner Person ist sicherlich riesig. Der Tag wird kommen an dem du dir wünschst, dass es das nicht wäre.“
Rainn sieht sie einen Augenblick fragend an, doch Willow verrät ihr nicht mehr als diese schwammigen Worte. Es hätte sie auch wirklich stark gewundert, wenn die alte Frau in dieser Hinsicht anders wäre, als der Rest der Leute hier.
„Mein Name ist Rainn.“
„Schön dich kennenzulernen, Rainn.“ Willow lächelt warmherzig. „Du musst sicherlich erschöpft von der Reise sein. Die Hütte direkt neben dieser hier steht leer. Dort findest du ein Bett und auch einen Kamin, falls du frierst. Dein Hund sollte heute Nacht hier bleiben, damit ich später nochmal nach ihm schauen kann. Aber so wie ich das sehe, muss er sich nur einmal richtig ausschlafen und sollte schon bald wieder munter an deiner Seite umherspringen.“
Tatsächlich fällt ihr bei der Erwähnung von Willow auf, dass ihre Augenlider sich immer schwerer und schwerer anfühlen. Als würde eine stärker werdende Kraft ihre Augen zusammendrücken wollen. Obwohl sie die letzten Stunden, mit Conor im Rücken, wohl auch schon geschlafen hat, hat die unbequeme Haltung recht wenig zur Erholung beigetragen. Zudem kreisen ihre Gedanken unermüdlich um ihre aktuelle Situation. Es beginnt sie innerlich zu zermürben. All die Fragen, all die verwehrten Antworten. Sie will ihren Kopf nur noch abschalten. Sich von innen und von außen erholen.
Egal was morgen sein wird, für heute geht es Milo gut und sie wird sicherlich schlafen wie ein Stein. Alles zu was sie also im Stand ist, ist ein erleichterndes Kopfnicken, bevor sie Milo verabschiedet und sich von Willow zu der verlassenen Hütte bringen lässt.
Obwohl Rainn zwar schnell einschläft, schreckt sie mehrmals in der Nacht auf und sieht sich verwirrt in der fremden Umgebung um. Vielleicht liegt es daran, dass sie wieder auf einem richtigen Bett schläft, das dank zahlreicher Decken und Fellen sogar einigermaßen gemütlich ist. Denn obwohl das nicht ihre erste Nacht weit weg von ihrem Zuhause ist, hat sie das Gefühl hier das erste Mal wieder in der Biosphäre zu sein. Sie wacht in der Nacht auf, blinzelt in die Dunkelheit und glaubt, dass alles, was zuvor geschah nur ein Traum war. Dass sie gleich aufsteht, in den künstlich angelegten Wald läuft und die Fallen kontrolliert. Dann wird sie nach Hause gehen, mit ihrem Dad das Frühstück essen, das er aus dem Lager mitbringt. Sie wird nach Juniper sehen, mit Ravi Verstecken spielen und sie, wie jedes Mal, gewinnen lassen. Doch als sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnen, sieht sie nicht die Metallwand und die eiserne Tür ihres Zimmers vor sich, sondern eine hölzerne, einsame Hütte und einen ledernen, schweren Vorhang, der einen Spalt des Mondlichtes hineinfallen lässt. Langsam und schmerzhaft, als würde sich ein Messer mit quälender Freude in ihr Herz schneiden, sackt die Erkenntnis, dass sie ihre Familie nie wieder sehen wird. Dass das hier vermutlich nun ihr Leben ist. Ein Leben als Fremde, als die Person, die man herholte und hier gar nicht haben will.
Rainn weint nicht. Auch nicht in dieser Nacht, aber sie drückt ihr Gesicht in ihren Oberarm, dämpft das Schluchzen gewaltvoll und beißt die Zähne so fest zusammen, bis ihr Kiefer schmerzt und pocht. Und dann ebben die Gefühle ab und Rainn entspannt sich wieder so, bis ihr Körper langsam in einen schwachen Schlaf zurücksinkt.
Trotzdem schafft sie es auch dann nicht für lange zu schlafen. Sie sucht in dem Krankenzelt nachts nach Milo, nur um festzustellen, dass er sicher in der Hütte auf dem Behandlungstisch liegt und gleichmäßig atmet. Dann wieder träumt sie von Selena, Flint und Conor und fühlt tatsächlich so etwas wie Enttäuschung, als sich ihre Augen erneut aufschlägt und sie die drei nicht vor sich liegen sieht, so wie die letzten Tage. Sie hätte niemals gedacht, dass man sich so schnell an so schreckliche Menschen gewöhnen kann.
Dass sie aber tatsächlich irgendwann tief und fest schläft, wird ihr erst durch das abrupte Aufwachen am nächsten Morgen klar. Verursacht wird dieses durch das schwungvolle Aufschieben der Vorhangtür zu ihrer Hütte. Beißendes Licht frisst sich seinen Weg von der Tür bis zu ihrem Gesicht und explodiert da in ihren Augen, sobald sie sie öffnet. Durch einen Spalt zwischen ihren Augen sieht Rainn, wer sie da so unsanft weckte. Die Erkenntnis entlockt ihr ein mürrisches Brummen.
Selena steht breitbeinig wie ein Kerl im Türrahmen, die Hände vor der Brust verschränkt. So ganz ohne Schmutz und Staub im Gesicht, kommt man nicht umhin festzustellen, dass sie wirklich ganz ansehnlich ist. Auch wenn Rainn ihr das niemals sagen würde und Selena nicht wie der Typ wirkt, der solche Dinge gern hört. Sie trägt ein enges, ledernes Oberteil, das nur knapp unter den Brüsten endet und ihren flachen Bauch und die schmale Taille entblößt. Es liegt so eng an, dass sich oberhalb ihre Brüste hinausdrücken, als würden sie versuchen aus diesem Gefängnis zu entkommen. Da könnte Rainn sich wohl reinquetschen in was sie will. Ihre Brüste würden niemals auch nur ansatzweise so aussehen, wie die von Selena. Nicht, dass Rainn ihre mickrige Oberweite jemals störte. Zumindest bislang nicht.
Selenas Haut ist, im Vergleich zu den schwarzen Haaren, fast weiß. Den Dreadlock Zopf hat sie wohl frisch gewaschen und geflochten. Er wirkt noch dunkler, ohne den ganzen Staub und nicht ganz so wie ein explodiertes Vogelnest. Rainn erkennt an der ein oder anderen Stelle sogar bunte Perlen in ihren Haaren, die definitiv zuvor nicht dort gewesen waren.
Was jedoch schlichtweg nicht sauber zu kriegen ist, ist ihr schmutziges Grinsen, stellt Rainn resigniert fest.
„Hier drin stinkt’s wie in ‘nem Schweinestall.“ Selena tritt langsam herein und sieht sich abschätzig in der Hütte um, als würde sie sie zum ersten Mal überhaupt betreten.
„Komisch, muss passiert sein, als du reingekommen bist“, murmelt Rainn, als sie ihre Beine aus dem Bett schwingt. Ihr Körper bedankt sich mit einem Ziehen in jedem Muskel, der bis eben noch Winterschlaf hielt. Doch vermutlich hat Selena mit dem Gestank nicht Unrecht. Sie hat immerhin seit Tagen nicht mehr geduscht und das war zuvor vermutlich nur deshalb nicht aufgefallen, weil es den anderen nicht anders erging.
„Nicht, dass es mich juckt, wenn du stinkst, aber da du gleich Bekanntschaft mit Caldwell machen wirst, solltest du dich vorher vielleicht waschen.“
„Caldwell?“, fragt Rainn, als sie aufsteht und nach ihrem löchrigen, schwarzen Pullover greift, den sie über Nacht ausgezogen hatte, weil es unter der Felldecke doch recht warm geworden ist.
Selena beantwortet ihre Frage jedoch nur mit einem weiteren, überheblichen Grinsen, packt Rainn an ihrem Oberarm und zieht sie aus der Hütte raus in die grelle Sonne hinein. Rainn späht mit halb zusammengekniffenen Augen nach oben. Sie kann kaum erkennen wo die Sonne steht, so sehr sticht sie brutal in ihren Augen und lässt ihren Schädeln wummern. Es muss schon später Vormittag sein, stellt sie schließlich fest. Sie muss verflucht lange geschlafen haben und trotzdem fühlt sie sich matschig und unausgeruht. Was auch nicht besser wird, als Selena sie rücksichtslos hinter sich her zieht. Sie schlägt jedoch nicht den Weg zu dem Platz hin ein, wo Rainn am Abend zuvor das Lagerfeuer entdeckte, sondern zur Mauer. Dort wo Rainn nun einen riesigen Tank stehen sieht, der sicherlich drei bis vier Meter hoch ist. Von oben führt ein dicker, an zahlreichen Stellen geflickter, Schlauch über die Mauer nach draußen. Wohin auch immer.
Hinter dem Tank, angrenzend zu der rostigen Metallwand, die das Gebiet auch hier begrenzt, hängt auf Kopfhöhe ein Zapfhahn an der Tankwand. Drum herum schützen dünne Decken die Menschen dort vor neugierigen Blicken. Rainn lunzt vorsichtig hinein. Auf dem Boden steht eine Wanne, in die man wohl zum Duschen treten soll, damit überschüssiges Wasser wiederverwertet werden kann. Auf einem kleinen Holzhocker liegen ein Lappen und eine Seife in einer Schale. Mehr gibt es nicht.
„Mir ist schon klar, dass du mehr gewohnt bist, Goldfisch. Aber vielleicht holt dich das auf den Boden der Tatsachen zurück. Das Wasser sollte ziemlich kalt sein, heute Abend wär’s dann angenehm aufgeheizt von der Sonne, aber so viel Zeit haben wir nicht.“
„So ein Zufall aber auch“, brummt Rainn. Aber sie will hier keine Szene machen. Den Kopf unter kühles Wasser zu halten, sich endlich von all dem Staub und Sand abzuwaschen ist einfach zu verlockend. Die Freude daran wird auch Selena ihr nicht vermiesen können.
Sie tritt also ein, schließt die Seite, an welcher sie eingestiegen ist, mit einem weiteren Tuch. Wenn die Sonne schräg steht, kann man durch die weißen Tücher hindurch sicherlich ihre nackte Silhouette erkennen. Wie viele der Männer hier wohl die duschenden Frauen beobachten, sich an dem räkelten Anblick aufgeilen? Rainn will da lieber nicht so genau drüber nachdenken, als sie sich aus ihren Klamotten schält und sie über den Sichtschutz wirft. Jeder weitere Gedanke erstirbt auch sofort, als sie das Wasser aufdreht und der eiskalte Strahl sie von oben trifft. Aus Reflex wäre sie beinahe aus der Wanne gesprungen und splitterfasernackt durch die Kolonie gerannt. In diesem Moment beschränkt sie sich jedoch lieber nur auf lautstarkes Fluchen, unterstützt durch das gehässige Lachen von draußen.
So schnell sie kann greift sie nach der Seife, nimmt entfernt den Geruch von Lavendel wahr, und schrubbt sich damit ein. Ihre Haare öffnet sie nicht und lässt sie stattdessen in den, eng am Kopf anliegenden, geflochtenen Zöpfen, die ihr vor einer gefühlten Ewigkeit noch Juniper geflochten hat und die, dank ihrer harten Behandlung, noch immer recht gut sitzen. Als sie das Wasser ausstellt und nach einem Baumwolltuch greift, um sich darin einzuwickeln, öffnet Selena den Sichtschutz und streckt ihr fremde Klamotten entgegen.
„Das war schnell. Bist du sicher, dass du dir auch ordentlich den Mund ausgewaschen hast?“
Rainn nimmt ihr die Sachen ab und mustert sie skeptisch. „Was ist mit meinem Kram?“
„Wolltest du den ernsthaft wieder anziehen? Ich war wohl heute nicht deutlich genug; du stinkst erbärmlich. Alles an dir. Außerdem liebt Caldwell Frauen in Kleidern.“
Rainn faltet die Klamotten auseinander und starrt skeptisch auf eine ähnlich braune Tunika, wie sie sie am Abend zuvor bei Willow entdeckte. Dazu der gleiche, lederner Gürtel. Das ganze Outfit erinnert sie an die Jutebeutel, in denen sie in der Biosphäre manchmal Obst und Gemüse lagerten. Sie will gar nicht wissen wie sehr das Material auf der Haut kratzen wird.
Selena dreht ihr anstandshalber den Rücken zu, während Rainn eine behelfsmäßige Unterhose anzieht, die man an den Seiten verschnürt, und in die Tunika schlüpft. Dann legt sie den Gürtel um ihre Hüfte, zieht ihn fest. Als Selena wieder in ihre Richtung blickt, tritt sie mit einem überheblichen Schmunzeln auf sie zu.
„So tragen das nur die alten Weiber“, erklärt sie und zieht die Tunika oberhalb des Gürtels so hoch, dass der Saum ihr nicht mehr bis zu den Füßen geht, sondern knapp oberhalb ihrer Knie endet.
„Und so tragen das wohl nur die Schlampen hier.“
„Und du bist eine davon, kleiner Goldfisch.“ Selena zwinkert ihr zu, dann wendet sie sich ab und ruft über ihre Schulter zu Rainn zurück: „Beeil dich. Caldwell wartet nicht gern.“
Rainn folgt ihr anstandslos. Ohne Schuhe, tippelt sie mit schmerzverzerrtem Gesicht hinter ihr her, während sich immer mal wieder kleine Steine in ihre nackten Füße bohren. Sie beißt die Zähne zusammen, unterdrückt ein frustriertes Fluchen. Doch als sie den Blick hebt, trifft sie den von Conor über den Platz hinweg und die Gedanken an ihre missliche Lage sind mit einem Schlag aus ihrem Kopf gefegt.
Neben dem Lagerfeuer stehen zahlreiche Bänke und Tische aus dicken Holzstämmen, über die eine große Plane gespannt ist und so Schatten vor der starken Mittagshitze spendet. Er sitzt an einem der Tische, eine Schale mit Essen vor sich, welches er sich gerade mit der Hand in den Mund schaufeln will. Ihr Anblick lässt ihn in der Bewegung stocken. Tief drin wünscht sie sich in diesem Augenblick, dass er sie so vielleicht ganz hübsch findet. Auch wenn sie sich im gleichen Moment vor diesen erniedrigenden Gedanken schämt. Doch in seinem verengten, missmutigen Blick entdeckt sie nichts dergleichen. Außer vielleicht eine bittere Erkenntnis, die Rainn nicht einmal zuordnen kann.
Er senkt den Blick, wirft das Essen zurück in die Schale und schiebt sie von sich weg, als hätte ihr Anblick ihm den Appetit verdorben. In Rainns Magen beginnt es zu rumoren.
8. Kapitel
Wo sie zuvor noch neugierig und offen zu diesem Caldwell gegangen wäre, hat Conors Reaktion sie nun unheimlich verunsichert. Doch irgendwie ist das schon fast nichts Neues mehr für sie. Alles an Conor ist verstörend und verunsichernd. Seine zwiespältige Art, die aus dem unheimlich mitfühlenden und gleichzeitig diesem kalten Mann besteht. Er will sie nicht hier haben, daraus macht er keinen Hehl, aber Rainn wird den Verdacht nicht los, dass das aus anderen Gründen der Fall ist, als die die Selena hat. Er mag sie. Irgendwie. Ganz im Gegensatz zu seiner herrischen Schwester. Ihn jetzt da sitzen zu sehen, nach der langen, gemeinsamen Reise, hat ihr das Gefühl gegeben hier doch nicht allein zu sein. Auch wenn dieses schnell wieder weg war, als seine Reaktion auf sie so heftig ausfiel.
Tief in Gedanken versunken folgt sie Selena weiter und bemerkt dabei beinahe gar nicht, wie sie eine weitere Hütte betreten, die dem Wort Hütte eigentlich nicht gerecht wird. Haus wäre in dem Fall wohl treffender. Selbst abgegrenzte Zimmer und richtige Wände aus Lehm, Gräsern und Holzstämmen gibt es hier, wie sie bemerkt, als sie eine Art Flur betreten. Es ist angenehm kühl im Inneren, die Wände geschmückt mit diversen, alten Stichwaffen, Fellen und gewebten Teppichen. Wenn sie es nicht schon vorher wusste, dann würde ihr spätestens jetzt klar werden, dass sie in keiner normalen Unterkunft gelandet ist. Der Gegensatz zu ihrer erbärmlichen, kargen Hütte könnte größer kaum sein.
Sie betreten ein weiteres Zimmer, in dem ein großer Tisch mit zwei Bänken auf beiden Seiten, steht. Selena bleibt stehen und macht den Blick auf Rainn frei. Diese sieht sich schließlich mit Caldwell konfrontiert, der am gedeckten Tisch sitzt und gerade an etwas nagt, das wie ein zehn Tage altes Brot aussieht. Er schluckt eilig, wischt sich mit dem Ärmel seiner Wildlederjacke über den Mund und erhebt sich zu seiner vollen Größe. Und die ist gelinde gesagt beachtlich. Er misst sicherlich an die zwei Meter. Rainn ist sich nicht sicher, ob sie jemals einen so großen Mann gesehen hat. Doch Caldwell ist nicht nur groß, er ist auch überaus breitschultrig und muskulös, wie sie an der ausgeprägten Nackenmuskulatur erkennen kann. Seine Haare sind an der Seite kurz geschoren und stehen nach oben wie spitze Stacheln ab. Die Gesichtszüge sind streng, breite Kieferknochen, dunkle Augen. Man kann ihn sicherlich als überaus männlich beschreiben, was auf jede Faser seines Körpers zutrifft.
Rainn hat nicht gedacht nach dem Auftritt von Conor und Flint noch überrascht werden zu können, doch Caldwell schafft es ganz allein mit seiner Präsenz innerhalb von wenigen Herzschlägen. Hat das Leben in der Biosphäre die Männer degeneriert, dass sie im Vergleich zu diesen hier schwächlich und winzig wirken? Ist das Leben hier so hart, dass sie sich diesem mit aller Gewalt anpassen mussten? Rainn würde gern Antworten auf all diese Fragen haben, aber sie ist sich gleichzeitig nicht sicher, ob sie diese überhaupt jemals erhalten wird.
„Unser neuster Gast, welch eine Ehre.“ Seine Stimme poltert störend laut wie fette Steine, die zu Boden krachen. Als ob er gar nicht bemerkt, dass er gerade mal zwei Meter von ihr entfernt steht. Sie ist immerhin nicht taub.
„Soll ich einen Knicks machen oder geht’s auch ohne?“, zischt Rainn zu Selena hinüber, die noch immer ungewöhnlich angespannt neben ihr steht. Daraufhin erntet sie einen überraschten, fast schon fassungslosen Blick von ihr, der sich schnell in Wut verwandelt. Doch Caldwell lacht daraufhin schallend los, was die Wände um sie herum beinahe vibrieren lässt.
„Und ein Ehrengast ganz nach meinem Geschmack. Ihr scheint in eurer Blase also auch eine Menge Bücher zu besitzen, was? Oder habt ihr in eurer Welt die Monarchie wieder eingeführt?“
„Wenn sich in der letzten Woche nichts verändert hat nicht“, antwortet Rainn. Caldwell schmunzelt noch immer breit. Es sind zwar einige Fältchen zu sehen, aber sein Lächeln und das Funkel in seinen Augen hat etwas Jugendliches. Das machte es unheimlich schwer sein Alter zu schätzen. Caldwell wendet sich nun an Selena und nickt ihr zu. „Danke für’s Herbringen. Du kannst uns jetzt allein lassen.“
Selena erwidert das Nicken knapp und dreht sich schon herum. Sie verlässt den Raum jedoch nicht, ohne Rainn noch ein „Reiß dich zusammen“, entgegen zu zischen.
Nachdem sie verschwunden ist, mustert Caldwell sie noch einen unangenehmen Moment lang, bis er auf die Bank ihm gegenüber deutet. „Komm ich wette du hast mächtig Hunger. Meine schwangere Frau hat sich ordentlich ins Zeug gelegt.“
Rainns Blick wandert über den Tisch. Vermutlich hätten da rohe Ratten mit Schwanz liegen können und sie hätte sich darauf gestürzt, als wäre es Junipers selbstgebackene Torte. Doch das, was sie darauf findet, sieht tatsächlich gar nicht so übel aus. Irgendwie ist es eine Mischung aus allem. Ein Topf mit geschmortem Gemüse. Zwiebeln, Karotten und Kartoffeln erkennt sie darin. Daneben eine Schale mit einer breiigen Masse, Rühreier, das graue Brot, welches sich Caldwell soeben noch genehmigte und … Kaktusfrüchte. Rainn unterdrückt ein Seufzen und lässt sich ihm gegenüber auf der Bank nieder. Er tut es ihr gleich, nimmt ihren Teller und beginnt dort von allem etwas drauf zu schaufeln. Einen prall bepackten Teller stellt er schließlich wieder vor ihre Nase und sieht sie auffordernd an.
Die anfängliche Zurückhaltung verliert sie innerhalb eines Wimpernschlages, nachdem sie in eine Süßkartoffel beißt und es sich anfühlt, als hätte sie noch nie etwas so Köstliches probiert. Was das Essen anbelangt, ist sie schon immer nach ihrem Vater gekommen. Sie hatten alles immer in Sekundenschnelle heruntergeschlungen, nur um schnellstmöglich wieder nach draußen zu kommen. Und irgendwie hat sich Rainn es nie abgewöhnt so leidenschaftlich zu essen. Sie isst auch jetzt so lange bis ihr Magen schmerzt und sie froh um die weite Tunika ist, die nun sicherlich die dazugewonnenen fünf Kilo Essen verbergen muss.
Sie spült das Essen mit einem ordentlichen Schluck Wasser hinab, seufzt genießerisch und fängt dann den amüsierten Gesichtsausdruck ihres Gegenübers auf.
„Ich sollte meine Leute häufiger auf Touren schicken. Sie bringen mir überaus Interessantes wieder und lernen das Essen Zuhause schätzen.“
„War’s das? Eine Tour, bei welcher sie mich gefunden haben?“
Caldwells Lächeln verschwindet nicht ganz, als er mit einem Räuspern den Teller vor sich wegschiebt und die Arme auf den Tisch legt. „War’s so? Haben sie dich gefunden oder hast du sie gefunden?“
Rainn kann sich ein Augenrollen nicht verkneifen. „Warum habe ich nur gedacht endlich mal ein paar Antworten zu bekommen.“
„Die bekommst du“, verspricht er mit einem Nicken. „Früher oder Später.“
„Es war wohl eine Mischung aus finden und gefunden werden“, gesteht Rainn schließlich, als der Blick ihres Gegenübers intensiver wird. Anhand von Selenas ehrfürchtiger Reaktion auf Caldwell hätte sie schon erahnen können, dass mit diesem Exemplar Mensch wohl nicht zu spaßen ist. Immerhin kennt sie diese Menschen nicht und wer weiß, was sie ihr antun würden, nur um Informationen aus ihr herauszubekommen. Rainn starrt zu dem, mit Wasser gefüllten, Becher in ihren Händen hinab. „Ich habe ihren Handabdruck am Glas gesehen.“
„Wessen Handabdruck?“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Selenas Handabdruck war.“ Rainn schmunzelt. Caldwell hält starr ihren Blick für quälende Sekunden, bricht dann in tiefes Gelächter aus und deutet dann mit dem Zeigefinger wedelnd auf sie.
„Du bist ein hintertriebenes Biest, schon kapiert. Gut. Ich gehe dann einfach mal davon aus, dass du es nicht weißt. Da war also der Handabdruck auf dem Glas, doch wie bist du dann da rausgekommen?“
„Nachdem ich Selenas Handabdruck gesehen habe, habe ich die Wand abgesucht und herausgefunden, dass an dieser Stelle eine Klappe ist. Ich habe sie geöffnet und bin mit meinem Hund nach draußen.“ Caldwell spielt beinahe träge mit einem Messer auf der Tischplatte, lässt die scharfe Spitze immer und immer wieder auf dem Holz rotieren. Sein Blick bohrt sich unbarmherzig in ihren.
„Und diese Klappe öffnet in beide Richtungen?“
Rainn zuckt mit den Schultern, schiebt sich noch ein Stück vom, nach Nichts schmeckenden, Brot in den Mund. „Vielleicht.“
Caldwells Blick wird noch etwas eindringlicher, die Augenbrauen ziehen sich nachdenklich zusammen. Vielleicht ist das der Moment, in dem Rainn zum ersten Mal ein nervöses Flattern in ihrem Magen verspürt. Aber natürlich hat sie sich auf dieses Gespräch innerlich vorbereitet. So zu tun, als wäre sie ein kleines Dummchen wird er ihr nicht abkaufen, dafür ist ihre unkontrollierbare Klappe zu groß. Aber sie wird auch nichts preisgeben, was auf irgendeine Art und Weise ihre Familie gefährden könnte. Sollen sie sie hier foltern. Sie wird es durchstehen und dabei nur Junipers Gesicht vor dem inneren Auge haben. Auch wenn sie sich beim besten Willen kein Szenario vorstellen kann, in dem dieser Hinterwäldler es mit ihrem Zuhause aufnehmen könnten.
„Warum bist du überhaupt abgehauen?“, fragt er nach einem Moment des Schweigens. Es muss Caldwell klar geworden sein, dass er mit seiner ursprünglichen Fragen nicht bei ihr durchkommen würde, also probiert er nun die nächste.
„Wer wäre das nicht? Ich meine, mein ganzes Leben lang hat man mir erzählt, dass hier draußen kein Leben möglich ist, dass niemand die Atomkatastrophe überlebt haben kann und dann sehe ich da eindeutig Selenas Handabdruck und alles gerät ins Wanken.“
„Hm“, brummt er und atmet dann geräuschvoll. „Klingt logisch für mich. Wenn ich nicht glauben würde, dass du mir bereitwillig nur erzählst, was ich auch glauben soll und den Rest für dich behältst.“
„Könnte damit zusammenhängen, dass man mir hier auch einen Scheißdreck erzählt.“
Er spitzt die Lippen, lässt das Messer sinken und verschränkt die Arme vor seiner gewaltigen Brust. „Was willst du wissen?“
Die Frage überrascht Rainn zunächst so dermaßen, dass sie sprachlos ist. Sie hat tausende Fragen, doch irgendwie das Gefühl, dass Caldwell ihr nur eine begrenzte Menge Antworten zur Verfügung stellt. Sie muss sich also die drängendste Frage zuerst stellen, bevor er sich wieder vollkommen verschließt.
„Warum waren da vier Pferde und nur drei Menschen?“ Die Frage platzt vollkommen unvorbereitet es aus ihr heraus und schon einen Wimpernschlag später schließt Rainn, innerlich fluchend, die Augen. Zugegebenermaßen hätte es weitaus wichtigere Fragen gegeben, aber in ihrem Kopf herrscht absolutes Chaos.
Caldwell jedoch scheint äußerst zufrieden mit ihrer Frage zu sein. Sein Mundwinkel zuckt verdächtig. „Sie haben einen von uns auf dem Weg verloren. Klapperschlangenbiss, mussten ihn zum Sterben zurücklassen. Traurige Geschichte.“ Dann kehrt seine belustige Miene wieder zurück. „Wer also behauptet, dass du hier keine Fragen beantwortet bekommst?“
„Wussten sie schon vorher von der Biosphäre 5?“ Verdammt, das hätte definitiv die erste Frage sein sollen!, denkt Rainn frustriert.
„Ich schätze, dass ich wieder dran bin, oder nicht? Also, wie viele Menschen seid ihr in eurer Glasglocke?“
„Sechs ... wobei nein fünf. Ich bin ja jetzt hier.“ In diesem Moment beginnt sich Caldwells, soeben noch recht vergnügtes, Gesicht zu verdunkeln. Rainn realisiert, dass Conors mürrisches Gesicht dagegen schon fast süß ist. Er wirkt wie eine Kampfmaschine durch und durch, kann sie mit einem Schlag vermutlich tief in den Boden rammen und irgendwie sieht es in diesem Moment auch so aus, als wäre genau das der Plan. Seine Nasenlöcher blähen sich aggressiv auf und seine Augen sind nur noch kleine Schlitze. Um Rainn herum wird der Raum immer kleiner und kleiner.
„Selena hat mir berichtet, dass du und der Hund eine ganz besondere Beziehung habt. Familie könnte man fast schon sagen.“ Er greift erneut nach dem Messer auf dem Tisch, lässt die Klinge durch seinen zusammengepressten Daumen und Zeigefinger fahren. „Seine Familie zu schützen ist wichtig und gut, aber dabei sollte man immer alle im Auge behalten, auch die, die sich ganz in unserer Nähe befinden. Findest du nicht?“ Er sieht langsam von dem Messer auf zu ihr und hält ihren Blick eisern gefangen. Rainn verspürt den Drang zu schlucken, als er ihr mit diesen Worten jeden, noch so kleinen Vorteil, in diesem Gespräch raubt.
„Fünfhundert. Vierhundertneunundneunzig ohne mich.“
Diese Worte fühlen sich an wie eine Niederlage und ihr wird einmal mehr bewusst, dass sie hier kein Gast ist, die Menschen hier nicht ihre Freunde. Die Ehrlichkeit scheint ihn dennoch zu überraschen. Caldwell lässt das Messer ruckartig sinken und starrt sie fassungslos an.
„Fünfhundert?“
Rainn nickt mit zusammengepressten Lippen.
„Wie ist das möglich? Wie überlebt ihr da drin?“
Sie zuckt leichtfertig mit den Schultern. „Wir haben alles, was wir brauchen. Die Energie kommt von der Sonne, die Pflanzen schenken uns Sauerstoff. Wir haben Tiere, Essen, Wasser. Alles in einem geschlossenen Kreislauf. Alles im … Gleichgewicht.“ Warum nur fällt ihr der letzte Satz so schwer, wo sie zuvor felsenfest hinter all den Grundsätzen ihrer Gemeinschaft gestanden hat? Er fühlt sich bitter auf ihrer Zunge an, wie ein störender Nachgeschmack. Weil es zum ersten Mal auch persönlich geworden ist? Ist der Grundsatz des Gleichgewichts dadurch weniger richtig geworden?
Er grunzt abfällig auf, auch wenn sie erkennen kann, dass er ihr jedes Wort glaubt. Nachdem sie so grandios darin versagte ihm ebenbürtig die Stirn zu bieten, braucht er sich wohl keine Sorgen mehr darum zu machen, dass sie mit ihm spielt. Caldwell sagt noch immer nichts, sieht nach draußen aus dem Fenster, schüttelt nur ab und an ungläubig den Kopf und schnalzt abschätzig mit der Zunge. Dann sieht er schließlich wieder zu ihr, lächelt, doch es ist nicht mehr so ungezwungen wie zuvor.
„Es war mutig von dir all das zurückzulassen für eine unsichere Zukunft, außer dem Handabdruck hattest du schließlich nichts. Nur wenige Menschen auf dieser Welt haben den Mumm eine solche Entscheidung zu treffen, ohne sich ein Hintertürchen offen zu lassen.“
Rainn versteht sofort auf was er hinauswill. Er glaubt nicht, dass es für sie keinen Weg mehr zurück in die B5 gibt. Und wenn es für sie einen Weg ins Innere gibt, dann doch sicherlich auch für ihn und seine Leute? Aber er versteht nicht, dass es keinen Weg zurück für Rainn gibt. Denn selbst wenn sie einen physischen Weg hinein weiß, was sie nicht tut, würde die emotionale Hürde in ihr drin sie niemals hinein gelassen. Ein Leben für ein Leben. So ist die Regel. Sie wird nicht riskieren, dass alles umsonst war. Unter keinen Umständen.
Sie kann es ihm vielleicht erklären, vielleicht wird er es verstehen, aber sie schafft es nicht die Worte in den Mund zu nehmen, die noch immer schmerzten, als wäre ein Dolch in ihrer Brust, welches da noch nicht entfernt worden ist. Soll er doch glauben, was er will. Es ändert rein gar nichts an der Tatsache, dass es für ihn und all die Menschen, die hier leben keinen Weg, keine Zukunft, keine Chance in der Biosphäre gibt.
Er entlässt sie schließlich, sagt ihr, dass sie sich innerhalb der Mauern frei bewegen darf. Essen, trinken und schlafen darf, wann sie will. Nur nach draußen erlaubt er ihr nicht zu gehen. Er will zunächst sehen, wie sie sich hier anstellt, ob sie gewillt ist ein Teil der Gemeinschaft zu werden.
Kurz bevor Rainn den Raum verlässt, wendet sie sich ihm nochmal zu. „Mein Bogen und mein Messer. Ich würde sie gerne wiederbekommen. Sie … bedeuten mir eine Menge.“
Caldwell wippt mit dem Kopf auf und ab. „Hier draußen bedeuten Waffen sogar noch um einiges mehr, als du es gewohnt sein solltest. Aber keine Sorge, hinter unseren Mauern bist du in Sicherheit. Du wirst sie nicht brauchen.“
Seine Worte sind abschließend, dennoch tobt in Rainn ein Kampf, ob sie ihren Mund erneut öffnen soll. Caldwell sieht sie an, als wenn er eben diese Reaktion auch von ihr erwartet. Und genau darin erkennt sie auch die Hoffnungslosigkeit hinter ihrer Anfrage. Sie beißt die Zähne fest aufeinander und nickt schließlich, verlässt den Raum ohne sich zu verabschieden.
Noch bevor sie nach draußen geht, prallt sie beinahe mit einem jungen Mädchen zusammen. Sie sieht ängstlich zu Rainn auf, entschuldigt sich mit geneigtem Kopf und tippelt an ihr vorbei. Rainn starrt ihr nachdenklich hinterher. Irgendwas an ihr passt einfach nicht in ihrem Kopf zusammen. Sie scheint nicht älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre alt zu sein. Aus ihr wird sicherlich einmal eine hübsche Frau werden, das erkennt sie sofort. Erst als das Mädchen sich noch einmal kurz zu ihr umdreht begreift Rainn, was sie an dem Anblick so verstört hat.
Unter der Tunika wölbt sich eine mächtige Kugel nach vorne, die so gar nicht zu dem ansonsten zierlichen Körper des verängstigten Mädchens passen will.
9. Kapitel
Rainn taumelt nach draußen in die pralle Sonne, bleibt da einen Augenblick stehen, den Blick zu Boden gerichtet, die Stirn in Falten gezogen. Sie versucht irgendwie in Einklang zu bringen, was sie da soeben gesehen hat. Doch egal wie sie es dreht oder wendet; sie kommt immer wieder zu der einen, widerlichen Erkenntnis, die sie die Zähne knirschend aufeinanderbeißen lässt. Das Mädchen, das schwangere Mädchen mit dem verängstigenden Blick, ist seine Frau? Was ist das hier? Zurück ins barbarische Mittelalter, wo alte Männer junge Frauen als Sklaven halten und vergewaltigen? Ihr wird übel.
Mit schnellen Schritten entfernt sie sich schließlich von dem Haus, am Lagerfeuer entlang in Richtung der Krankenhütte, wo Milo noch immer auf sie wartet. Sie weiß noch immer nicht, was sie mit dieser neuen Erkenntnis anfangen soll, aber das Wichtige ist nach Caldwells Drohung erstmal zu ihrem Hund zu kommen. Doch so weit kommt sie gar nicht erst. Als sie den großen Wassertank passiert, greift eine Hand nach ihr und zieht sie energisch hinter den Tank, außer Sichtweite aller anderen.
„Was glaubst du, was du da machst, hm?“ Conor funkelt sie finster an. Sie reißt ihren Arm aus seiner Hand und entlädt im nächsten Moment sämtliche Wut, indem sie ihn mit beiden Händen von sich stößt. Aus der Überraschung heraus prallt er mit dem Rücken gegen den Tank hinter sich.
„Abhauen, was glaubst du denn?“ Sie will sich erneut abwenden, doch er lässt sich nicht so leicht abschütteln, bekommt sie erneut am Handgelenk zu packen und zieht sie wieder zurück in den Schatten. In einer Bewegung wirbelt er sie herum, presst sie mit seinem Unterarm an ihrem Hals an die Tankwand.
„Das ist ‘ne mächtig beschissene Idee“, knurrt er unter angehaltenem Atem. Rainn greift nach seinem Unterarm, will ihn von sich reißen, doch seine Muskeln unter dem Hemd fühlen sich an wie Stahl. Er wird sie so garantiert nicht gehen lassen.
„Ist mir scheißegal. Ich bleib hier keine Sekunde länger“, keucht sie unter der Anstrengung, die es kostet sich sinnloser Weise von ihm freimachen zu wollen.
„Und wie willst du das anstellen? Glaubst du, die lassen dich hier einfach rausspazieren? Scheiße, du bist echt verflucht dämlich.“
„Ist nicht dein Problem, oder?“, keift sie zurück. Sein Blick schießt zwischen ihren Augen hin und her und die Irritation, die sie da findet, lässt auch sie einen Moment stocken. Der Griff um ihren Hals lockert sich wieder und doch bleibt Rainn an Ort und Stelle, versucht in seinem verstörten Gesichtsausdruck irgendeine Antwort zu finden.
„Was hat er getan?“, will er mit ruhigerer Stimme wissen.
„Ich hab das Mädchen gesehen“, antwortet sie ehrlich.
Conor zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Mädchen?“
„Sie ist hochschwanger.“
„Ruby?“
„Ich habe keine Ahnung wie sie heißt“, giftet sie wütend zurück. „Er hat sie geschwängert, vergewaltigt. Ist es nicht so?“
„Ruby ist kein Mädchen. Sie ist sechzehn.“
Rainn wirft entrüstet beide Arme in die Luft. „Na dann, ist ja alles in Ordnung. Gott, das ist so krank. Was stimmt nur nicht bei euch? Dieser Affe schwängert ein Mädchen und deine Schwester treibt es hier mit jedem wie eine billige Hure. Ihr seid echt abartig.“ Wo Conor sich soeben noch etwas beruhigen konnte, scheinen ihn Rainns Worte wieder auf hundertachzig zu bringen. Sie sieht, wie er mit den Zähnen zu malmen beginnt, bevor er sie an ihrer Schulter packt und sie wieder grob zurück an die Tankwand stößt.
„Du weißt einen Scheißdreck über uns hier, über das was wir durchmachen. Dein Leben war bis jetzt ‘ne große Party? Schön für dich. Aber wir kämpfen hier ums Überleben und jemand wie du hat keinen Schimmer was das alles bedeutet.“
„Du machst es dir verflucht leicht, findest du nicht?“, stöhnt sie unter den Schmerzen, die seine Faust an ihrer Schulter auslöst. „Lieber wäre ich tot, als das weiter mit ansehen zu müssen.“
„Pass lieber auf, was du dir wünschst“, raunt er mit seiner tiefen, dunklen Stimme, die Rainn durch Mark und Bein geht. Sie kämpft sich schließlich erneut aus seinem Griff, funkelt ihn nochmal an.
„Es sollte dir am Arsch vorbeigehen, wenn ich meinen Kopf riskiere. Also verhalte dich gefälligst auch so.“ Mit diesen Worten wendet sie sich ab und ist im Begriff ihren Weg fortzusetzen.
Doch auch dieses Mal kommt sie nicht weit. Dieses Mal sind es beiden Arme, die sich um sie schließen und sie wieder zurückziehen.
„Scheiße, hör endlich auf damit.“ Sie tobt in seinem Griff, als sie im nächsten Moment wieder die gewohnte Wand im Rücken spürt. Ihre Augen versuchen ihn vor sich zu lokalisieren, doch noch bevor sie seinen Blick einfängt, kommt sein Gesicht ihrem so nah, dass sie nicht einmal mehr einen Luftzug tun kann.
Er presst seinen Mund so grob und hart auf ihren, dass ihre Zähne zunächst aneinander schlagen und Rainn schmerzerfüllt in seinen Mund stöhnt. Zu mehr ist sie kaum in der Lage. Sie realisiert nicht einmal, was er da gerade tut. Doch er hält sie einfach nur fest, drückt seinen Körper gegen ihren und umschließt ihr Gesicht nun in seinen Händen. Der tosende Sturm in ihrem Inneren ebbt langsam ab und macht lediglich Platz für einen rasenden Herzschlag, der noch vor ihrem Kopf begreift, was da eigentlich gerade geschieht.
Und dann sackt die Erkenntnis über seine Handlung langsam. Beide Hände, die sie soeben noch von sich weggestreckt hat, stoßen kraftvoll gegen seine Schultern und ihn somit von sich weg. Conor taumelt einen Schritt zurück und das erste, was sie in seinen Augen sieht, ist unendliche Verwirrung. Obwohl er eine Handlänge von ihr entfernt steht, fühlt sie noch immer seine Lippen hart auf ihren, das Kratzen seines Bartes an ihrem Kinn, selbst sein Geruch nach Leder und Wald hängt ihr noch in der Nase.
„Das … du … das war verdammt billig“, stammelt Rainn und unterdrückt den Drang mit der Zunge über ihre Lippen zu fahren, um ihn da noch einmal zu schmecken.
Conor wirkt so verwirrt, wie sie nie geglaubt hat ihn jemals zu sehen und das lässt sie ernsthaft daran zweifeln, dass er das so geplant hat. Es hat funktioniert und er sie damit rasant aus der Bahn geworfen. So sehr, dass sie sich für einen Moment fragen muss, warum sie eigentlich gerade so wütend gewesen ist. Aber wenn sie jetzt zu Conor sieht, der versteinert vor ihr steht, dann wird ihr klar, dass das nicht seine Absicht gewesen ist.
Er tritt noch einen Schritt zurück, sieht gen Boden und dann wendet er sich wortlos ab. Sprachlos und bewegungsunfähig sieht sie ihm hinterher. Das war’s? Er prüft nicht einmal, ob sie nicht gleich wieder versucht davon zu laufen? Er geht? Einfach so?
Rainn sieht noch wie er sich in einer verzweifelt erscheinenden Geste mit der Hand über den Hinterkopf reibt, bevor er hinter der nächsten Häuserwand verschwindet und sie hier einfach stehen lässt. Sie weiß nicht wie lange sie da im Schatten steht, auf dem Punkt starrt, an dem er gerade verschwunden ist. Immer wieder und wieder zieht sie irritiert die Augenbrauen zusammen, versucht sich einen Reim auf seine Aktion zu machen, vor allem aber darauf, dass er einfach wortlos abgehauen ist.
Irgendwann sackt sie an der Wand entlang und sitzt im staubigen Sand, nagt nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Aber die Wut, wie sie sie zuvor in sich brodeln gefühlt hat, ist weg. Egal wie sehr sie an das Mädchen Ruby und ihren verschüchterten Blick denkt.
Es vergehen ein paar Minuten, bis sie sich wieder aufrappelt und die wenigen Meter zu Willows Hütte zurücklegt. Der Anblick davor, lässt sie trotz ihrer inneren Verstörung lächeln. Willow sitzt auf einer Bank vor ihrer Hütte, scheint irgendwelche Fäden zu flechten und zu ihren Beinen liegt niemand Geringeres als Milo, der recht entspannt das Treiben um ihn herum beobachtet. Er hebt den Kopf als er sie sieht und kämpft sich auf alle Viere, kommt ihr schwanzwedelnd entgegen. Zwar nicht so euphorisch und wild, wie sie es ansonsten von ihm gewohnt ist, aber er läuft und scheint wieder munter zu sein. Das ist alles, was zählt.
„Du siehst sehr hübsch darin aus“, spricht Willow mit einem breiten Lächeln, welches nun im Tageslicht einige schiefe und verfärbte Zähne offenbart. Nachdem sie Milo ausgiebig begrüßt hat, läuft sie langsam zu Willow hinüber und lässt sich neben ihr auf der Bank nieder.
„Danke, dass du ihn so gut umsorgt hast.“
„Ich habe in Büchern gelesen, dass man die Hunde damals als Weggefährten gewählt hat, dass sie unheimlich treue Wesen sind. Aber so recht verstehen tue ich es erst jetzt. Viele Kinder träumen davon, einen der wilden Hunde als Freund zu gewinnen, doch die Jahre in der Wildnis haben sie aggressiv und tödlich gemacht. Dein Milo ist eine herzensgute Seele“, erklärt sie mit einem verträumten Blick zu Milo hinab, der es sich nun wieder auf dem Boden der verandaähnlichen Konstruktion bequem gemacht hat und neugierig die vereinzelten Menschen beobachtet, die sich auf dem Platz in der Mitte tummeln. Rainn lässt ihren Blick ebenfalls durch die Gegend wandern und bleibt schließlich an Caldwells Haus hängen, welches nun eindeutig aus der Menge farbloser und karger Hütten hervorsticht. Selbst von außen scheint es mit rötlicher Farbe bestrichen zu sein. Zeichen und Muster im dunklen Erdton sind an die Fassade gemalt.
„Kennst du Ruby?“, will sie von Willow wissen, ohne das Haus aus den Augen zu lassen. Die alte Frau sieht überrascht zu ihr.
„Natürlich. Ich kenne jeden hier.“
„Sie ist schwanger.“
„Das ist wohl kaum mehr zu übersehen.“ Sie Frau kichert neben ihr und widmet sich wieder den Fasern, die sie in ihrem Schoss weiter zu flechten beginnt.
„Aber sie ist noch ein Kind.“
„Sie ist sechzehn“, erwidert sie schulterzuckend.
„Warum sagt das nur jeder hier? Sechzehn ist doch kein Alter, um Kinder zu bekommen. Sie war fünfzehn, als er sie ge… als er sie im Bett hatte“, korrigiert sie sich eilig.
„Das mag sein“, stimmt Willow ihr zu, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. „Aber es war dennoch ihre Entscheidung es zu tun. Die Dinge laufen hier anders, als sie es bei dir liefen. In ihrem Alter einen Beitrag zu leisten, ist nichts Ungewöhnliches.“
„Einen Beitrag leisten? So nennt ihr das? Sie kann doch mit fünfzehn unmöglich darauf Bock gehabt haben, dass sich dieser Riese schnaufend auf sie legt.“
Willow kichert daraufhin erneut. „Du lässt aber auch wirklich kein gutes Haar an der Sache, Kleines. Hier …“, Sie reicht ihr eine Handvoll Fasern. „… das sollte dich etwas ablenken und du könntest dich nützlich machen.“
„Was ist das?“
„Fasern der Yuccapalme, wenn man sie einzeln miteinander verbindet und die einzelnen Zöpfe weiter zusammenbringt, hat man irgendwann ein enorm starkes Seil.“ Rainn lässt die braunen, borstigen Fasern durch ihre Hände gleiten und schmunzelt.
„So ein Seil, wie das womit man mich gefesselt hat?“
„Das war sicherlich auch von mir gemacht.“
„Na dann, vielen Dank dafür.“ Rainn grinst und beginnt damit die Fasern zu verknoten und zu flechten, so wie es Willow neben ihr macht. Es hilft ihr tatsächlich dabei ihre Gedanken zu ordnen und etwas Ruhe in ihren aufgewühlten Körper zu bringen. Der Gedanke daran, dass alles was Ruby getan hat, wirklich ihrem freien Entschluss entsprungen ist, will sich noch immer nicht in ihr festsetzen. Aber ist ihr Wille in B5 denn wirklich auch frei gewesen? Dass sie irgendwann mal ihrem Vater als Jägerin folgen würde, ist noch vor ihrer Geburt entschieden worden. Dass sie keine Kinder bekommen darf ebenfalls. Hat es sich nur nicht falsch angefühlt, weil Rainn damit keinerlei Probleme gehabt hat? Sie denkt unweigerlich an Juniper und wie sie daran fast zerbrochen wäre, als man sie zwang das Baby wegzumachen. Ist das weniger grausam gewesen, nur weil es im Großen und Ganzen einer gewissen Logik entspringt? Aber was bitte ist die Logik bei dem Ganzen hier?
In ihrem Augenwinkel bemerkt sie schließlich Conor über den Platz marschieren. Er trägt seine Holzwaffe mit der Klinge einer Machete auf dem Rücken, zudem noch einen langen Stock und eine Schnur, die aussehen wie eine Angel. Wie immer trägt er zudem den passenden grimmigen Ausdruck im Gesicht, der vielleicht noch ein wenig düsterer ist, als sie es von ihm gewohnt ist. Er sieht auch nicht nach rechts und links und läuft schnurstracks auf das Tor zu, welches man ihm anstandslos öffnet.
Im nächsten Moment ist er schon verschwunden.
Unbewusst schnaubt sie genervt auf, widmet sich wieder den Fasern, bis sie erneut das leise Kichern neben sich vernimmt und zu einer schmunzelnden Willow rüber sieht.
„Was?“, will sie von ihr wissen.
„Wie ich sehe, habt ihr schon Bekanntschaft gemacht.“
„Er hat mich hergebracht, aber Bekanntschaft wäre wohl zu viel gesagt. Er ist … eigenartig.“ Der Rest des Satzes geht fast in einem Murmeln unter. Obwohl sie weiter flechtet, spürt sie noch immer den Blick der Frau auf sich.
„Auch hier weißt du einfach zu wenig, Kleines. Conor ist einer der Guten und die sind selten geworden. Er wünschte sich wohl nur, dass er’s nicht wäre, weil es all das leichter erträglich machen würde.“
„‘All das‘ was?“, fragt Rainn und sieht sie neugierig an, doch außer einem wissenden, geheimnisvollen Lächeln und einem leichten Schulterzucken bekommt sie von der alten Frau keine Antwort.
Mit seinem Seufzen widmet sich Rainn wieder ihrer Arbeit. „Ihr bleibt eurer Geheimhaltungs-Linie wirklich treu, was?“
Die Antwort ist nur ein weiteres, frustrierendes Kichern.
10. Kapitel
Die Tage vergehen und aus Tagen werden Wochen.
Jede Sekunde, die Rainn weiter gefangen ist, fühlt sich schon bald an wie eine Qual. Nicht einmal zu wissen, wie die Welt um sie herum genau aussieht, wird immer zermürbender. Selbst in ihrer eingeschlossenen Welt in B5 hat sie einen weiten Blick in die Welt um sie herum gehabt. Hier sieht sie nichts, außer die hohen, rostigen Metallmauern. Vier Tage nach ihrer Ankunft brachen Conor, Selena und Flint erneut zu einer Tour auf. Rainn lehnte bei ihrem Abschied an der Metallwand, die Arme vor der Brust verschränkt, Milo an ihrer Seite und fokussierte Conor mit intensivem Starren. Doch er zog es bis zum Schluss vor, ihr nicht einmal eines einzigen Blickes zu würdigen.
Und als sie schließlich verschwanden, hätte Rainn am liebsten die spärliche Einrichtung in ihrer Hütte zertrümmert. Sie hat Milo an ihrer Seite. Und auch Willow, mit der sie viel Zeit verbringt und ihr bei ihren alltäglichen Aufgaben hilft. Doch als sie realisiert, dass Conor physisch nicht mehr in ihrer Nähe ist, beginnt sie sich unsicher und einsam zu fühlen. Sie weiß genau, dass dieses Gefühl im Grunde lächerlich ist, denn er hat seit dem Vorfall am Wassertank kein Wort mit ihr gewechselt. Traumatische Erlebnisse hin und her, aber er verhält sich wie ein Idiot. Doch noch mehr ärgert sie, dass es sie überhaupt ärgert. Und mit diesem Kreislauf voller Ärgernisse ist sie schließlich vollkommen auf sich allein gestellt.
Allmählich lernt sie die übrigen Bewohner der Siedlung kennen und das sind bei Weitem nicht so viele, wie sie eigentlich gedacht hat. Knapp dreißig Personen leben hier gerade einmal, davon sieben Kinder in jedem Alter. Ruby nicht dazugezählt.
Diese bekommt ihr Kind in der ersten Woche, nachdem Conor und Selena aufgebrochen sind. Rainn versucht Willow bei der Geburt zur Hand zu gehen, doch nachdem sie sich beinahe übergeben muss, schickt Willow sie wieder mit strenger Stimme nach draußen. Tiere auszunehmen ist für sie kein Problem, aber zu sehen wie sich eine Erbse durch ein Nadelöhr presst, ist eine ganz andere Geschichte. Die Schönheit dahinter ist ihr vermutlich irgendwie entgangen, als sie japsend vor der Hütte steht und noch immer die Schmerzensschreie der jungen Frau zu ihr dringen. In diesem Moment sieht sie in den schwarzblauen Himmel hinauf, richtet ihren Blick auf den am stärksten leuchtenden Stern und denkt an Juniper. Auch sie wird ihr Kind zur Welt bringen dürfen und Rainn wird dann nicht bei ihr sein können. Sie wird das Kleine in den Armen halten und niemand wird da sein, um Witze darüber zu reißen, dass es zum Glück nicht das Aussehen des Vaters geerbt hat. Es schmerzt mehr, als sie jemals nach außen hin zeigen würde. Ihr Leben hat sich so vollständig verändert und sie fühlt sich schon jetzt nicht mehr wie dieselbe Person, die sich durch die Klappe quetschte.
Sie sieht zum brennenden Lagerfeuer hinüber, wo einige der Bewohner neugierig zu ihnen hinüber sehen. Die Geburt des Kindes scheint ein großes Ereignis zu sein. Immer wieder hat sie die Menschen darüber reden hören, abergläubische Bräuche zum Schutz von Mutter und Kind vernommen. So viel Anteilnahme ist ihr fremd. In B5 schert sich niemand um die Geburten anderer Familien. Alles verläuft streng nach Plan und wenn nicht, wird dies eben anhand der bekannten Gesetze korrigiert. Es gibt keinen Grund zu beten oder zu hoffen. Es geht einen auch schlichtweg nichts an. Doch hier ist das anders. Als Ruby besonders laut schreit, faltet eine Frau am Feuer die Hände überkreuzt auf der Brust zusammen und wippt immer wieder rhythmisch vor und zurück, als würde sie Ruby ihre Kraft schicken wollen. Es bewegt Rainn dies zu sehen, auch wenn sie es noch immer nicht wirklich versteht.
Sie selbst wird nicht unbedingt schlecht von all den Menschen hier behandelt. Im besten Fall kann man sagen, dass man sie in Ruhe lässt. Im schlechtesten Fall wird sie wohl eher ignoriert und manchmal kritisch beäugt. Ob das an Milos Anwesenheit liegt oder daran, dass Rainn das neugierige Starren, mit wütendem Zurückstarren begegnet, weiß sie nicht. Es ist ihr auch gleich. Sie ist kein Teil der Gemeinschaft und weiß nicht einmal, ob sie überhaupt ein Teil davon werden will.
Ruby bringt in dieser Nacht einen gesunden Jungen zur Welt, der, nachdem er von all dem Blut und Schleim gereinigt worden ist, doch recht ansehnlich erscheint, wie Rainn zerknirscht feststellen muss. Caldwell ist der Erste, der die Hütte betritt und seinen Sohn in Augenschein nimmt. Den witzigen Körper in seinen riesigen Pranken zu sehen, ist ein schräges Bild. Rainn erkennt zwar ein glückliches Strahlen in seinem Gesicht, dennoch hat sie das Gefühl, dass etwas an diesem Bild nicht stimmt. Auch wenn sie den Finger nicht darauf legen kann. Es erscheint, als wäre etwas an dieser Geburt nicht so gelaufen, wie er es sich gewünscht hat. Und auch die gesamte Siedlung nimmt die Nachricht des neuen Bewohners etwas resigniert zur Kenntnis. Als Rainn Willow darauf anspricht, sagt diese nur, dass es einfach eine anstrengende Nacht gewesen ist.
Und tatsächlich geht das Leben am nächsten Tag wieder normal weiter, so wie an den darauffolgenden Tagen auch. Rainn nutzt ihre Zeit, um ihre Waffen ausfindig zu machen, die sie schließlich in einem unbeaufsichtigten Lager entdeckt. Der Eingang zu der Lagerhütte kann jedoch von den Wachen an der Mauer gut gesehen werden. Sich ihre Waffen zurückzuholen, bringt sie ihrem Ziel, endlich einen Fuß nach draußen setzen zu können, auch nicht näher. Außer sie würde jeden einzelnen von ihnen damit erledigen, doch allein der Gedanke sich mit Caldwell anzulegen, lässt sie trocken schlucken. Also bleiben ihre Waffen, und somit die einzige Erinnerung an ihren Dad, noch außer Reichweite für sie. Immerhin erhält sie ihre Klamotten wieder, nachdem sie gewaschen und die Löcher gestopft worden sind. Nicht mehr in der knappen Tunika, sondern in ihrer schwarzen Stoffhose und dem beigen Shirt herumzulaufen, ist eine echte Verbesserung.
Die Gruppe kommt in der dritten Woche wieder. Rainn liegt in ihrer Hütte, ein Buch über die früheren Zeiten aufgeschlagen und lauscht auf die freudigen Rufe, die bis zu ihr hineindringen. Selbst Milo entlockt die Aufregung einen verwunderten Laut. Aber sie wird jetzt nicht nach draußen gehen und sie willkommen heißen, nur um dann weiterhin von Conor ignoriert zu werden oder sich von Selena einen weiteren Goldfisch-Spruch zu fangen. Also bleibt sie zähneknirschend liegen und versucht sich wieder auf die Zeichen vor sich zu konzentrieren. Aber egal wie sehr sie es auch versucht, die Worte finden ihren Weg nicht in ihr Hirn. Irgendwann legt sie das Buch auf ihren Bauch und sieht seufzend an die gegenüberliegende Wand. Es gleicht einer körperlichen Qual nun nicht nach draußen zu gehen und zu prüfen, ob es Conor überhaupt bis hier her geschafft oder ob ihn vielleicht eine Klapperschlange erwischt hat, so wie den Mann auf dessen Pferd sie saß.
Er hat ihre Sorge nicht im Geringsten verdient, das ist ihr mehr als nur klar. Aber so wenig sie sich ein Leben hier vorstellen kann, es ist noch etwas unvorstellbarer ohne sein immerzu mürrisches Gesicht und die bissige Schnauze. Und so liegt sie weiterhin in ihrer Hütte und wagt es nicht nach draußen zu gehen, um herauszufinden, ob er zurück ist.
Es dämmert schließlich, als Milo den Kopf hebt, den er zuvor noch auf seine Vorderpfoten abgelegt hat. Rainn folgt seinem Blick zur Tür hinaus, doch natürlich hat er die Schritte schon gehört, bevor sie es tat, sodass sie erst niemanden sieht. Zunächst zeigen sich unterhalb des Vorhangs nur ein paar abgelaufene, staubige Stiefel, die nur zögerlich die letzten Schritte nach vorne gehen. Als Conor den Vorhang, der als Tür fungiert, zur Seite schiebt, schlägt Rainns Herz schon zu Zerbersten schnell.
„Anklopfen ist nicht so dein Ding, was?“, murmelt sie, aber es klingt nicht so selbstsicher und selbstbewusst, wie sie es von sich selbst gewohnt ist. Er ist wieder zurück. Und er sieht gut aus. Auch wenn die Schatten unter seinen Augen von einer unheimlichen Erschöpfung zeugen müssen. Sein Gesicht wirkt brauner von der starken Sonne, der er die letzten Tage ausgesetzt war, es lässt seine blauen Augen noch ein wenig deutlicher strahlen. Auch wenn sie nur kurz Gelegenheit hat, das zu beurteilen, denn sobald seine Augen ihre kreuzen, schnellt sein Blick gen Boden.
„Hm“, brummt er lediglich, tritt vollständig ein und lehnt sich mit dem Rücken an ihre Wand, beide Arme vor der Brust verschränkt. Der feine Geruch von Lavendel strömt durch ihre Hütte. Er hat also geduscht, bevor er hergekommen ist und seine dunkelbraunen Haare hängen ihm noch immer feucht in der Stirn.
„Alles in Ordnung?“, will sie nach einem weiteren Moment der Stille von ihm wissen. Die angespannte Ruhe ist selbst für ihn ungewöhnlich und das will schon etwas heißen. Sie erhebt sich schließlich vom Bett und macht einen Schritt auf ihn zu.
„Ich muss mit dir sprechen.“
„Sprechen ist nicht deine Stärke, wie du weißt.“
„Hör auf“, fordert er und hält ihren Blick. Er untermalt seine strengen Worte mit zusammengekniffenen Augen und einer angespannten Körperhaltung. Und das macht er verdammt gut. „Du musst nicht aus allem einen scheiß Witz machen.“
„Es bleibt mir ja nicht viel anderes übrig. Ich könnte mich auch einkugeln und heulen, wenn dir das lieber ist“, sagt sie wütend, während sich ihre Stimme wieder leicht hebt. Er atmet geräuschvoll, senkt dann wieder den Blick und reibt sich mit der Hand über den Nacken. Gott, dieses Gespräch muss wirklich schwer für ihn sein, wenn er sich sogar bewusst beherrscht sie nicht anzufahren. Eine Gelegenheit, die er bislang im Grunde nicht ausgelassen hat. Schreien, Brüllen ist sein Ding. Ernste Gespräche zu führen nicht so wirklich, wie es aussieht.
„Sag schon“, fordert sie leise. „Was ist los?“
Er sieht sie an. Der Blick springt zwischen ihren Augen hin und her, doch anstatt ihr eine Antwort zu geben, schnaubt er amüsiert auf und sieht wieder gen Boden, um sein Lächeln zu verbergen. „Du bist echt nicht so stark, wie du immer tust. Stehst hier mit diesem wilden Blick und machst deine Hand zur Faust, als wenn du dir selbst sämtliche Fingerknochen brechen willst.“
Tatsächlich entlädt sich eine Menge Anspannung, als sie ihre Hände wieder entkrampft. „Machst du das jetzt extra? Mich erst neugierig zu machen und mich dann hängen zu lassen? Scheint echt dein Ding zu sein.“
„Was?“, fragt er verwirrt.
„Ach komm schon! So dämlich kannst auch nur du sein. Ihr habt mich hier alleine zurückgelassen und du hast mich nicht mehr mit dem Arsch angeguckt, nachdem …“ Rainn stoppt ihren Redefluss gerade noch rechtzeitig, bevor sich irgendwas aus ihrem Mund falsch anhört. Doch dafür scheint es schon zu spät zu sein, denn Conor hebt daraufhin fragend beide Augenbrauen, was seinem Gesicht zur Abwechslung mal einen offenen Ausdruck gibt.
„Ich hab dich neugierig gemacht und dann hängen lassen?“
„Gott, nein! Das klingt ja … nein! Du verdrehst mir die Worte im Mund. Ich wollte nur sagen, dass ich es satt habe rein gar nichts zu erfahren und wenn du schon mal hier stehst und mir was erklären willst, dann schaffst du es offensichtlich nicht einmal den Mund aufzumachen. Das ist unfair! Du kannst nicht einfach permanent Andeutungen machen und dann … nichts.“ Sie begreift erneut, wie sich ihre Worte angehört haben müssen und wendet sich mit einem Verzweiflungslaut von ihm ab. Er treibt sie in den Wahnsinn mit seiner geheimnisvollen Art, seiner puren Anwesenheit. Alles wäre so viel leichter, wenn sie ihn einfach nur durchschauen könnte, auch wenn er am Schluss nur ein einfacher Idiot wäre.
„Es tut mir leid.“ Aber sie kann eindeutig heraushören, dass er dabei schmunzelt. Sie würde ihn zu gerne ansehen, allein nur, um dieses seltene Bild in ihr Gedächtnis zu brennen. Stattdessen bleibt sie mit dem Rücken zu ihm stehen und vernimmt nur seine Schritte auf dem sandigen Boden hinter ihr, als er näherkommt. Sie fühlt seine Präsenz hinter sich, vielleicht auch ein wenig seiner Körperwärme. Für einen Augenblick ist sie zurück auf ihrer Reise, als er hinter ihr gesessen und sie sich an ihn angelehnt hat, den Kopf auf seiner Schulter. Erst jetzt wird ihr klar, wie wenig ihr der körperliche Kontakt zu ihm ausgemacht hat. Im Gegenteil, es beruhigte sie und ließ sie sogar schlafen. Nun erschreckt es sie beinahe, als ihr bewusst wird, dass sie sich nach eben diesem Körperkontakt sehnt. Nach seiner Wärme, seiner tiefen Stimme an ihrem Ohr.
„Ich bin froh, dass es dir gut geht“, haucht sie und hält den Atem an. Obwohl ihr warm ist, schlingt sie die Arme um ihren Körper, als ein Schauer ihr Rückgrat entlang kriecht. Wieso steht er nur da und sagt kein Wort? Wieso lässt er sie erneut hängen? Oder ist er hier, weil es von nun an anders sein wird?
Sie hört erneut seine Schritte. Zwei quälend langsame Schritte auf sie zu, bis sie seinen Atem an ihrem Hinterkopf fühlt. Und dann sein Brustkorb, der wie beiläufig ihr Schulterblatt streift. Aber er berührt sie nicht, als würde er es nicht wagen, als würde er damit die letzte Hürde überwinden vor der er eine Menge Angst hat. Doch die hat sie auch, wieso kann er das denn nicht sehen?
Im Augenwinkel bemerkt sie, wie sich seine Hand langsam hebt und sich ihrem nackten Oberarm nähert. Jede Faser ihres Körpers wartet angespannt darauf, dass er sie endlich berührt.
Doch noch bevor all das geschehen kann, bevor Conor ihr sagen kann, was der Grund für sein Auftauchen ist, hören sie laute Schreie von draußen.
Und im Sekundenbruchteil bricht um sie herum die Hölle aus.
11. Kapitel
„Du bleibst hier!“, befiehlt er, als er sich gleichzeitig abwendet und nach draußen stürmt. Rainn beißt die Zähne fest aufeinander, als sie ihm hinterher sieht.
„Den Teufel werd ich“, knurrt sie und rennt los. Zwei Meter vor der Hütte bemerkt Conor, dass sie ihm folgt und wirbelt herum. Er bekommt sie an der Schulter zu packen und drängt sie wieder zurück in Richtung ihrer Hütte.
„Bleib hier, hab ich gesagt“, presst er mit wildem Ausdruck hervor.
„Und ich habe gesagt: Den Teufel werd ich. Aber da warst du schon weg“, entgegnet sie und stößt seine Hand grob von ihrer Schulter.
„Du hast keine Ahnung wer das ist“, sagt er aufgebracht.
„Spielt das eine Rolle?“
„Ja, verflucht!“
„Gut … für dich vielleicht.“ Und mit diesen Worten läuft sie an ihm vorbei zum Lagerplatz, wo bereits einige Menschen wie aufgescheuchte Hühner ungeordnet umherrennen. Sie hört warnende Rufe und Schreie vom Tor. Und dann ertönt ein lauter Schlag, der den Boden unter ihren Füßen vibrieren lässt. Ihr Blick richtet sich zum großen Eisentor, das unter dem Schlag gefährlich zu schwanken scheint. Als der zweite Schlag von außen erfolgt, bricht es schließlich aus der oberen Halterung. Sie sieht mit Schrecken, wie die Männer auf der Mauer ihre Pfeile verschießen und schaut eilig zum Lager hinüber.
Dann setzt sie zum Sprint an. Sie sieht, dass Conor ihr ebenfalls in Richtung Lager folgt. Aber er scheint es aufgegeben zu haben, sie zurückhalten zu wollen, denn im Lager reicht er ihr nicht nur ihr Messer, welches sie sogleich hektisch am Gürtel befestigt, sondern auch ihren Bogen und Köcher. Anschließend stattet er sich selbst gekonnt mit sämtlichen Waffen aus, die er in die Hände bekommt.
Bevor sie aus dem Lager stürmen kann, hält er sie noch an der Hand zurück und sieht sie eindringlich an. „Halt dich im Hintergrund, verstanden? Sie wollen dich.“
Er muss die Verwirrung über diese Worte in ihren Augen gesehen haben, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als all das im Raum stehen zu lassen. Für mehr ist jetzt keine Zeit. Von draußen dringen weitere Rufe zu ihnen, die sich nunmehr mit eindeutigen Schmerzensschreien mischen, die Rainn durch Mark und Bein gehen. Noch nie hat sie Menschen so schreien hören. Nicht einmal, wenn sie sich in der Biosphäre das Bein brachen oder von einer Leiter stürzten. Ihr Herz schlägt schmerzhaft, ihre Atmung ist stockend und krampfhaft, obwohl sie sich nicht einmal viel bewegt hat.
Conors Worte hallen wie ein Echo in ihrem Kopf.
Sie wollen dich. Sie wollen dich.
Und sie schrecken offensichtlich nicht davor zurück, dafür zu töten. Als sie nach draußen treten, hängt das Tor nur noch schief in einer Angel und schwankt bedrohlich vor und zurück. Es wirkt als drückt jemand von der anderen Seite mit dem ganzen Gewicht immer wieder dagegen. Rainn sieht davor einen Torwächter auf dem Rücken liegen. Ein Pfeil ragt aus seiner Brust und sie weiß nicht, ob dieser ihn getötet hat oder der Sturz von der Mauer. Spielt das eine Rolle? Sie schüttelt leicht den Kopf und versucht sich zusammenzureißen. Das alles hier erscheint so surreal. Wie in einem ihrer Bücher oder in den Filmen über die Kriege, die sie Zuhause sah.
Von der anderen Seite sieht sie Milo in Windeseile auf sie zustürmen. Er platziert sich sofort vor sie und blickt in geduckter Haltung nach rechts und links, als würde er mit einem Angriff aus allen Richtungen rechnen. Er verlässt ihre Seite erst wieder, wenn sie es ihm befiehlt. Immer mehr und mehr Männer stürmen hinter ihr in das Waffenlager und kommen mit Bogen, Macheten und Messern wieder heraus. Doch in Summe sind es gerade mal etwa zehn bewaffnete Männer, sie selbst eingeschlossen. Erst in diesem Augenblick wird ihr klar, wie klein die Gruppe eigentlich ist, in der sie sich hier befindet. Zum ersten Mal wünscht sie sich, dass es tatsächlich mehr wären.
Im nächsten Moment stürmt Caldwell aus dem Haus, sieht sich mit wildem Blick um und fokussiert schließlich Conor. „Ruby! Sie ist bei Willow!“, brüllt er über den Platz zu ihm hinüber und deutet mit dem Finger in eine Richtung.
Conor sieht sofort zu Willows Haus hinüber, das sich direkt neben dem Tor befindet, welches in genau diesem Moment nach innen wegbricht wie ein gefällter Baum. Als es mit einem Poltern auf den Boden aufschlägt und sich eine sandige Staubwolke nach oben löst, befindet er sich bereits im vollen Sprint in Richtung Willows Haus. Und somit direkt auf die Eindringlinge zu, die durch die Staubwolke ins Innere gestürmt kommen.
Fassungslos, zu einer Salzsäule erstarrt, sieht sie wie Conor geschickt aus dem Weg eines Eindringlings springt, anstatt sich dem Kampf zu stellen und weiterrennt. Ihr Blick wandert erneut zu dem erschossenen Mann auf den Boden, als der ohrenbetäubende Lärm um sie herum plötzlich zu einem dumpfen Piepsen in ihrem Kopf wird. Alles dreht sich langsamer, die Zeit scheint kaum zu vergehen, während Rainn gefangen in dem Augenblick ist. Sie hat noch nie gesehen, wie sich Menschen gegenseitig töten, wie sie Pfeile aufeinander schießen, Messer in Körper rammen und ums Überleben kämpfen. Doch im Sekundenbruchteil, als die Zeit wieder Fahrt aufnimmt, geschieht genau das um sie herum. Sie war meilenweit davon entfernt in ihrem bisherigen Leben zu töten, einem Menschen den letzten Atemzug zu nehmen. Und angesichts dessen wird ihr klar, dass sie keinen Schimmer hat, ob sie dem wirklich gewachsen ist.
Sie atmet laut ein und aus, greift zitternd nach einem Pfeil aus ihrem Köcher und legt ihn so unsicher ein, als würde sie es zum ersten Mal tun. In dem Getümmel einige Meter vor sich, erkennt sie kaum etwas. Sie hört nur Geschrei und sieht einzelne Körperteile, ohne die Möglichkeit sie zu zuordnen oder gar anzuvisieren. Zudem zittert ihr ganzer Arm, was das Fokussieren ebenfalls so gut wie unmöglich macht.
„Scheiße, was tust du da?“, will Selena plötzlich wissen, als sie schnaufend neben ihr zum Stehen kommt.
„Helfen“, antwortet Rainn und beißt die Zähne zusammen, um zu verbergen, dass sie vor Zittern aufeinander schlagen.
„Das kannst du nicht, verflucht! Komm mit mir … wir müssen nach hinten zu den anderen!“
„Nein!“, presst Rainn hervor und sieht noch immer auf die zitternde Spitze ihres Pfeiles. Wo zur Hölle steckt Conor? Sie sieht ihn einfach nicht! Sie kann jetzt unmöglich gehen, ohne zu wissen, ob es ihm gut geht. Ob sie ihm vielleicht helfen kann. Dieser verdammte Mistkerl hat ihr noch immer nicht gesagt, was er ihr mitteilen wollte. Er kann sie jetzt nicht einfach alleine lassen. Nicht schon wieder. Und vor allem nicht so.
„Rainn! Das ist kein verficktes Spiel, beweg deinen Arsch“, schreit Selena neben ihr und packt sie an der Schulter. Benommen realisiert sie, dass Selena sie zum ersten Mal mit ihrem Namen angesprochen hat. An einem anderen Tag, zu einer anderen Zeit, hätte sie sich darüber vielleicht gefreut. Doch hier und jetzt weckt es nur die Wut darüber, dass Selena sie schon wieder anpackt und umherstößt, als wäre sie rein gar nichts wert und nur ihr Schoßhund. Sie ist etwas wert! Vielleicht sogar mehr, als sie alle hier denken. Und sie kann vermutlich sogar besser schießen, als jeder einzelne hier.
„Fass mich nochmal an und schieß dir einen Pfeil zwischen die Augen oder treffe stattdessen Conor, wenn ich den Schuss vermassele. Willst du das?“, knurrt Rainn und dreht sich erneut um, fokussiert den Pfeil erneut. Rainn ist sich sicher, dass sie Selena damit hat, denn sie weiß ganz genau, dass ihr Bruder da irgendwo im Getümmel sein muss, in das Rainn nun ihren tödlichen Pfeil richtet.
Der Pfeil vor ihr wackelt nach ihrem Ausbruch nur noch leicht, also folgt sie mit ihrem Blick der Schusslinie, die nur in ihrem Kopf existiert. Sie ruft sich zur Ordnung und konzentriert sich auf ihre Atmung. Dann durchkämmt sie das Bild vor sich ruhig mit ihrem Blick und erspäht Conor tatsächlich, der noch immer verzweifelt versucht sich zu Willows Haus durchzukämpfen. Gerade als er ihr den Rücken zudreht und über einen toten Körper auf dem Boden springt, nähert sich ihm eine dunkle Gestalt von hinten, eine Machete über den Kopf erhoben.
Rainn korrigiert ihren Stand, zieht den Pfeil auf der Sehne an. Er wird ohne das Handgelenkrelease zwar etwas mehr schlingern, aber sie hat eine gute Schussdistanz. Sie wird treffen. Sie muss treffen. Sie sieht mit halbem Auge, wie Conor den Angriff von hinten noch bemerkt, doch er kann ihn unmöglich noch rechtzeitig abwehren. All das geschieht, während sie den Pfeil bereits von der Waffe schnellen lässt und er schon seinen Weg sucht. Conor springt nach hinten, als der Körper nach vorne kracht und vor ihm zum Liegen kommt. Er sieht überrascht in die Richtung, aus der der Pfeil kam und findet dort Rainns Blick über die Distanz. Beinahe glaubt sie ein Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen. Routiniert legt sie den nächsten Pfeil ein und sucht ihr nächstes Ziel.
„Das reicht jetzt, Rainn!“, zischt Selena neben ihr. „Komm mit mir!“
„Was ist nur los mit dir“, ruft Rainn aufgebracht und lässt den Bogen sinken, um sie wütend anzusehen. „Diese Monster töten deine Leute. Da drüben ist dein Bruder! Du bist erbärmlich, hast nichts außer ‘ne große Klappe!“
Selena starrt sie überrascht an, doch Rainn erkennt einen Wimpernschlag später die Wirkung ihrer Worte auf die stolze Frau. Es widerstrebt ihr genauso wie Rainn sich zurückzuziehen und diesen heimtückischen Angriff abzuwarten. Dazu ist sie nicht geboren worden. Auch wenn Rainn nicht versteht, was sie überhaupt dazu getrieben hat, sich zurückzuziehen, so scheint Selena das in diesem Moment auch nicht mehr zu wissen. Ein grimmiges Lächeln im Gesicht, löst sie ihr Messer von ihrem Gürtel und umgreift es energisch mit der Faust.
„Ich lass mich von ‘nem Goldfisch nicht erbärmlich nennen“, sagt sie angriffslustig und richtet ihren Blick ins Getümmel. „Geb mir Deckung.“
Damit, und mit einem lauten Kampfesschrei, stürmt sie an Rainn vorbei nach vorne. Rainn hebt den Bogen erneut an. Ihre Hände zittern weniger und ihr Körper ist angefüllt mit Adrenalin das einem Glücksrausch gleichkommt. Alles ausgelöst durch den ersten Erfolg. Sie sucht sich ihre Ziele nun beinahe routiniert, schießt einen Pfeil nach dem anderen. Manchmal trifft sie in die Brust, dann jedoch nur einen Arm oder ein Bein und manchmal saust ihr Pfeil auch in unerreichte Ferne. Sie sieht Selena mit wilder Entschlossenheit an Flints Seite kämpfen, hat Conor aber längst aus dem Auge verloren. Aber sie erkennt gleichzeitig auch ihre ungeheure Unterzahl. Aus dem niedergetrampelten Tor scheinen immer mehr und mehr Eindringlinge nach drinnen zu strömen, die sie immer weiter und weiter zurück drängen.
Doch Rainn macht unbeirrt weiter, solange bis sie keine Pfeile mehr haben wird. Und all das wird so lange gut gehen, bis die Eindringlinge den Ursprung der tödlichen Carbonpfeile ausmachen, die immer wieder an ihnen vorbei sausen und mit Wucht ihre Kameraden nieder strecken. Rainn bemerkt zu langsam, dass sich eine Gruppe gelöst hat und im Schatten zur linken Seite nähern. Erst Milos aggressives Knurren weckt sie auf, als sie einen bärtigen Mann mit langen, schwarzen Haaren von der Seite auf sich zu rennen sieht. Sie weiß, dass ein Pfeil zu spät kommen wird und wirft den Bogen zu Boden, um schnellstmöglich an das Messer von Dad zu kommen, noch bevor er sie erreicht. Doch auch dazu ist es zu spät, erkennt sie einen Herzschlag später und versucht hektisch ein paar Schritte Abstand zu gewinnen.
In diesem Moment schießt Milo an ihr vorbei und setzt zum Sprung an, bekommt den Mann am Arm zu packen. Und Milo spielt nicht, wie sie dem Schmerzensschrei des stämmigen Mannes entnehmen kann. Sein Rennen gerät ins Straucheln, als sich der Hund in seinem Arm verbeißt und nicht los lässt. Er hängt an ihm wie eine Klette. Rainn umgreift ihr Messer vollständig und hält es fest in ihrer Faust. Doch durch ihr Rückwärtstaumeln ist ihr Bogen nun außer Reichweite, auf Höhe des Mannes, der noch immer mit ihrem Hund kämpft. Milo lässt schließlich von ihm ab, wird mit Wucht nach hinten geschleudert und kommt schließlich nach einer Rolle wieder auf die Pfoten. Er fokussiert sein Ziel erneut, fletscht furchteinflößend die Reißzähne, als warnt er ihn sie ja nicht anzufassen.
„Räudiger Köter“, keucht der Mann und hält sich seinen blutüberströmten Arm. Dann sieht er zu Rainn, die noch immer ihr Messer festhält, bereit ihn zu empfangen, wenn er sich nochmal in ihre Richtung bewegt. In dieser Position verharren sie für einen endlos erscheinenden Moment, als wenn sich niemand so recht traut den nächsten Schritt zu machen. Weil jeder Schritt von nun an der Letzte sein kann.
Und dann geschieht alles rasend schnell. Sie glaubt das Surren des Pfeiles zu vernehmen, noch bevor sie ihn tatsächlich bemerkt. Sie glaubt ihn dann sogar fliegen zu sehen und realisiert mit Schrecken, dass er sein Ziel nicht verfehlen wird, noch bevor er tatsächlich trifft. Die Wucht des Aufschlages stößt Milos Körper zur Seite, wo er mit einem schmerzerfüllten, abgehackten Jaulen liegen bleibt. Das Bild manifestiert sich in ihren Gedanken, lässt Rainns Augen kugelrund werden. Im nächsten Moment entkommt ein lauter Schrei ihrer Kehle, ungebremst versucht sie zu Milo zu kommen, sieht dass der Pfeil seine Kehle durchbohrt hat. Dass es keine Überlebenschance für ihn gibt. Sie sieht all das, weiß tief drin, was es bedeutet und doch spielt es keine Rolle für sie. Sie muss zu ihm, bei ihm sein. Ihn halten, schützen und begleiten, egal wohin er nun ohne sie gehen wird.
„Bors! Schnapp sie!“, brüllt der Bogenschütze, der nun langsam aus dem Schatten tritt und dabei seinen Bogen festhält, den nächsten Pfeil bereits im Anschlag. Rainn realisiert, dass es noch nicht vorbei ist und sie sich weiterhin wehren muss. Sie kann jetzt nicht zusammenbrechen, muss noch ein paar letzte Minuten stark sein, bevor es vorbei ist. Bevor sie realisierten kann, was hier gerade geschehen ist. Was all das für sie bedeutet. Der Mann mit dem blutigen Arm wendet sich von Milo ab, ballt die Hand zur Faust und stürmt ohne zu Zögern auf sie zu. Tränen verschleiern ihren Blick, als er auf sie zurollt wie eine Lawine und sie damit vollkommen überrumpelt. Mit einem Schlag in ihr Gesicht reißt er sie zu Boden, wo sie keuchend liegen bleibt. Staub und der eiserne Geschmack von Blut füllt ihren Mundraum. Sie sieht ihr Messer noch immer in Reichweite liegen, versucht ranzukommen. Doch als sie ihre Hand verlangend danach ausstreckt, durchzieht ihr Handgelenk ein reißender Schmerz, als hätte jemand ein glühendes Eisen darauf gedrückt. Sie stöhnte schmerzvoll auf und ein Schrei bleibt ihr in der Kehle stecken.
Das schmutzige Gesicht des Mannes erscheint über ihr, während er mit dem Fuß wieder von ihrem Handgelenk tritt. Doch damit macht er den Weg freimacht für noch größere Schmerzen, die sich nun bis zu ihrer Schulter hinauf ziehen. Speichel tropft aus seinem Mund auf sie herab, als sein Lächeln das Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse zu verzerrt.
„Hübsches Täubchen ... Armes Täubchen.“ Er schmunzelt, als er die Hand hebt und seine Faust ungebremst gegen ihre Schläfe sausen lässt. Ihr Kopf fliegt zu Seite und ein störender Piepton breitet sich in ihrem Kopf aus, der alles andere verstummen lässt. Ihr Kopf fühlt sich an, als würde ihre Hirnmasse nach außen drängen und gleich explodieren. Noch mehr Blut sammelt sich in ihrem Mund, läuft ihr Mundwinkel hinab und besprenkelt den staubigen Boden.
Wie in Zeitlupe sieht sie da noch immer den regungslosen, samtgrau schimmernden Körper von Milo liegen, der es schon hinter sich hat. Sie sieht Selena in einiger Entfernung verbissen kämpfen, bevor Flint sie mit roher Gewalt mit sich zurück zieht und auf der anderen Seite, in unerreichter Ferne, sieht sie sogar Conor. Sie sieht wie er schreit, wie sich sein Mund bewegt, aber sie kann nicht hören, was er sagt. Aber er starrt sie an und irgendwie ist der Blick in seinen Augen Antwort auf alle Fragen, die sie immer an ihn hat.
Dann wird alles um sie herum schwarz. Und irgendwie ist das der angenehmste Teil.
12. Kapitel
Das Erste, was direkt in ihr Bewusstsein dringt, ist ein bestialischer, lauter Schrei. Das ruckartige Aufrichten ihres Kopfes lässt sie im nächsten Augenblick beinahe ebenso laut schreien. Alles schmerzt so sehr, dass sie den Ursprung davon zunächst nicht einmal ausmachen kann.
Erneut ein langgezogener Schrei, mehrere wild durcheinander rufende Stimmen, allesamt unbekannt. Dann folgt ein gleichmäßiges Ratschen, ein weiterer Ausruf voller Qualen, doch dieses Mal gedämpft, als halte man dem Mann den Mund zu. Rainn versucht ihre Augen zu öffnen, doch als sie ihre Lider bewegt, zieht sich ein reißerischer Schmerz durch ihre linke Gesichtshälfte. Sie blinzelt und probiert zunächst nur etwas durch ihr rechtes Auge zu erkennen. Um sie herum ist alles stockfinster. Sie starrt zunächst auf ihren Schoss hinab, versucht ihre eigenen Hände zu lokalisieren und realisiert im nächsten Moment, dass sie sich unbeweglich auf ihrem Rücken befinden.
Wieso hat sie es sechsundzwanzig Jahre lang geschafft nicht gefesselt zu werden und innerhalb weniger Wochen befindet sie sich nun zum zweiten Mal in dieser nervigen Situation? Sie versucht sich zu bewegen. Ihre Schultern brennen, als habe sie mit dem ganzen Gewicht darauf geschlafen und es bringt sie auch herzlich wenig weiter. Deswegen hebt sie langsam den Blick, noch immer ein Augen zugekniffen und sieht nach vorne. Es ist alles dunkel um sie herum. So dunkel, dass sie rein gar nichts ausmachen kann. Nach ein paar Sekunden bemerkt sie das leichte Flackern von Lichtern von der Seite und dreht vorsichtig ihren, gefühlt tonnenschweren, Kopf in die Richtung. Tatsächlich kann sie eine Mauer ausmachen, hinter welcher der Schein von Feuer zu erkennen ist. Und noch immer ertönt von dort das gleichmäßige Ratschen einer Säge, auch wenn der Schrei aufgehört hat und es eigenartig still geworden ist.
„R…rainn?“, vernimmt sie plötzlich eine zaghafte, gebrochene Stimme neben sich. Erschrocken reißt sie den Kopf nach links und öffnet auch das andere Auge.
„Ah, verdammte Scheiße!“, flucht sie laut, als diese Bewegung sowohl enorme Kopfschmerzen auslöst, als auch das Brennen wieder hervorruft, als wäre ihr Augenlid eingerissen. Dennoch schafft sie es einen kurzen Moment einen Blick auf die Person neben sich zu erhaschen. Hätte sie sich nicht in den letzten Wochen so intensiv mit ihr auseinander gesetzt, hätte sie wohl keinen Schimmer gehabt, wer die Person neben sich ist. Doch den kleinen, zerbrechlichen Körper von Ruby und den lockigen Rotschopf hätte sie wohl unter tausenden wiedererkannt.
„Was … Was ist los?“, stottert Rainn und schmeckt dabei Blut und Sand in ihrem Mund. Sie versucht diese ekelhafte Kombination ausspucken, doch das Meiste bleibt dabei unelegant an ihrem Kinn hängen.
„Sie haben eine Pause eingelegt, weil der Typ, den Milo gebissen hat, zu viel Blut verloren hat. Ich glaube sie … ich glaube sie schneiden ihm gerade den Arm ab.“
Milo. Für einen Moment glaubt Rainn, dass all das nur ein böser Traum gewesen ist. Sie hat noch nie einen Menschen getötet, sie noch nie gewaltvoll sterben sehen. Die Gedanken daran sind ist schon so absurd, dass all das, was danach kam, noch viel weniger der Wahrheit entsprechen kann. Das darf alles so nicht geschehen sein. Milo muss irgendwo noch schwanzwedelnd auf sie warten. Alles andere ist eine Unmöglichkeit.
Doch allein, dass ihr verletztes Augen brennt, als es sich mit Tränen füllt, ist Beweis genug. All das ist tatsächlich geschehen. Milo. Als die Erkenntnis über sein Verlust tiefer in ihr vordringt, quälen ihre Gedanken sie schlagartig mit allen möglichen Bildern von ihm, die sie in ihrer gemeinsamen Zeit sammeln konnte. Sie sieht ihn vor sich, wie er als Welpe zu ihnen gekommen ist, wie Dad ihn trainierte. Ihre erste gemeinsame Jagd, die so miserabel gelaufen ist. So viele kostbare Momente, die nunmehr nichts anderes als Erinnerungen sein werden. Er gab sein Leben für sie. Gott, wieso konnte er nicht Zuhause bleiben, so wie sie es geplant hat? Sie ahnte doch schon, dass so etwas passieren würde! Er hätte nie mit ihr kommen sollen. Dämlicher, dämlicher Hund!
Ein tiefsitzendes Schluchzen löst sich ruckartig aus ihrer Kehle und kommt als ein klägliches Stöhnen nach draußen. Jede Faser ihres Körpers reagiert mit Schmerz auf die Erkenntnis. Und jedes Ziehen, jedes Brennen fühlt sich so gerechtfertigt an. Sie muss jetzt leiden, muss es jetzt fühlen. Sie hat ihn verloren. Ihr letztes Stück Familie. Ein letztes Stück Zuhause. Nun ist sie endgültig alleine.
„Rainn?“ Die unsichere Stimme von Ruby dringt irgendwie durch den dichten Nebel der Trauer zu ihr durch. Rainn würde sie am liebsten anschnauzen, dass sie sie gefälligst in Ruhe lassen soll. Dass sie sich um ihren eigenen Scheiß kümmern soll, weil sie nun vorhat sich in ihrem Selbstmitleid zu suhlen und damit nie wieder aufzuhören. Doch sie bringt es nicht über sich, als sie an Rubys Situation denkt und ihr klar wird, dass hier eine junge Mutter angekettet neben ihr liegt, die fast noch ein kleines Kind ist. Sie muss sich irgendwie in den Griff bekommen, auch wenn es schmerzt. Ist alles irgendwann überstanden, kann sie trauern und daran zu Grunde gehen. Aber nicht hier und nicht jetzt.
Sie atmet noch ein paar mal zittrig aus und ein und spürt dabei ein Ziehen zwischen ihren Rippen. „Es … es geht wieder. Puh …“
„Was … was tun wir denn jetzt?“
Rainn lacht bitter auf. Falsche Entscheidung. Erneut schmerzen ihre Rippen als hätte jemand Stacheldraht darum gewickelt. „Du denkst, dass ich das weiß? Ich hab nicht mal die leiseste Ahnung was das für Kerle sind.“
„Das sind Räuber“, erklärt sie überrascht, als müsse sie Rainn gerade erklären, dass der Himmel blau ist. Gott, selbst in dieser Situation verhält sie sich wie ein naives Kind.
Rainn stöhnt, während sie sich gleichzeitig versucht in eine bequemere Position zu drücken. Ihre Augen haben sich nun soweit an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie erkennen kann, dass man sie in eine Art Ruine untergebracht hat. Abgebrochene Backsteinmauern, wie sie es nur aus den Geschichtsbüchern kennt. Verbogene und nach oben gekrümmte Reste von Stahlmatten um sie herum. An eben solche hat man sowohl Ruby als auch sie gefesselt. Ihre Beine sind ebenfalls zusammengebunden. Und sie sind alleine. Man scheint wohl keinen Zweifel daran zu haben, dass sie entkommen könnten. Zu recht.
„Ich wusste, dass das irgendwann passiert“, schluchzt Ruby plötzlich. „Sie … sie haben meine Mutter ebenfalls mitgenommen und … Caldwell hat versprochen, dass ich in Sicherheit bin, aber ich wusste einfach… ich wusste, dass sie kommen würden. Und ich muss doch zu meinem Baby … er hat noch nicht einmal einen Namen.“
Rainn sieht zu der dunklen Silhouette neben sich. Zu dem noch so kindlich wirkenden Mädchenkörper, der absurderweise noch immer den Rest des Schwangerschaftsbauches zeigt.
„Hey ... Ruby … beruhig dich. Vielleicht können wir mit ihnen verhandeln, irgendwas ausmachen. Was wollen sie?“
In diesem Moment blickt das tränenüberströmte Gesicht so überrascht zu ihr auf, als habe sie jede Trauer vergessen. „Aber sie wollen doch uns, Rainn. Dich und mich. Sie brauchen uns.“
„Was? Wieso sollten sie uns brauchen?“
„Nicht uns. Nur unseren Körper.“
Rainn muss sich fragen, ob sie selbst nur so schwer von Begriff ist, weil das ein Thema ist, vor dem sie sich bislang immer vollkommen verschlossen hat. Sie ist in diesem Moment nämlich noch meilenweit davon entfernt zu verstehen, was das Mädchen ihr gerade gesagt hat. Rubys Wangen sind noch immer tränenüberströmt und diese ziehen krakelige Linien durch ihr schmutziges Gesicht. Es ist wohl nur der Verwirrung in Rainns Gesicht zu verdanken, dass sie nun weiterspricht.
„Wir sterben langsam aus. Und … und vor ein paar Jahren, ich war noch ein kleines Kind, haben unsere Anführer beschlossen, dass keine Möglichkeit auf ein Leben verschwendet werden darf. Sie haben Räubergruppen gebildet, die durch das Land gestreift sind und Frauen suchten, diese dann Zuhause … schwängerten. Caldwell und ein paar andere wollten das nicht mehr mit ansehen und sind weggegangen, haben ihre eigene Gemeinschaft gegründet. Aber sie kommen wieder und wieder, nehmen sich, was sie glauben, was ihnen zusteht. Nur um die Menschheit zu erhalten, wie sie sagen.“ Ruby beendet ihre Erklärung mit verächtlicher Stimme. Rainn starrt sie an, schüttelt leicht den Kopf und sieht zu dem flackernden Lichtschein hinüber, von welchem aus sie noch immer Stimmen hört. Ein Schauer kriecht ihr das Rückgrat entlang, als sie daran denkt, was das für Ruby und sie bedeutet. Und mehr noch; was es für alle Frauen bislang bedeutet hat, die zuvor ihr Schicksal erleidet haben mussten. Viele Dinge ergeben plötzlich auf eine bizarre Art und Weise Sinn. Selenas animalisches Verhalten gegenüber den Männern, Caldwells Erstaunen über die Menschenmassen in B5 und vielleicht auch Rubys frühe Schwangerschaft, mit welcher sich Rainn noch immer nicht ganz anfreunden kann.
Sie räuspert sich und versucht wieder etwas Klarheit in ihren Kopf zu bekommen. „Wo genau bringen sie uns hin?“
„Ich … ich weiß es nicht. Ich war noch ein Kind, als wir von dort geflohen sind. Es waren große Hallen, viel Stahl und Eisen über unseren Köpfen.“
Mit Mühe und Not unterdrückt Rainn ein Augenrollen. Damit kann man tatsächlich herzlich wenig anfangen. „Und wie viele sind es dort?“
„Ich weiß nicht … vielleicht einhundert?“
„Mehr nicht?“
„Keine fünfhundert so wie bei euch.“
„Das ist mir schon klar … Moment! Woher weißt du das eigentlich?“ Rainn ist sich fast sicher einen roten Schleier auf Rubys Wangen zu erkennen, auch wenn das in der Dunkelheit natürlich Quatsch ist. Stattdessen senkt sie den Blick und scharrt mit den Fersen in dem Geröll unter sich.
„Ich hab’s gehört. Am Morgen als die Räuber kamen, habe ich Selena und Caldwell belauscht. Sie war gerade von der Tour zurück und hat ihm berichtet, dass dort nicht alles so ist, wie es scheint.“
„Was willst du-“ Doch weiter kommt Rainn nicht, denn das Poltern wird schlagartig lauter und im nächsten Moment schon taucht ein breiter Schatten im Schein des Feuers auf, der kleiner wird je näher er ihnen kommt. Rainn drückt sich automatisch nach hinten und fühlt dort die Stahlstange unnachgiebig zwischen ihren Schulterblättern.
„Ihr seid ja wach, kleinen Täubchen“, grunzt der Mann vor ihnen und zieht geräuschvoll die Nase hoch. Ein Ekel kriecht ihren Rachen hoch, füllt ihren Mund mit einem sauren Geschmack. Es fällt ihr ungewohnt schwer ihre Angst in den Griff zu bekommen, die sie dazu bringt die Zähne aufeinander zu beißen. Sie weiß plötzlich ganz genau, warum die Gefangenschaft bei Selena und Conor sich so anders angefühlt hat. Weil sie gute Menschen sind. Und diese hier sind es ganz offensichtlich nicht. Der jahrelange Missbrauch der Frauen hat ihre Handlungen zu einer Selbstverständlichkeit werden lassen, zu einem gewissen Vergnügen. Rainn wird kotzübel, als sie zu dem Riesen aufsieht und sich zwangsläufig vorstellen muss wie es wohl ist, ihm schutzlos ausgeliefert zu sein.
Der Riese nähert sich in gemächlichen Schritten, kickt dabei spielerisch den ein oder anderen Stein aus seinem Weg. Mit einem Schnaufen geht er schließlich vor Rainn in die Hocke. Sie sieht, dass er sich seine blutigen Hände mit einem Tuch abwischt, die Augen funkeln dabei belustigt aus seinem stark beharrten Gesicht heraus.
„Wir mussten Bors den Arm abhacken. Dein Köter hat ihm ordentliche Verletzungen zugefügt. Hat bekommen, was er verdient hat, wenn du mich fragst. Bin mir nur nicht sicher, ob Bors den Weg übersteht. Ihn eingerechnet hast du fünf unserer Leute mitgenommen. Ist ’ne beachtliche Zahl für ’ne Frau wie dich.“
„Alle Achtung. Du wirkst nicht wie jemand, der bis fünf zählen kann“, zischt Rainn mit wild schlagendem Herzen und versucht dem bohrenden Blick des Mannes mit triefender Wut in der Brust standzuhalten. Er schnaubt lächelnd auf, reibt sich noch immer gemütlich die Hände trocken. Der Geruch von Schweiß mischt sich nun mit dem eisenhaltigen Geruch des Blutes.
„Vielleicht interessiert’s dich, dass du nicht nur deinen scheiß Köter auf dem Gewissen hast, sondern auch der Grund bist, warum wir euch mal wieder besucht haben. Wir wussten, dass ihr euch da unten verschanzt, kennen jeden einzeln da. Und dann tauchst du auf. Wie aus dem nichts. Und siehst dabei so … gepflegt, wohlgenährt und … hübsch aus.“ Sein Zeigefinger streicht über ihre Wange. Rainn versucht sich so weit es geht von ihm weg zu lehnen. Ist das der Grund, warum man sie nicht nach draußen gelassen hat? Damit diese Kerle sie nicht entdecken? Wie lange hat Caldwell geglaubt sie vor ihnen verheimlichen zu können?
„Das hat uns neugierig gemacht. Wo kommst du her? Wie ist das Leben dort? Gibt’s da viele wie dich?“ Seine Hand erreicht ihr Ohrläppchen, hält es zwischen Daumen und Zeigefinger und beginnt es zwischen den Fingern zu massierten. Rainn zieht ihren Kopf ruckartig zurück, ignoriert dabei den stechenden Schmerz in ihrem Schädel und entkommt so seinem unangenehmen Griff. Eher wird sie durchs Luftanhalten ersticken, als diesen Affen an ihren Körper zu lassen. Er unterschätzt sie maßlos, das kann sie sehen.
„Was? Und euer Plan war’s nun mich zu entführen, damit ich euch alles sage?“
„Fast.“ Er schmunzelt. „Und falls nicht, haben wir immer noch das andere Täubchen hier.“ Er erhebt sich mit knackenden Knochen und tritt zu Ruby, die bislang alles schweigend mitangehört hat und nun schluchzend zusammenzuckt. Verflucht, das Mädchen muss es Rainn mit ihrer verängstigen Reaktion Rainn nur noch schwerer machen.
„Überleg’s dir Wildkatze. In der Zwischenzeit gönn ich den Männern etwas Spaß mit der Prinzessin. Manchmal reicht’s aus nur mal seine Ohren zu spitzen.“
„Nein! Warte! Stopp! Ich spreche mit euch“, ruft Rainn sofort und reißt verzweifelt an den Fesseln hinter ihr, während Ruby lautstark zu weinen beginnt und der Riese sich zu dem zitternden Körper hinabbeugt, um ihr die Fesseln von der Stahlstange zu lösen.
„Das bringt nur nix. Ich hab’s den Männern versprochen. Die haben heute wirklich schreckliche Dinge gesehen und müssen mal ein bisschen Dampf ablassen. Aber du hast die einmalige Chance sie vor weiterem Übel zu bewahren. Und das solltest du dir durch den Kopf gehen lassen.“ Er lacht, während er Ruby ohne Kraftanstrengung über seine Schulter wirft und gemächlichen Schrittes wieder verschwindet.
13. Kapitel
Es bleibt ihr nicht einmal vergönnt, sich die Ohren zuzuhalten. So fest sie kann presst sie ihren Kopf zwischen die Schulterblätter hinab. So lange bis ihr Nacken schmerzt. Aber es hilft rein gar nichts und dämmt die Geräusche nicht einmal annähernd.
Rainn hat in ihrem Leben noch nie etwas Grauenhafteres gehört, als Rubys Leiden in diesem Moment. Es ist von dem liebevollen Akt, von dem sie so oft gelesen und gehört hat, so weit entfernt wie die Sterne von der Erde. Selbst die animalischen Geräusche, die Selena und Flint von sich gegeben haben, hatten so anders geklungen. Nun vernimmt sie eine Mischung aus widerwärtigem Grunzen, Stöhnen und hämischem Lachen. Jedes weitere Geräusch, jeder zaghafte, leidende Ton von Ruby lässt Rainn innerlich nur noch mehr zerbrechen. Den Kopf eingezogen, die Knie fest an sich herangezogen, beginnt sie zu weinen. Zunächst still, dann lauter, bis ihr Kopf aus ihrem eigenen Summen besteht.
Und so bemerkt sie zunächst auch nicht, dass man ihr von hinten die Fesseln mit einem Ratsch löst und ihre Arme förmlich auseinander fliegen.
„Was …“, stammelt sie und versucht nach hinten zu sehen.
„Ppsssttt“, zischt es in ihrem Nacken energisch. Sie erkennt Conors tiefe Stimme schon an dem simplen Laut. Die Freude darüber, seine Stimme zu hören, löst weitere Tränen aus und verursacht ein herzzerreißendes Schluchzen. Zu mehr ist sie gar nicht in der Lage, als sein Gesicht neben ihrem auftaucht und er sich mit verbissener Miene an den Fußfesseln zu schaffen macht. Er riecht nach Pferd und Leder und irgendwie nach der Form Geborgenheit, die sie auch gefühlt hat, als sie vor ihm auf dem Pferderücken saß. Es kommt ihr vor, als wäre das nun schon eine Ewigkeit her und sie sehnt sich schlagartig nach diesem Moment zurück.
Conor löst ihre Fesseln, schlingt ihren Arm, ohne Rücksicht auf ihre eingerosteten Muskeln, um seinen Hals und zieht sie in geduckter Haltung mit sich.
„Warte … Ruby“, keucht sie neben ihm. Conor stockt in der Bewegung und sieht hektisch zurück. Da hin, wo der Schein des Feuers noch immer gespenstisch auf der Wand flackert, wo die Schatten der Männer zu sehen sind. Wo noch immer Rubys Schluchzen die Nacht erfüllt. Sie sieht die Abscheu in seinem Gesicht, gefolgt von Wut und einer gewissen Verzweiflung. Dann entringt seiner Kehle ein tiefsitzendes Knurren. Sein Blick reißt ab und richtet sich wieder in die Dunkelheit nach vorne. Er zieht sie gewaltvoll weiter, weil ihre Beine ihr kaum mehr gehorchen wollen.
„Nein, nein … stopp!“, versucht sie sich gegen ihn zu wehren und stemmt dabei die Beine in den Schotter der Ruine, die sie noch immer nicht verlassen haben.
„Was glaubst du, was ich tun kann, hm?“, zischt er ihr wütend zu. „Dass sie sie nun haben ist der einzige Grund, warum ich überhaupt erst an dich rankam.“
„Wir können sie nicht im Stich lassen.“ In Gedanken sieht sie, wie diese Männer eine zerbrochene, so blutjunge Rubs zurückbringen. Zu dem einzigen Lichtblick, der noch in Rubys aktueller Situation existiert. Sie sieht die Trauer in ihrem Gesicht, als sie bemerkt, dass Rainn nicht mehr da ist. Dass sie geflohen ist, anstatt ihr zu helfen, sie zu beschützen. Sie hat noch immer ihre unsichere Stimme im Ohr, als sie sie fragt, was sie nun tun sollen. Sie baut auf Rainn, braucht sie.
Doch Conor ignoriert sie, zieht ihren Arm um seinen Hals fester und hebt sie mit seinem anderen Arm um ihre Hüfte an, damit sie ihre Beine nicht mehr in den Boden stemmen kann. Mit einem Schnaufen und Keuchen trägt er sie nun mehr, als dass sie läuft. Rainn wehrt sich noch immer, versucht seinem Griff zu entkommen. Aber ihr Sichtfeld verschwimmt immer wieder vor Anstrengung und ihre Beine leisten kaum mehr Widerstand, egal wie vehement sie es ihnen befiehlt. Und irgendwann gibt sie resigniert auf. Sie fühlt wie der Boden unter ihren Füßen weicher wird, wie es nicht mehr nach staubigen Beton, sondern würzigem Harz zu riechen beginnt. Und dann ist da, wie aus dem Nichts, sein Pferd, an dessen warmen, weichen Hals sie sich klammert, während er schnell die Zügel vom Baum löst und Rainn zum Steigbügel dirigiert. Conor hebt sie mehr hoch, als dass sie nach oben klettert.
Jede einzelne Bewegung fühlt sich wie eine Niederlage an, wie eine Verfehlung, die sie nie wieder wird gut machen können. Sie wird Rubys Gesicht nie vergessen können. Die Schreie, das ekelhafte Grunzen der bärtigen Männer auf dem kleinen Körper. Und dann ihre erbärmliche Flucht. Wie soll sie zurückgehen? Wie sich jeden Tag im Spiegel betrachten?
Rainn klammert sich an den Sattelknauf, als sich Conor mit einem Schnaufen von einem Stamm auf den Hintern des Tieres wuchtet. Er verliert keine Zeit, rutscht so nah, wie es nur geht, an sie heran und greift nach den Zügeln. Dann führt er das Pferd weg von diesem Ort. Weg von Ruby.
„Halt dich am Sattel fest“, befiehlt er. Seine Stimme so nah an ihrem Ohr, als wenn seine Lippen sich gleich auf die Ohrmuschel legen könnten. Sie gehorcht, weil ihr nicht viel anderes übrig bleibt. Als wäre ihr Wille vollends gebrochen worden. So hält sie sich am Sattelknauf fest, spürt wie Conors Druck um ihren Körper stärker wird, als er das Pferd energisch antreibt. Als sie schließlich aus dem finsteren Pinienwald herauskommen, auf eine sandige, gerade Fläche hinaus, drängt er das Pferd noch weiter voran. Das Tier wechselt in einen Galopp, der Rainn noch stärker gegen seine Brust drückt. Allein die schlichte Anwesenheit seines Körpers ist unerträglich. Alles daran falsch. Sie sollte nicht bei ihm sein. Sie sollte an Rubys Seite sein und dort überlegen, wie sie beide befreien könnte. Sie sollte gemeinsam zurückreiten und sich freuen alle wiederzusehen. Ruby sollte ihren kleinen Sohn wieder in die Arme schließen können, ihm endlich einen Namen geben. Nicht sie sollte hier sitzen, sondern Ruby.
Rainn schließt die Augen, der Wind peitscht kühl in ihr Gesicht. Obwohl ihre geschlossenen Augen ihr nur die Bilder der vergangenen Stunden zeigen, hält sie sie weiter geschlossen, als wenn sie nichts anderes verdient hat. Als wenn das Durchleben der letzten Ereignisse nun ihre Bestrafung ist.
Als sich Conors Hand um ihren Bauch schließt, öffnet sie sie endlich wieder. Er drückt sie fest zurück an seinen Oberkörper, da das Pferd mit einem langsamen Abstieg beginnt. Um sie herum befinden sich tiefe Schluchten. Der Grund ist nicht einmal sichtbar, sondern erscheint stattdessen wie unendliche, schwarze Löcher. Doch das Pferd schreitet unbeirrt weiter einen kleinen Pfad hinab tiefer in den Krater hinein, entlang an spitzen Vorsprüngen. Manchmal ist der Pfad so steil, dass sich Conor mit angestrengtem Atem nach hinten drücken muss, um Rainn mit seinem Gewicht nicht nach vorne aus dem Sattel zu drängen. Außer dem gleichmäßigen Schnaufen des Tieres, dem klappernden Hufen auf dem Steingrund unter ihnen, ist es gespenstisch still um sie. Die Rufe und Schreie verblassen allmählich in ihrem Kopf wie Geister der Vergangenheit.
Nun, da sie endlich wieder etwas zur Ruhe kommt, fühlt sie erneut das schmerzhafte Pochen an ihrer Stirn und das Brennen der offenen Wunde an ihrem Augenlid. Sie spürt den reißenden Muskelkater in ihren Schultern und Armen. Doch das ist alles nichts im Vergleich zu ihren inneren Schmerzen. Mit all den Verlusten, die sie erlitten hat. Es ist ihr irgendwann auch egal, wo Conor sie hinbringt. Sie will nur Ruhe, Frieden und aus diesem Zustand heraus dann auch nicht mehr gerettet werden.
Conor zieht die Zügel leicht zur Seite und steuert das Pferd um eine Kurve, weiter hinab in die Schlucht. Rainn nimmt nur am Rande wahr, wie er schließlich anhält und sich hinter ihr von dem Pferd schwingt. Ohne seinen Oberkörper als Stütze, rutscht sie leicht nach hinten und fängt sich im letzten Moment wackelig, bevor sie Conors Hände auf ihrem Körper fühlt. Er zieht sie ohne Zögern vom Pferd hinab, wo sie im nächsten Moment in seine Arme rutscht. Mit einem Stöhnen fängt er sie, taumelt einen Schritt zurück und hält sie da kurz in seinem Griff.
Doch dann ist ihr plötzlich nichts mehr egal. Sie liegt an seiner Brust, ihre linke, schmerzende Gesichtshälfte ist an sein Schlüsselbein gedrückt. Conor hält sie, stützt sie. Und vielleicht noch viel mehr als das.
„Komm‘“, raunt er heiser und drückt sie leicht von seinem Körper weg, um sie im nächsten Moment in den Schutz der Dunkelheit zu ziehen. Rainn sieht sich träge um. Der kleine Pfad die Schlucht hinab endet unter einem Felsvorsprung, vollkommen verborgen von sämtlichen Blicken von oben. Wie eine kleine Bucht, eine Art Balkon mit Blick auf die Schlucht, deren Grund sie von hier immer noch nicht erkennen kann.
„Wir bleiben erstmal hier“, spricht er mehr zu sich, als zu ihr, während er zu dem Pferd zurück läuft und eine Decke und eine kleinere Ledertasche von dem Sattel löst. Die Decke wirft er achtlos in den Schatten, aus der Tasche zieht er eine Flasche und ein Stück Stoff. Die klare Flüssigkeit träufelt er auf das Tuch, kommt dann zu der regungslosen Rainn zurück und greift nach ihrem Kinn um es in das Licht des Mondes zu drehen.
„Das wird jetzt brennen“, warnt er sie vor, als er sich ihrem Augenlid nähert. Sie nimmt es zur Kenntnis, reagiert aber nicht. Es ist ihr ehrlich egal. Zumindest bis zu dem Moment, als das getränkte Tuch in Berührung mit der Wunde kommt und sie automatisch zurückzuckt. Conor hält ihr Kinn fest und schiebt seine Hand in ihren Nacken, um ein erneutes Wegzucken zu verhindern. Die Zähne fest aufeinander gebissen, erträgt sie schließlich das Brennen, als er beginnt die Wunde zu säubern. Und irgendwann ist es lediglich ein kontinuierlicher Schmerz, ein konstantes Pochen, das von Conors Bewegungen kaum mehr beeinflusst wird. Sie erträgt es weiterhin resigniert mit geschlossenen Augen, als wäre ihr Körper nur noch eine Hülle mit der man machen kann, was man möchte.
„Es muss wohl genäht werden“, murmelt er nachdenklich, als er mit seinen Händen ihr Gesicht weiter abtastet. Sie öffnet vorsichtig die Augen und fängt gerade noch seinen letzten Blick, der durch ihr Gesicht wandert. Er wirkt dabei so gereizt, als hätte sie ihn erneut wütend gemacht. Doch der Ausdruck verschwindet sofort, als sie es bemerkt. Macht es ihn so wütend zu sehen, was ein anderer Mann ihr angetan hat?
Er wirft das Tuch achtlos auf die Tasche zurück.
„Warum sind wir hier?“, will sie noch einem kurzen Moment des Schweigens von ihm wissen. Sie sieht ihm dabei zu, wie er die Decke öffnet und auf dem Boden platziert. Es fällt ihr unendlich schwer zu sprechen, klare Gedanken zu formulieren und im Grunde will sie auch nichts mehr wissen. Sie möchte alleine sein, sich weiter im Selbstmitleid suhlen.
Conor reagiert auf ihre Frage, wie üblich, nicht einmal. Wo sie diese wortkarge Reaktion zuvor unendlich wütend gemacht hätte, so lässt sie das nun beinahe schon kalt. Sie blickt sich mit einem Seufzen um, entdeckt dabei einen kleineren Steinvorsprung und humpelt darauf zu. Dort lässt sich mit schmerzverzerrter Miene nieder.
„Du hättest nicht kommen sollen“, sagt sie mit leiser Stimme, während sie mit ihrem Blick dem Verlauf der Schlucht folgt, die nach einigen Metern einen leichten Bogen schlägt und dann am Horizont verschwindet. „Ich hätte sie retten können.“
„So wie deinen Hund?“, erwidert er gereizt. Sie sieht zu ihm hinüber, verengt ihre Augen. In ihrem Magen spürt sie nun doch die lodernde Wut. Offenbar ist ihr doch nicht alles gleichgültig.
„Wag es nicht.“
„Dann hör verdammt nochmal auf so zu tun, als wärst du ein verfluchter Übermensch!“ Er kommt mit festen Schritten auf sie zu, deutet drohend mit dem Zeigefinger auf sie. „Ich hab dir gesagt, dass du in der Hütte bleiben sollst. Scheiße, wie kann man nur so stur und gleichzeitig so dämlich sein!“
Sie erhebt sich mühevoll und blickt nicht minder gereizt zu ihm auf. „Und ich habe dir gesagt, dass ich nicht dein Problem bin! Du hättest nicht kommen sollen. Und du hast kein Recht dich jetzt aufzuregen. Ihr habt mich mitgeschleift, ob ich wollte oder nicht. Ihr habt mich zu euch gebracht, die anderen auf mich aufmerksam gemacht. Ihr habt Ruby auf dem Gewissen, nicht ich!“
„Sie werden sie nicht töten“, bringt er fast schon trotzig hervor.
„Nein, aber sie wird sich wünschen, dass sie’s tun würden und das weißt du ganz genau.“
„Und was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Dich da ebenfalls lassen, damit’s dir genauso ergeht?“
„Ja, verdammt!“, schreit sie nun außer sich und hat dabei kurzzeitig das Gefühl, dass ihre Stimme durch die hohle Schlucht hallt. Er schnaubt und wendet sich von ihr ab. „Was? Hättest du das nicht mit deinem Gutmensch-Gen vereinbaren können, weil ihr mich erst in dieses Schlamassel gebracht habt? Ich spreche dich von der Verantwortung frei. Du brauchst mich nur noch mit dem Arsch anzugucken, wenn es dein Leben dann leichter macht.“
„Du hast doch keine Ahnung.“
„Ach, und wessen Schuld ist das jetzt wieder? Ihr habt mir bislang einen Scheißdreck erzählt.“ Rainn hält sich mit der Hand am Sandstein fest, als sie spürt wie sie allmählich jede Kraft verlässt. Das Schreien und die Wut kosten sie in diesem Moment jeden Nerv. Conor sieht es sehr wohl, aber er verharrt zögerlich in seiner Position, ihr den Körper halb zugewandt. Sie sehen sich einen Moment schweigend an. Rainn, weil ihr kaum mehr Kraft bleibt, um weiterzuschreien und Conor, weil er eben dies erkennt und ihre Schwäche wohl nicht ausnutzen will.
Nach einer Weile schüttelt Rainn traurig den Kopf. „Caldwell hätte Ruby zurückholen müssen.“
Conor hält ihren Blick für einen Moment starr. Es wirkt, als blickt er dabei direkt in sie hinein. Rainn fühlt sich nackt vor ihm, doch nichts daran erscheint ihr falsch.
Dann senkt Conor den Blick. „Caldwell wollte Ruby auch als Einzige zurückhaben. Aber ich wollte das nicht.“
14.Kapitel
„Warum?“, haucht Rainn, während sich ihre Hand fester um den Stein schließt, an dem sie sich noch immer festhält.
„Er wusste, dass du dein Zuhause nicht verraten und du versuchen würdest sie an der Nase herumzuführen, egal was sie dir antun würden. Ruby in ihren Händen hingegen-“
„Nein“, unterbricht sie ihn grob. „Warum wolltest du das nicht?“
Sie sieht ihn nach ein paar Sekunden des Schweigens schlucken und ahnte, dass sich sein Hals nun staubtrocken anfühlen muss. Weil es ihrer genauso ist. Sie versucht sich nur auf ihn zu konzentrieren, was schwer ist, wenn ihr gleichzeitig das Blut lautstark durch die Ohren rauscht.
„Weil du da nicht durch solltest.“
„Warum kümmert’s dich überhaupt? Das sollte es nicht“, spricht sie leise, gerührt von der Ehrlichkeit, die er ihr endlich entgegen bringt.
„Nein …“, stimmt er ihr zu, „… sollte es nicht. Tut’s aber.“
Er zuckt hilflos mit den Schultern und alles an ihm scheint sich plötzlich zu verändern. Der grundsätzlich gereizte Gesichtsausdruck weicht eine Verletzlichkeit, die Rainn vollkommen neu an ihm ist. Es ist beinahe schon traurig zu sehen, wie sehr er versucht, sich gegen diese Gefühle zu wehren und wie verzweifelt es ihn macht, dass er einfach nicht an ihr vorbei kommt.
Sie denkt daran zurück, wie sie ihn zum ersten Mal über das Lagerfeuer hinweg beobachtet hat, während seine Schwester sich im Hintergrund mit Flint vergnügte. Alles an dieser Situation ist so verstörend und fremd gewesen. Nichts davon ergab auch nur annähernd Sinn. Dennoch hat sie diese Tatsache so schnell akzeptiert und nach vorne geschaut, weil in diesem Augenblick eine Verlässlichkeit in Conors Blick gewesen ist. Eine Verlässlichkeit, die dort bis heute ist. In dem Wirrwarr, welches nun ihr Leben zu sein scheint, ist er eine Konstante, die all dem einem gewissen Sinn gibt, auch wenn sie es noch nicht vollkommen versteht. Hier steht sie nun und fordert von ihm sie im Stich zu lassen, realisiert aber im gleichen Moment, dass sie es selbst auch nicht tun würde, wenn es umgekehrt gewesen wäre.
„Danke“, haucht sie schließlich, weil es das Einzige ist, was ihr in den Sinn kommt und sich nicht vollkommen bescheuert anhört. Er atmet geräuschvoll und wippt dann mit dem Kopf auf und ab, als akzeptiere er ihren Dank.
„Wir sollten warten, bis es Tag wird, bevor wir zurück reiten. Sie werden nicht wagen uns erneut Zuhause anzugreifen, dafür sind sie jetzt zu geschwächt, aber sie können sich hier noch rumtreiben und uns abfangen.“
„Okay“, gibt sie kleinlaut bei. Sie beobachtet ihn, wie er die Decke auf den Boden ausbreitet, sich selbst mit einem gequälten Stöhnen darauf, und die Arme auf die herangezogenen Knie ablegt. Rainn nähert sich ihm langsam, lässt sich mit einer gewissen Anstrengung neben ihm nieder. Gemeinsam sehen sie schweigend in die unglaubliche Landschaft und manchmal hinauf in das atemberaubende Himmelszelt mit all seinen funkelnden Sternen.
„Tut mir leid wegen dem K… wegen dem Hund“, sagt er schließlich in der Stille.
„Danke“, erwidert sie lächelnd und schaut mit geneigtem Kopf zu ihm hinüber. Conor hält ihren Blick nur kurz.
„Ist schon das zweite Mal, dass du dich bei mir bedankst.“
„Hast mir eben bislang nicht viel Grund dazu gegeben.“ Sie bemerkt, dass sein Mundwinkel verräterisch zuckt und er sich, um das zu vertuschen, über den Hinterkopf reibt. Mit geneigtem Gesicht sieht er dann jedoch mit einem Schmunzeln zu ihr.
„Danke, dass du mir daheim den Arsch gerettet hast. Das waren ein paar ordentliche Schüsse.“
„Ich hab noch nie vorher jemanden getötet.“ Sie spielt mit dem Saum der Decke und zieht die Augenbrauen nachdenklich zusammen. „Ich hab immer gedacht, dass es schwierig sein wird. Mich hat am meisten daran erschreckt, wie einfach es ging. Loslassen und schon ist ein Leben ausgelöscht, ohne Zweifel und ohne Bedauern.“
„Du hast die richtigen Männer getötet.“ Seine Stimme vibriert durch ihren Brustkorb hindurch und ist so voller Mitgefühl, dass sie am liebsten die Arme um ihren Körper geschlungen hätte, um das Gefühl, welches er da auslöst, noch weiter festzuhalten. Doch stattdessen sieht sie nur neugierig zu ihm hinüber.
„Ruby hat mir erzählt, dass ihr einmal ein Teil von ihnen wart.“ Conor greift nach einem Stein neben sich, wirft ihn lässig zwischen seinen Händen hin und her.
„Mhm“, bestätigt er mit zusammengepressten Lippen. Dann sieht er zum Himmel hinauf. „Als es noch nicht so schlimm war. Sie hatten einen Punkt, das war das Problem. Viele Männer und Frauen sind wie Selena. Sie probieren es immer und immer wieder, aber werden nicht schwanger. Manche sagen, dass das die Nachfolgen des Krieges sind. Die Strahlung und all der Scheiß. Dann starben einige an einer Seuche und innerhalb von wenigen Jahren hat sich die Gemeinschaft halbiert. Die Anführer sahen sich gezwungen diese Entscheidung zu treffen und am Anfang haben wir’s noch mitgetragen, solange die Frauen einverstanden waren. Aber dann …“ Er fährt sich erneut mit der Hand über den Nacken, beißt kurz die Lippen aufeinander. Aber er sieht nicht zu Rainn, als er weiterspricht. „Viele Frauen wollten schlichtweg nicht und als sie die ersten zwangen, hat sich ’n Schalter umgelegt. Irgendwann kamen sie mit fremden Frauen an, denen man angesehen hat, dass es nicht ihr freier Wille war mitzukommen. Caldwell war einer der Anführer, hat noch versucht Einfluss zu nehmen. Aber es war nicht möglich. Also ist er weg und hat uns freigestellt mitzukommen.“
„Sie haben euch einfach gehen lassen?“, hakt sie neugierig nach.
„Nicht einfach, nein. Sie haben nur die Frauen gehen lassen, die keine Kinder kriegen konnten. Aber Caldwell hat alle, die trotzdem wollten, einfach mitgenommen. Auch wenn’s nicht so viele waren. Ist nicht gut angekommen.“ Er wirft den Stein nun von sich weg in die Schlucht hinein und blickt dann hinab zu der Decke, auf der sie sitzen. „Sie kommen immer mal wieder, zerstören uns nicht vollkommen, aber lassen uns spüren wie falsch unsere Entscheidung war, wie sie stärker und stärker werden und wir immer schwächer.“
„War’s das denn? Eine falsche Entscheidung meine ich?“
Er sieht zum ersten Mal wieder zu ihr hinüber. „Sag du’s mir. Hat sich das, was sie Ruby angetan haben, wie das Richtige angefühlt?“
Sie schaut von ihm weg nach vorne und versucht die Schreie zu verdrängen, die sich in ihrem Gedächtnis bis an die Oberfläche schrauben. Wie unendlich verschieden ihr Leben bislang gewesen ist. Sie denkt mit einem Schlag wieder an Zuhause, an den Grund für ihre Flucht. All das ist so lächerlich. Begründbar mit Logik, aber so unheimlich weit von Menschlichkeit entfernt. Sie will Conor so gerne von all der Absurdität in ihrem Zuhause berichten, aber sie traut sich schlichtweg nicht. Hier kämpft man erbarmungslos um jedes Leben und Zuhause wirft man es weg, weil es im Überfluss existiert. Sie weiß in diesem Moment nicht, welche Form die Grausamere ist.
„Hier.“ Er reißt sie plötzlich aus den Gedanken. Überrascht sieht sie zu ihm hinüber auf das, was er ihr entgegenstreckt. Sie blickt von dem leuchtenden Gegenstand zu ihm auf. „Deinen Bogen hab ich nicht mitgenommen. Dazu hätte ich erstmal die ganzen Pfeile einsammeln müssen“, erklärt er schulterzuckend.
„Ich will mich nicht schon wieder bei dir bedanken müssen.“ Sie lacht glücklich auf und greift nach dem Messer ihres Vaters in seiner ausgestreckten Hand. Es leuchtet im Mondschein silbrig und rein.
„Dann tu’s nicht. Ist auch egal.“
Sie nimmt das Messer in die Hand und hält die Klinge ins Licht. „Es gehörte meinem Vater. Er hat’s mir geschenkt, bevor ich weg bin.“
„Er wusste, dass du gehst?“
Rainn sieht zu ihm hinüber und grinst. Das ist die erste Frage, die er ihr zu ihrem alten Leben stellt und auch er scheint es zu merken. Er zieht leicht den Mundwinkel in die Höhe, als ihr Blick seinen trifft.
Mit einem süffisanten Lächeln sieht sie schließlich wieder von ihm weg und dreht die Klinge spielerisch im Boden. Seine Frage lässt sie unbeantwortet und das ist ein ziemlich gutes Gefühl.
„Nur fair.“ Er lacht leise, nachdem er realisiert, warum sie ihm nicht antwortet. Sie will gerne mit ihm sprechen, ihm alles von sich erzählen, nur um dann ebenfalls alles von ihm zu erfahren, aber irgendwie mag sie es so. Sie genießt es, dass es noch immer Dinge zwischen ihnen gibt, die unausgesprochen sind und die sie nicht voneinander wissen. Vielleicht auch niemals erfahren werden. Denn irgendwie spielt es auch keine Rolle. Was geschehen ist, ist geschehen und hat sie zu den Personen gemacht, die sie nun mal sind.
Als Rainn wieder nach vorne sieht, meint sie zu erkennen wie sich der Himmel am unteren Ende des Horizontes langsam heller färbt. Ein neuer Tag kommt und sie wird sich im Laufe dessen all dem stellen müssen, was geschehen ist. Doch hier und jetzt genießt sie die Ruhe auf ihrer einsamen Insel inmitten dem tosenden, weit entfernten, Meer, das sie umschließt.
Nach einiger Zeit sieht sie zu ihm, nur um festzustellen, dass er sie bereits anstarrt und leicht das Kinn hebt, als sich ihre Blicke treffen. Aber er schaut nicht wieder weg, so wie er es sonst immer tut. Sein Gesicht wirkt ungewohnt entspannt.
„Du hast das Messer mitgenommen, weil du dir sicher warst mich zu holen.“
„Oder weil’s ‘n schönes Messer is“, entgegnet er mit ernster Miene, aber sie kann genau hören, dass er es nicht so meint, weil es stattdessen genau so war, wie sie gesagt hat. Er hat es mitgenommen, weil er den Moment erleben wollte, in dem er ihr es wiedergeben und sie ihm dankbar sein wird. Wenn sie wieder zusammen sind.
Sie legt das Messer vorsichtig zur Seite, dreht sich langsam herum, so dass sie nun auf ihren Knien vor ihm sitzt. Er bewegt sich noch immer nicht, beobachtet nur aufmerksam jede ihrer Bewegungen. Auch als sie sich auf allen Vieren zu ihm nach vorne lehnt, verharrt er, die Arme noch immer auf seinen Knien abgestützt. Er muss genau sehen, was sie vorhat, aber tut nichts, um sie zu bekräftigen oder abzuwehren. Rainn ist sich selten zuvor so sicher gewesen, was sie nun tun will. Was sie schon die ganze Zeit über hatte tun wollen, nachdem er sie am Wassertank so überrumpelt hat. Sie sieht ihn an, bemerkt eine Menge Zweifel in seinem Blick, aber auch etwas, was sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hat. Eine Offenheit, die sich immer stärker auszubreiten scheint je näher sie ihm kommt. Und die erst verschwindet, als sie ihn fast berührt, ihre Nasenspitze schon seine streift.
Dann zieht er seinen Kopf plötzlich nach unten, murmelt ein „Nicht“ und lässt Rainn damit fassungslos zurück.
„Bitte? Und … du darfst das, wann immer du willst?“, bringt sie entrüstet hervor. Conor hebt den Kopf, sieht sie verwirrt an, während sie sich wieder leicht von ihm wegbewegt und nun wie ein Idiot auf allen Vieren vor ihm steht. Selten zuvor hat sie sich so erniedrigt gefühlt, ist aber dennoch so gefangen in ihrer Position, weil sie gleichzeitig nicht glauben kann, ihn so falsch eingeschätzt zu haben.
„Du hast mich damals mit Gewalt weggestoßen.“
„Ich war … wütend. Du hast mich wütend gemacht“, rechtfertigt sie sich aufgebracht. Aber als sie keinerlei Verständnis in seinem Gesicht ausmachen kann, zieht sie sich schnaubend zurück. „Weißt du, du hast Recht. Das war eine echt miese Idee.“ Noch bevor sie vollkommen außerhalb seiner Reichweite ist, bemerkt sie, wie er mit sich zu ringen scheint. Er atmet schneller, spannt sich merklich an und blickt schließlich mit aufgeblähten Nasenlöchern zu ihr.
„Ach, Scheiße“, ist das Letzte was er sagt, bevor er nach ihrer Schulter greift und sie nicht gerade sanft zur Seite wirft. Mit einem erstickten Laut kommt sie auf dem Rücken neben ihm zum Liegen und hat kaum eine Verschnaufpause, als sein Gesicht über ihrem erscheint. Sie erhascht noch einen Blick in seine dunklen Augen, die schlagartig so fernab von dem Blauton sind, das sie dort ansonsten findet. Dann auf seinen Mund und im nächsten Augenblick verschwimmt alles.
Sie fühlt unter anderem eine Menge Schmerzen in ihrem Körper, die all von den Strapazen zuvor stammen, doch mit Conors Mund auf ihrem empfindet sie sie beinahe schon als bittersüß. Wie ein verlangendes Ziehen und Brennen, das ihr verdeutlicht, dass das gerade wirklich geschieht. Und es ist kein Vergleich zum ersten Mal, als er sie geküsst hat. Wenn man es denn überhaupt einen Kuss nennen konnte.
Ihre Hände schlingen sich verlangend um seinen Hals und krallen sich in seinen Nacken, nur damit er sie jetzt nicht mehr loslässt. Sie nicht mehr von sich stößt. Auch wenn er es nun ist, der mit der Hälfte seines Gewichtes auf ihr liegt und sie nach einer kurzen Verschnaufpause, in der sein Mund stumm auf ihrem gelegen hat, zu küssen beginnt, als wäre er in Eile. Seine Hände halten ihr Gesicht, doch als sie schmerzhaft stöhnt, weil er dabei ihre misshandelte Seite streift, lässt er davon ab und konzentriert sich wieder auf ihren Mund.
Er bewegt seine Lippen an ihren und Rainn hat Schwierigkeiten ihm dabei entgegenzukommen. Irgendwie lässt sie das Gefühl nicht los, dass er einiges nachzuholen hat. Ist es ihm schon häufiger durch den Kopf gegangen sie zu küssen? Jedes Mal, wenn er dachte, dass sie ihren Mund halten soll? Sie wünscht sich, dass er es schon viel früher getan hätte. Dass sie seitdem nichts anderes getan hätten. Vielleicht ergäbe dann alles so viel mehr Sinn, wäre so viel einfacher.
Conor reibt seinen Mund verlangend an ihrem, schnappt nach ihrer Unterlippe, als sie die Lippen nur einen spaltbreit öffnet, um etwas Sauerstoff in ihren überhitzten Körper zu bekommen. Und dann ist sie ihm noch so viel näher, schmeckt ihn so viel intensiver, als zuvor. Es ist nicht länger ein harmloser Kuss von sich zaghaft ertastenden Lippen. Sie presst ihn fester an sich und er kommt ihr entgegen, vergräbt sie nun fast vollständig unter seinem Gewicht. Seine Arme stützen sich nur wenig neben ihrem Kopf. Rainn fühlt wie sich kleine Steinchen schmerzhaft in ihr Rückgrat bohren, zahlt es ihm heim, indem sie sie aufbäumt und ihn damit dazu bringt den Kopf nach unten zu biegen, um sie weiter zu küssen. Und er tut es, offensichtlich nun nicht mehr in der Lage mit all dem aufzuhören. Bei all der Scheiße, die bislang passiert ist, brauchen sie das nun wie Verdurstende das Wasser.
Seine Zunge berührt ihre vorsichtig, dann stürmischer, als sie ihn mutig begegnet. In ihre schwere Atmung mischt sich Conors leises, verlangendes Stöhnen tief aus seinem Brustkorb. Als sie es das erste Mal vernimmt, jagt ein Schauer ihren Rücken entlang. Sie sackt wieder hinab auf den harten Boden und zieht ihn so schnell mit sich, dass ihre Zähne erneut aufeinanderschlagen. Er nuschelt eine gebrochene, kaum verständliche Entschuldigung, stoppt sich aber keineswegs.
Rainn weiß in diesem Moment ehrlich nicht, ob sie jemals zuvor solche intensiven Gefühle empfunden hat, die so ziemlich jeden Muskel, jeden noch so kleinsten Winkel ihres Körpers berühren. Nicht einmal bei Sawyer. Nicht einmal annähernd bei Sawyer. Es ist Spaß gewesen, etwas, was sie gerne getan hat. Aber irgendwann war es immer wieder genug. Doch hier und jetzt ist sie sich keineswegs sicher, ob das, was sie hier tun, ausreichen wird, um ein eigenartiges Verlangen zu stillen, das in ihr wächst und wächst.
Als er mit seinem Mund über ihre gesunde Gesichtshälfte wandert und sein heißer Atem ihr Ohrläppchen trifft, realisiert sie erst, dass sich ihre Hände von seinem Hinterkopf wegbewegt haben und seinen Hintern auf sich drücken. Gott, sie hat noch nie den Hintern eines Mannes in den Händen gehalten, selbst mit all den Klamotten darüber. Dennoch scheint eben diese Geste wie eine kalte Dusche auf Conor zu wirken. Seine Bewegungen ersterben schlagartig und lediglich sein schneller, feuchter Atem an ihrem Ohr zeugt noch von der Anstrengung der letzten Minuten.
Rainns Hände wandern wieder nach oben, plötzlich nicht sicher, wohin damit, als wäre der Zauber von der ein zu der anderen Sekunde verpufft. Aber alles in ihr drin bebt noch immer. Vielleicht weil er ihr mit seinem Gewicht auf ihrer Brust weiterhin die Luftzufuhr abklemmt. Alles fühlt sich an wie in Watte gepackt. Selbst ihre Lippen wirken wie angeschwollen und eigenartig taub. Ganz zu schweigen von ihrem Innersten.
Langsam stemmt er sich mit den Händen nach oben, sieht jedoch nicht zu ihr, sondern fixiert einen Punkt neben ihrem Kopf. Sie will ihn schlagartig wieder küssen, als sie sein Gesicht über ihrem sieht. Sie will, dass er exakt da weiter macht und nie wieder aufhört. Aber egal, was ihm gerade durch den Kopf geht, es reicht aus, um wieder die alte Maske aufzulegen. Sich wieder hinter seinem verschlossenen Blick zu verschanzt.
Er rollt sich zur Seite, kommt neben ihr auf dem Rücken zum Liegen und starrt nach oben in den Himmel, der tatsächlich langsam den neuen Tag ankündigt. Rainn richtet sich auf, sieht zu ihm herüber.
„Du wirst mich jetzt nicht schon wieder ignorieren, verstanden?“ Sie versucht sicher und selbstbewusst zu klingen, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Aber sie weiß nicht, ob ihr das wirklich gelingt.
Er schnaubt und sie weiß ehrlich nicht, ob aus Belustigung oder weil er genervt ist, weil er dabei gleichzeitig sein Gesicht hinter seinen Händen verbirgt und sich darüber streicht, als versuche er die letzten Sekunden so loszuwerden. Als er die Hände wieder sinken lässt, sieht er zu ihr. Zerknautscht und müde, aber Rainn realisiert in diesem Moment, dass er trotzdem der schönste Mann ist, den sie jemals gesehen hat.
„Is es das was du willst? Händchenhaltend durch die Gegend laufen?“
„Sicher nicht! Ich hab recht deutlich gesagt, was ich will: Ich will nicht mehr ignoriert werden.“
Er seufzt nochmal und sieht dann in den Himmel zurück. „Wenn wir wiederkommen wird eh alles anders werden.“
15.Kapitel
Alles ist plötzlich anders. Zumindest für Rainn.
Ob es Conor ähnlich ergeht, kann sie nicht einmal sagen. Er fällt sogleich in seine Conor-hafte Ablehnung zurück, die hauptsächlich darin besteht wie ein Toter zu schweigen und sie nicht anzusehen. Es hätte ein durchaus romantischer Moment werden können, so wie sie nebeneinander auf dem Felsen sitzen und der Sonne dabei zusahen, wie sie langsam die Schatten der Nacht vertreibt und schon im nächsten Moment die verschiedenen Gesteinsschichten in allen erdenklichen Farben leuchten lässt. Am Himmel ziehen in gemächlichem Tempo vereinzelte Wolken vorbei, die schon bald in satten Gelb- und Orangetönen leuchten. Rainn weiß nicht, ob sie jemals zuvor einen so atemberaubenden Anblick gesehen hat. Die Vergänglichkeit des schönen Augenblickes macht sie fröhlich und traurig zugleich. Doch diese Gefühlslage passt wohl ohnehin am besten zu der Situation, in der sie sich nun befindet.
Sie schreckt aus ihren Gedanken, als sich Conor ruckartig erhebt, den Staub von deiner Hose klopft und zu dem Pferd zurückläuft.
„Wir sollten los“, brummt er, ihr den Rücken zugewandt.
Rainn antwortet ihm nicht, erhebt sich stattdessen wortlos und mit schmerzenden Gliedern. Die Sonne, die sich gerade mal bis zur Hälfte hinter den weit entfernten Hügeln erhoben hat, brennt ihr in den trockenen Augen und Rainn realisiert, wie müde sie im Grunde ist. Wie ausgelaugt sich ihr Körper anfühlt.
Conor kommt mit strammen Schritten zurück, greift nach der Decke und rollt sie wieder zusammen, um sie hinter den Sattel zu befestigen. Auch dabei behandelt er sie, als wäre sie gar nicht da. Vielleicht hätte es sie zuvor wütend gemacht, gerade nachdem sie ihm gesagt hat, dass er aufhören soll, sie zu ignorieren. Aber sie ist zu müde und zu erschöpft um eine erneute Diskussion mit ihm zu beginnen. Vielleicht ist es auch ein Stückweit egal, weil sie noch immer das Kratzen seines Bartes in ihrem Gesicht, seine fordernden Lippen zwischen ihren und seine Zunge prickelnd an ihrer fühlt. Er kann sie nun ignorieren so sehr er will, doch dieser Augenblick steht wie ein unumstößlicher Fakt zwischen ihnen, an dem auch er nichts mehr ändern kann.
Weiterhin wortlos zieht er das Pferd am Zügel den schmalen Pfad hinauf, wirft nur ab und zu mal einen Blick zu Rainn zurück, um zu prüfen, ob sie denn überhaupt folgt. Und das tut sie mehr schlecht als recht. Sie hält sich an der steinigen Felswand fest und versucht auf dem unebenen Boden irgendwie Halt zu finden. Ihre Atmung ist schwer und rau, als sie sich schließlich auf der Zwischenebene befinden, wo sie endlich wieder auf das Pferd steigen können. Conor hilft ihr hochzukommen, schwingt sich dann hinter sie und treibt das Tier sofort an.
Vielleicht hätte Rainn Angst davor haben sollen wieder zu der Gemeinschaft zurückzukehren, nachdem Conor ihr unmissverständlich klar gemacht hat, dass man Ruby zurück erwartet und nicht sie. Aber das hat sie nicht. Zunächst glaubt sie, dass es daran liegt, dass es sie nicht kümmert, was mit ihr dort geschehen wird. Als sie jedoch wieder vor Conor sitzt und er sie in den Armen hält, realisiert sie, dass es vielmehr Conor ist, dem sie uneingeschränkt vertraut. Wenn er glaubt, dass es eine gute Idee ist wieder zurückzukehren, dann stellt sie das nicht in Frage. Vielleicht ist es besser, wenn sie das tun würde, weil sie ihn im Grunde nicht einmal kennt. Aber sie kann nichts daran ändern, dass sie ihr Schicksal gerne in seine Hände legt.
Conor hat es nicht so eilig zurückzureiten, wie er es in der Nacht eilig hatte hier herzukommen. Aber sie fühlt dennoch, dass er angespannt ist. Er scheint die Umgebung immer wieder abzusuchen, blickt nach rechts und links an ihrem Kopf vorbei umher. Er bleibt so lange wie möglich auf der offenen Fläche der Schlucht, von welcher aus er einen guten Blick in die Ferne hat. Vermutlich um so schneller erkennen zu können, falls sich ihnen jemand nähert.
Nach etwa einer Stunde im gleichmäßigen Schritt des Tieres scheint auch Conor sich etwas zu entspannen. Die Vegetation um sie herum wird grüner, hügeliger. Conor steuert das Pferd in Richtung eines Wasserloches, wo es kurz trinken kann, bevor sie ihren Weg fortsetzen.
Sofort reißt das Tier gierig den Kopf nach unten und trink geräuschvoll von dem Wasser. Conor lässt die Zügel schlaff hängen, wartet geduldig ab, während Rainn auf seine Hand starrt. Er hat große, breite Hände. Sie erkennt zahlreiche Narben auf seinem Handrücken. Manche davon sehen aus, als wäre die Wunde wirklich tief gewesen und schlecht verheilt. Vorsichtig hebt sie ihre eigene Hand, streicht sanft mit den Fingerspitzen über die größte Narbe, fühlt, wie wulstig sie unter ihrer eigenen Haut ist. Sie spürt, dass er sich hinter ihr anspannt und über ihre Schulter hinab späht. Dort, wo ihre Fingerspitzen über seinen Handrücken, zu seinem Handgelenk wandern und dann noch weiter zu seinem Unterarm. Sie denkt daran, wie er sie mit dem Unterarm gegen den Wassertank gedrückt hat, wie fest sich seine Muskeln in diesem Augenblick angefühlt haben. Er ist kein bulliger Typ wie Flint oder ein Muskelprotz wie Caldwell, aber er ist stark und kraftvoll. Er besitzt diese unterschwellige Stärke, die man erst beim zweiten Hinsehen wahrnimmt und die ab diesem Moment stets allgegenwärtig ist. Der Gedanke daran, wie wohl der Rest seines Körpers aussieht, wie er sich anfühlen mag, lässt ihre Atmung schneller werden.
Noch nie zuvor hat sie ein solches Verlangen gespürt und ist so neugierig auf das gewesen, was man ihr von Geburt an verwehrt hat, was aber doch so natürlich, so menschlich ist. Hat es erst Conor gebraucht, um das zu realisieren? Um eins der primitivsten, menschlichen Bedürfnisse wachzurufen? Fast schämt sie sich dafür, vor allem in ihrer aktuellen Situation. Aber vielleicht liegt es gerade daran. Vielleicht braucht sie in dieser schwierigen Zeit echte Nähe, wahre Zuneigung, damit sie den Boden unter den Füßen nicht vollkommen verliert.
Sie fühlt, wie er geräuschvoll atmet und seinen Kopf nach unten drückt. Er legt seine Stirn schließlich in der Kuhle zwischen ihrem Hals und ihrer Schulter. Ihre Haare, die Willow ihr noch geflochten hat, kurz bevor Conor und Selena aufgetaucht sind, liegen störend dazwischen. Also schiebt sie sie mit zitternden Händen auf die andere Seite. Conor zögert nicht, legt seine Stirn erneut auf ihre Halsbeuge hinab, wo seine Haut auf ihrer sich nun so viel besser anfühlt. Beinahe ist es, als wenn er sich an sie schmiegt und dabei sein Gesicht langsam höher schiebt.
Sie fühlt zunächst den Atem aus seiner Nase, feucht und warm, an ihrer Haut. Es kostet sie daraufhin einiges sich nicht zu schütteln, um das Kribbeln, das allmählich ihr Rückgrat entlangkriecht, irgendwie loszuwerden. Ihre Hand hält wieder seine vor ihrem Körper, sich der Tatsache nicht einmal bewusst, dass sie ihn fast zerquetscht vor Anspannung. Als sein Bart kratzend ihre verletzliche Haut entlangschrappt und schließlich ersetzt wird durch seine warmen Lippen, atmet sie angespannt sämtliche angehaltene Luft hinaus. Er lässt seinen Mund regungslos auf ihrer Haut und bewegt sich keinen Millimeter mehr. Und das ist im Grunde das Schlimmste daran. Dieses unvernünftige, innere Verlangen und dann rein gar nichts mehr. Sie lehnt ihre Wange zur Seite, drückt ihren Kopf leicht gegen seinen, reibt sich nun an ihm. Doch er verharrt noch immer bewegungslos in dieser Position, als wäre er eingefroren. Nur dir Atmung kommt noch immer ungleichmäßig aus seiner Nase.
Sie bemerkt nicht einmal wie fest ihr Griff um seine Hand geworden ist, realisiert es erst, als sich seine Finger bewegen und sich langsam freikämpften.
„Autsch“, raunt er leise, als er den Mund von ihrem Hals weggezogen hat und versucht seine Finger irgendwie zu bewegen. Irritiert lässt sie ihn los. Er ballt seine Hand zur Faust, öffnet sie wieder.
„Mistkerl“, atmet sie heiser, als die haltlose Enttäuschung aus ihr herausbricht. Er schnaubt in ihrem Nacken auf, noch immer so nah, dass sie den warmen Atem auf ihrer wild prickelnden Haut fühlt.
„Ja … schieb’s ruhig auf mich“, antwortet er leise und umgreift die Zügel wieder, zieht das Pferd ruckartig wieder hoch und zurück auf den Weg. Es dauert nicht lange, bis sie spürt wie er sich unbequem weiter nach hinten schiebt, immer weiter von ihr weg. Und es dauert einen weiteren Moment, bis sie realisiert warum er es tut. Auch, wenn sie keinerlei Erfahrung in der Hinsicht hat; Rainn ist nicht dumm. Es hätte sie vielleicht abschrecken sollen, dass er seinen Körper ihr gegenüber nicht kontrollieren kann, so wie er es offensichtlich möchte, aber da ist etwas anderes in ihr. Neugierde und in gewisser Weise blindes Vertrauen in ihn.
Es fällt ihr daraufhin schwer ihr Schmunzeln zu unterdrücken. Langsam schiebt sie ihren Hintern auf dem Sattel nach hinten und als Conor ihre Intention begreift, hält er schnell die Zügel in einer Hand, drückt sie mit der anderen am Becken gewaltvoll von sich weg.
„Miststück“, raunt er mit zusammengebissenen Zähnen und entlockt ihr ein weiteres, breites Grinsen.
So schwierig es zunächst ist, sich auf etwas anderes als seinen Körper hinter ihrem zu konzentrieren, so leicht fällt es ihr plötzlich, als sie sich der Gemeinschaft näheren. Rainn weiß rein gar nichts mehr davon, wie man sie und Ruby hier rausgeschleift hat. Nach dem Schlag dieses Kerls hat sie das Bewusstsein vollständig verloren und ist darüber im Grunde dankbar. Bruchstücke der Nacht kommen wieder, als sie von weitem die Mauer erkennt. Und das Tor. Verwundert versucht sie ihren Blick zu schärfen. Tatsächlich hängt das Tor wieder in seinen Angeln. Direkt daneben befindet sich ein dicker Baumstamm, den die Räuber als Rammbock verwendet hatten, um das Tor zum Einsturz zu bringen.
Je näher sie kommen, umso deutlicher sieht sie wie behelfsmäßig das Tor wieder an seinem Ursprungsplatz hängt. Mit dicken Seilen und Holzlatten gesichert, lässt es sich nun lediglich auf einer Seite öffnen und bietet jetzt nur noch einen schmalen Durchgang, durch den ein Pferd hindurchpasst. Rainn ist überrascht wie schnell man die äußeren Zerstörungen wieder behoben hat und es noch immer tut. Draußen stehen zahlreiche Bewohner, die hämmern und sägen, beharrlich versuchen die Schäden zu beheben, damit alles wieder seinen geregelten Gang gehen kann.
Doch das wird es nicht und das erkennt sie in den Gesichtern der Menschen, die sie schließlich bemerken. Ein Funke Hoffnung, der sogleich erlöscht, als es Rainn ist, die sie erblicken und nicht Ruby. Rainn nimmt es ihnen nicht übel, kann verstehen, dass sie alle auf sie verzichten können.
Caldwell will Ruby auch als Einzige zurückhaben. Aber ich nicht, dringt Conors Stimme in ihr Unterbewusstsein, füllt sie da mit einer tröstenden Wärme. Und dann schmerzt es nicht mehr ganz so stark. Sie richtet den Blick auf das Tor zurück, welches sie nun betreten. Rainn hat geglaubt, dass es schwer sein würde den Ort des Geschehens wieder zu betreten. Da wo sie Milo verloren hat. Doch am helllichten Tag wirkt alles so anders, friedlich. Doch das kann auch an der Stille liegen, die sie dort empfängt. Alle trauern. Um die getöteten Männer. Um Ruby. Es ist kein Freudentag, obwohl die Sonne scheint, als wäre nichts passiert.
Conor lenkt das Pferd in Richtung Stall, steigt gerade gemächlich von dem Tier, als Selena um die Ecke geschossen kommt. Sie verharrt in ihrer Bewegung, Staub umwirbelt noch immer ihre Füße, so abrupt ist sie gestoppt. Ihr wilder Blick sieht kurz zu Rainn, dann zu ihrem Bruder, der es entweder nicht bemerkt oder es nicht zur Kenntnis nimmt. Er hilft Rainn ohne Hast von dem Pferd, als Selena in strammen Schritten auf ihn zukommt. Rainn will gerade den Mund aufmachen, ihn irgendwie warnen, dass gerade eine tosende Sturmwelle auf ihn zu geschwappt kommt, doch noch bevor sie etwas sagen kann, hebt Selena ihre Faust und ist kurz davor ihm damit eine zu verpassen. Conor wirbelt herum und greift nach ihrem Handgelenk, hält es so fest in seiner Hand, dass seine Knöchel weiß hervorstechen. Sie ist nur etwa eine handbreit von seinem Gesicht entfernt. Eine wilde Furie, mit dunklem Blick und einer ebenso dunklen Mähne. Ihr Blick zuckt zwischen seinen Augen hin und her.
„Du hast sie verraten. Du hast uns alle verraten“, spuckt sie ihm bitter entgegen.
„Es ging nicht anders. Sie hatten sie bereits“, erwidert er emotionslos, fast schon erschöpft, als habe er keine Lust sich nun mit ihr herumzuschlagen. Selenas Blick reißt von ihm ab und legt sich mit Abscheu auf Rainn.
„Und sie wohl nicht, hm? Gott, Conor … verarschen kannst du dich echt alleine. Dachte nicht, dass du den gleichen beschissenen Fehler zweimal machst.“
„Kümmer dich um deinen Scheiß“, giftet er zurück, nicht mehr ganz so gleichgültig wie eben noch. Er stößt sie an ihrer Hand zurück, wo sie einen Schritt nach hinten taumelt und sich wieder fängt. Während Conor das Pferd weiter gemächlich in den Stall führt, bleiben die beiden Frauen voreinander stehen. Zum ersten Mal seit sie Selena kennt, fühlt sie sich ihr unterlegen und das Gefühl ist ihr fremd. Sie versteht ihren Schmerz, fühlt ihn doch irgendwie auch. Aber kann sie nicht sehen, dass all das nicht Rainns Schuld oder gar Conors gewesen ist? Dass Conor sein Bestes getan hat? Natürlich kann sie das nicht sehen. Denn dazu müsste sie ein vernünftiger Mensch sein.
Rainn seufzt schließlich. „Sag was du sagen willst. Bring’s hinter dich. Ich bin’s nicht wert? Ich sollte an ihrer Stelle sein? Was immer es ist, es ist nichts, was ich mir nicht auch schon gesagt habe.“
Selena schüttelt leicht den Kopf, als hinter ihr eine Tür knallt und Rainn im Hintergrund die imposante Figur von Caldwell ausmachen kann. „Ich muss gar nichts mehr sagen. Ich habe dich nicht gegenüber der Mutter seines Sohnes vorgezogen. Und du wirst dich dafür auch nicht rechtfertigen müssen.“
16.Kapitel
Den Blick der Erkenntnis in Caldwells Gesicht ist einer, den Rainn so schnell garantiert nicht wieder vergessen wird. Er versucht sofort die Fassung wiederzuerlangen, als er sie entdeckt, aber es ist schon zu spät. Etwas in ihm zerbricht in tausend Teile. Seine Nasenflügel beben und die Hände schließen sich auf beiden Seiten zu Fäusten. Wenn es zuvor schon still gewesen ist, hätte man jetzt wohl eine Stecknadel fallen hören können. Rainn versucht dem starken Mann irgendwie mit Blicken zu verdeutlichen, dass es ihr leid tut, dass sie ihr Leben keineswegs über das von Ruby gestellt hat. Aber es bringt nichts. Caldwell braucht offenbar ein Ventil, denn seine Züge verfinstern sich mit jeder Sekunde mehr. Und das ist der Moment in dem Conor wieder aus dem Stall tritt und kurz stehen bleibt als er Caldwell am Ende des Platzes stehen sieht.
„Geh zu Willow“, brummt er, während er sie passiert und auf Caldwell zusteuert, als würde er dabei in seinen sicheren Tod gehen. Rainn will widersprechen und ihn nicht alleine in diesen Kampf rennen lassen. Nicht nachdem, was sie durchgemacht haben und was er für sie getan hat. Doch wie als hätte er es geahnt, sieht er nochmal mit strengem Blick zurück. „Tu wenigstens einmal, was ich dir sage.“
Und dann bleibt ihr nichts anderes übrig als ihm dabei zuzusehen, wie er sich ihrem Anführer mit aufrechtem, fast schon stolzem Gang nähert. Caldwell beobachtet ihn regungslos, bis er ihn so gut wie erreicht hat, dann macht er auf dem Absatz kehrt und verschwindet in seinem Haus. Conor folgt, ohne sich nochmal zu ihr umzudrehen. Rainn entlässt daraufhin die eingehaltene Luft aus ihren Lungen und realisiert währenddessen, dass Selena noch immer neben ihr steht. Sie beobachtet argwöhnisch jede ihrer Regungen.
„Es gab wirklich nichts, was er hätte tun können“, erklärt Rainn genervt mit einem Augenrollen.
„Das spielt keine Rolle. Du bist hier, sie nicht. Conor hatte einen einzigen, beschissenen Auftrag als er los ist.“
„Es ist weder seine, noch meine Schuld. Aber kotz dich ruhig aus, wenn es dir hilft. Tu’s nur das nächste Mal nicht direkt in mein Gesicht. Von deiner Kotze hatte ich tatsächlich schon genug in meinem Leben.“ Mit diesen Worten wendet sich Rainn ab und läuft über den Hof zu Willows Hütte hinüber. Dabei fühlt sie noch immer Selenas bohrende Blicke in ihrem Rücken, die sie wohl am liebsten durchbohrt hätte, wenn das möglich wäre. Aber Selena tut nichts weiter als sie anzustarren, schweigt und lässt sie passieren. Und das ist fast schon untypisch für sie.
Rainn versucht all die Gefühle runterzuschlucken, als sie über die Holzveranda schreitet. Als ihre Erinnerung ihr für einen kurzen Augenblick Milo auf den Boden projiziert, der so gerne bei Willow gesessen hat, weil er von ihr immer etwas Fleisch bekam. Doch der Kloß in ihrem Hals bleibt beharrlich.
Verdammt, nicht nur diese Menschen hier haben etwas verloren, was ihnen etwas bedeutet hat! Sie hat ihren besten Freund, einen Teil ihrer Familie an diese Bastarde verloren. Aber diese Idioten werden niemals verstehen, wie es sich anfühlt. Sollen sie ihr ruhig die Schuld an allem geben, was geschehen ist, wenn sie sich dann besser fühlen. Sollen sie dabei nur weiterhin verdrängen, dass sie eine Mitschuld daran tragen. Denn sie kennen ihre Welt und wussten im Gegensatz zu Rainn von Anfang an um das Risiko von ihrer Existenz innerhalb ihrer Reihen.
Sie sieht verbissen und wütend aus, als sie die Hütte betritt und atmet im Inneren schließlich all die einbehaltene Trauer mit einem erstickten Keuchen aus. Die Tür schließt sich hinter ihr und sie lehnt sich mit dem Rücken dagegen.
Rainn ist wieder zurück. Da wo alles begann.
Erneut kommt Willow aus dem Schatten in der Ecke getreten. Sie scheint noch mehr gealtert zu sein in den Stunden, die Rainn weggewesen ist. Ihr mitfühlender Blick wandert durch Rainns Gesicht, während sie das Tuch, mit dem sie sich gerade die Hände trocknet, auf den Tisch neben sich legt.
„Es tut mir unendlich leid, Kleines.“
Ihre Worte sind schließlich der ausschlaggebende Punkt an dem Rainns Kinn auf ihre Brust sackt und sie herzzerreißend zu schluchzen beginnt. Die Erschütterungen erfassen ihren ganzen Körper und lassen ihn beben. Das wird auch nicht besser, als sich Willows Hände um sie schließen und sie festhalten. Rainn liegt in ihren Armen, weint da noch weiter und weiter. Trauert um ihren Begleiter und lässt zu, dass sie schwach aussieht. Sie fühlt sich so unendlich allein. Gehasst und ungewollt von allen und verlassen von denen, die sie liebt. Willows Hände streichen tröstend über ihren Kopf und ihren Rücken auf und ab. Sie murmelt immer wieder beruhigende Worte, während sie sie langsam in den Raum hinein führt. Mit dem Tisch im Rücken, bekommt Rainn langsam wieder Luft und wischt sich schniefend die Tränen aus den Augen.
„Sie sind verletzt und trauern. Die anderen waren schon so lange nicht mehr hier, der Schock sitzt noch sehr tief. Du musst ihnen etwas Zeit geben, damit sie begreifen, dass all das nicht deine Schuld war.“
Rainn nickt und schnieft noch einmal geräuschvoll. „Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich kein einziges Mal geweint. Seit ich hier bin, hab ich irgendwo ein Leck.“
„Nicht zu weinen ist nichts, worauf du stolz sein musst. Manchmal bedeutet das nur, dass einem nicht klar ist wie vergänglich und wertvoll das Leben ist.“ Willow lächelt und beginnt vorsichtig Rainns verletztes Auge abzutasten. Dann lässt sie Rainn am Behandlungstisch stehen, um ein paar Utensilien zu holen.
„Wo ist er?“, bringt Rainn bitter hervor. Willow sieht über ihre Schulter zu Rainn zurück.
„Ich habe ihn in Sicherheit gebracht und wollte erst auf dich warten, bevor wir ihn beerdigen.“
„Aber du wusstest nicht, dass ich wiederkomme. Alle haben Ruby erwartet.“
Willow kommt mit einem kleinen Tablett zurück, auf dem sich Nadel und Faden, Tücher und eine undurchsichtige Flüssigkeit in einer Flasche befinden. Rainn ahnt, dass es gleich fürchterlich brennen wird.
„Und ich habe euch beide erwartet. Sie und dich“, erklärt sie schlicht und gießt die Flüssigkeit auf das Tuch, dann sieht sie lächelnd zu Rainn auf. „Und so trauere ich nur um eine von euch und freue mich, aber dass die andere wieder nach Zuhause gefunden hat.“
Rainn schluckt hart, als sich der Kloß in ihrer Kehle erneut bemerkbar macht. „Das ist nicht mein Zuhause.“
„Ist denn dein Zuhause noch dein Zuhause?“
Als Willow ihre Wunde abzutupfen beginnt, denkt Rainn über die Frage nach. Sie versucht sich die Gesichter ihrer Familie hervorzurufen. Es ist mittlerweile Wochen her, dass sie sie das letzte Mal gesehen hat. Sie sieht Juniper vor sich, als weißer, hell leuchtender Engel, der irgendwie immer an ihrer Seite sein wird und ihren Vater mit seiner stillen Autorität, die sie sich auch immer so gewünscht hat. Doch alles andere ist verschwunden und bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Nein, nichts an dem Ort, der einmal ihr Zuhause gewesen ist, ist es noch. Da wo Leben im Grunde keinen Wert hat, wo keine Gemeinschaft darum trauert, wenn ein Leben erlöscht. Hier trauert man nicht über sie, aber man trauert, man feiert und bewahrt das Leben. Man kämpft dafür und verteidigt es, so gut man eben kann. Zum ersten Mal entsteht in ihr der Wunsch ein Teil davon zu sein und ebenso an ihrer Seite zu kämpfen.
„Beiß die Zähne zusammen, Kleines“, warnt sie Willow, als sie die Nadel und den gewachsten Faden ansetzt. Rainn tut es und zuckt kein bisschen, als Willow damit beginnt die Wunde über ihrem Auge zu nähen.
Rainn wäscht sich anschließend, nimmt sich unter den argwöhnischen Blicken der Bewohnern etwas zu essen und zieht sich dann in ihre Hütte zurück. Dort bleibt sie bis es Abend wird, starrt mit ausdruckslosem Blick an die gegenüberliegende Wand und versucht irgendwie Ruhe in ihre zwiespältige Gefühlswelt zu bekommen. Doch egal was sie macht, es führt kein Weg dran vorbei sich Caldwell zu stellen, um irgendwie reinen Tisch zu machen. Sie braucht klare Verhältnisse und kann hier nicht länger so weiterleben, als wäre sie ein Geist. Ein ziemlich verhasster Geist.
Und so springt sie schließlich auf und stürmt nach draußen. Es dämmert bereits und leise, gedämpfte Stimmen aus der einsetzenden Dunkelheit zeugen noch immer von der anhaltenden Trauer. Man hat die beiden toten Männer im Laufe des Tages irgendwo draußen beerdigt, das hat sie von einem Gespräch erfahren, das direkt vor ihrer Hütte stattgefunden hat. Rainn hat man nicht dazu geholt und sie verkneift sich den Frust darüber, dass man dabei wohl vergaß, dass ohne ihre Hilfe, noch mehr Menschen das Gras von unten sehen würden. Nun herrscht eine gespenstische Stille über der Gemeinschaft, selbst die Wut scheint verflogen und zeigt sich lediglich in Selenas Gesicht, als sie Rainn mit langen Schritten über den Platz laufen sieht. Sie sitzt gemeinsam mit ein paar Männern am Lagerfeuer. So sehr sich Rainn auch dazu zwingt nicht darauf zu achten, kommt sie dennoch nicht umher festzustellen, dass Conor keiner von ihnen ist. Sie senkt den Blick und läuft weiter.
Ohne sich anzukündigen, betritt sie Caldwells Haus, versucht sich zu orientieren und stockt dann in ihrer Bewegung, als ein eigenartiges Geräusch ihre Aufmerksamkeit erregt. Ein kleines, piepsiges Wimmern, welches sie erst an eine Maus erinnert, dafür dann aber doch zu laut ist. Es klingt kläglich und, auf eine so unverständliche Art, leidend. Rainn realisiert natürlich sofort, woher das Geräusch kommt, und weiß, dass sie es nur nicht wahrhaben möchte. Es zieht sie dennoch magisch an. In dem Raum rechts von ihr findet sie ein großes Bett vor, welches mit zahlreichen Decken und Fellen ausgestattet ist. An den Wänden hängen Kräuter, es riecht leicht nach Pinienholz und nach etwas Unangenehmen, über das sie lieber nicht nachdenken will.
Am glaslosen Fenster steht Caldwell, den Rücken ihr zugewandt und sieht versteinert nach draußen. Er muss gesehen haben, dass sie hereingekommen ist, auch wenn er sie nun ignoriert. Das Weinen erklingt erneut und sein Rücken wippt daraufhin langsam hin und her, während er tiefer Stimme eine Melodie summt. Schließlich wendet er sich ihr zu und sein Blick ist so ausdruckslos wie seine komplette Körperhaltung. Wenn er da nicht dieses kleine Bündel in den Händen halten würde, welches in seinen Pranken aussieht wie eine Spielpuppe, könnte man meinen, dass sich rein gar nichts an ihm geändert hat. Er noch immer so stark und unnachgiebig ist wie zuvor.
Die kleinen, unförmigen Ärmchen bewegen sich und recken sich verlangend nach oben.
„Er hat Hunger“, erklärt Caldwell ohne Emotionen in seiner Stimme.
„Gibt es sonst nichts für ihn?“ Rainn fühlt sich unwohl in seiner Nähe. Sie hat ein knallhartes Gespräch mit ihm führen wollen, wollte ihm verständlich machen, dass Conor keine Schuld trifft und dass sie morgen, ohne mit der Wimper zu zucken, von hier verschwindet, wenn das sein Wunsch ist. Doch hier und jetzt, mit dem unschuldigen Wesen in seinen Händen, hat alles plötzlich eine andere Bedeutung.
„Er isst Mehlbrei. Das stillt den Hunger, aber versorgt ihn nicht. Er wird sterben, so wie viele vor ihm auch.“
Ist der Säugling der Grund für diese anhaltende Stille, die wie ein dunkles Tuch über ihnen liegt? Weil Rubys Verschwinden zwangsläufig ein weites Todesopfer fordern wird? Das Wimmern erstirbt so schlagartig, als wenn der kleine Junge begreift, was sein Vater gerade gesagt hat. Und das bricht ihr ruckartig das Herz. Es ist so ungerecht und unfair! Alles wäre anders gelaufen, wenn sie niemals hergekommen wäre. Rainns Blick liegt starr auf dem kleinen Wesen in seinen Händen.
Sie spricht, ohne ihre Worte überhaupt zu durchdenken: „Aber er ist noch nicht tot, oder? Solange er noch nicht tot ist, gibt es Optionen, Wege.“
„Die gab es gestern noch. Sie sind längst in ihrer Festung.“
„Sie … sie wollen Ruby doch gar nicht. Sie wollen mich, wollen wissen woher ich komme! Tauscht sie ein gegen mich!“
Caldwell sieht sie noch immer ausdruckslos an. In diesem Moment kommt eine ältere Frau an ihr vorbei in das Schlafzimmer hinein. Ohne seine Augen von Rainn zu nehmen, lässt er seinen Sohn in die Arme der Frau sinken, die mit beruhigenden Worten auf den Säugling einredet, während sie ihn langsam aus dem Raum trägt. Caldwell sagt noch immer nichts und verschränkt seine Arme, die zuvor noch seinen Sohn gehalten haben, vor der mächtigen Brust. Dann wendet er sich wieder ab. Seine stoische Ruhe angesichts des sicheren Todes seines Sohnes, lässt Rainn an den Rand der Verzweiflung geraten.
„Was ist? Wie kannst du das hören und es nicht in Erwägung ziehen? Ich war da! Hab ihre Schreie gehört, musste all das mitanhören. Ich würde alles dafür tun, damit ich das irgendwie wieder gerade rücken kann, damit nicht noch jemand darunter leidet.“
„Da gibt es nichts, was du nun tun kannst.“
„Wieso?“ Sie tritt einen energischen Schritt auf ihn zu. Es dauert einen Moment, bis er auf ihre Frage reagiert.
„Sie war schon immer ein überaus neugieriges Wesen, auch wenn sie versucht hat nach außen so bescheiden und brav zu wirken. Dein Auftauchen hier war ein Ereignis, das sie in größte Aufruhe versetzt hat. Sie hat dich studiert, mich alles über dich gefragt. Sie wäre wohl gern deine Freundin geworden in einem anderen Leben. Ich wusste, dass sie es nicht lassen konnte uns zu belauschen. Sie hat es getan, als du damals zu uns kamst und als Selena und Conor gestern von ihrer Tour zurückkamen.“ Er dreht sich langsam zu ihr herum und die Menschlichkeit in seiner Stimme, ausgelöst durch den Verlust der Person, die ihm offensichtlich eine Menge bedeutet, weicht seiner gewohnten Härte. „Sie haben von ihr schon alles erfahren, was es über deine Heimat zu wissen gibt. Du hast keinerlei Wert mehr für sie.“
„Das glaube ich nicht“, bringt sie bitter hervor. „Sie wissen rein gar nichts, was ihnen helfen könnte. Sie können nichts gegen die Biosphäre ausrichten und werden an ihr zerbrechen. Egal ob sie hundert oder hunderttausend Mann sind. Wenn sie da reinkommen wollen, wenn es für sie von Nutzen sein soll, dann brauchen sie mich dennoch.“ Sie pokert verflucht hoch und das ist ihr durchaus klar. Sie ist für sie von keinerlei Nutzen und hat keine Ahnung, wie man in die Biosphäre zurückkommt. Der einzige Weg, den sie kennt, führt ausschließlich hinaus, ohne Wiederkehr. Aber das können diese Mistkerle nicht wissen und es würde ihnen Zeit verschaffen. Es könnte Ruby retten und den Tod ihres Sohnes verhindern. Und das muss es einfach wert sein.
Er sieht sie an und irgendwie hat sie das Gefühl, dass er etwas abzuwägen scheint, obwohl sich in seinem Gesicht weiterhin kaum eine Regung zeigt. Wieso nur wird sie das Gefühl nicht los, dass er so viel mehr weiß als sie, obwohl sie hier von ihrem eigenen Zuhause sprechen?
„Sag mir wo ihre Festung ist“, fordert sie, als sie von ihm weiterhin keinerlei Reaktionen erhält.
Caldwell schüttelt leicht den Kopf, doch die Bestimmtheit, die er soeben noch hatte, ist beinahe vollständig verschwunden. „Du hast keinerlei Wert für sie.“
Rainn hält seinen Blick und verengt ihren unnachgiebig.
„Selbst wenn nicht. Ich habe auch keinen für euch, oder? Entweder ich bringe sie zurück oder ich scheitere. Was hast du dabei schon zu verlieren?“
17.Kapitel
Rainn realisiert nicht einmal, dass sie sich zum ersten Mal frei außerhalb der Mauern bewegen darf. Dass man ihr nicht einmal das Messer abnimmt und der Bogen samt ihrer Pfeile unangetastet in ihrer Hütte liegen und nicht länger im Lager.
Sie realisiert all das nicht, als sie am nächsten Tag gemeinsam mit Willow das Tor passiert, weil sie dabei den toten Körper von Milo in ihren Armen hält.
Willow läuft voran und führt Rainn an der Mauer entlang. In der Entfernung erkennt sie einen kleinen Wasserlauf, der aus den angrenzenden Canyons zu kommen scheint, sich die rötlichen Felsen hinabkämpft und dann in einem großen Wasserbecken endet. Von diesem Becken aus befindet sich eine Verbindung zum Wassertank im Inneren der Gemeinschaft. Ein älterer Mann steht an dem Schlauch, wo eine Halterung mit einem Hebel befestigt ist. Die Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn, als er den Hebel immer wieder angestrengt nach vorne und hinten bewegt und so das Wasser von dem natürlichen Becken in den Wassertank auf der anderen Seite befördert.
Sie denkt kurz an Zuhause, wo sie nur den Hahn aufdrehen muss, um an das Wasser zu kommen Und wo eine fast ebenso große Welt voller Elektronik, Rohre und Pumpen im Verborgenen unterhalb der Oberfläche existiert. Wie anders das Leben hier nur ist, wie viel klarer und natürlicher.
Sie passieren das Wasserbecken, wo das Wasser türkisfarben schimmert und trotz der direkten staubigen Umgebung so klar ist, dass man zahlreiche kleinere und größere Steine auf dem Grund ausmachen kann. Das ganze Umfeld wirkt so friedlich und idyllisch, umgeben von den grünen Gräsern, den zahlreichen Büschen und den meterhohen Bäumen im Hintergrund. Sie haben hier eine grüne Insel inmitten der Wüste gefunden, die ihnen alles zum Überleben bietet. Wo sie eigentlich in Frieden leben sollten. Ihr Blick wandert zu dem, in Stoff gehüllten, Körper in ihren Händen. Milo wäre hier wohl sehr glücklich geworden und hätte in dem Wasser gespielt, die Hasen und Wüstenfüchse in der Umgebung gejagt. Es hätte alles so einfach werden können.
Willow folgt einem kleinen Trampelpfad, der sie leicht aus dem Wald hinausführt, auf eine kleine Lichtung. Rainns Schritte verlangsamen sich, als sie in einiger Entfernung eine weitere Person ausmacht.
Sie hat sich geschworen nicht wieder zu weinen. Das ganze Thema Weinen ein für alle Mal abzuhaken und sich endlich wieder in den Griff zu bekommen. Doch der Kloß im Hals ist sofort wieder da, als sie Conor in der Entfernung erkennt, der im Schatten eines Baumes beharrlich ein Loch in den Boden gräbt. Er bemerkt sie erst sehr spät, als er sich aufrichtet und mit dem Handrücken den Schweiß von seiner Stirn wischt. Sein Blick wandert nur kurz zu dem Bündel in ihren Händen, dann zu Willow hinüber.
Die alte Frau nickt ihm dankbar zu.
Nachdem sie Milo beerdigt haben, lässt Willow die beiden allein zurück. Manchmal verwundert es Rainn wieviel die alte Frau weiß und wie wenig ihr im Grunde entgeht, obwohl sie so schweigsam ist, nicht viel fragt und noch viel weniger preisgibt.
Conor lehnt an dem Nadelbaum neben ihr, die Arme vor der Brust verschränkt, die Hände unter die Achseln geklemmt. Er nagt auf der Innenseite seiner Wange und sieht starr auf das frische Erdgrab im Boden, auf dessen Mitte sie einen großen Stein gelegt haben. Er spricht schließlich, ohne seinen Blick abzuwenden. „Du warst bei Caldwell.“
„Ja“, antwortet sie ehrlich.
„Dafür gab’s keinen Grund.“
„Doch, den gibt es und du brauchst nicht so zu tun, als wenn du das nicht wüsstest.“ Rainn tritt in sein Sichtfeld und nur langsam, beinahe bockig, wandert sein Blick zu ihr. „Ich brauche dich dafür“, fleht sie nun leise. Und irgendwie stimmt es auf so unterschiedlichen Ebenen, die sie selbst kaum versteht.
„Was hast du vor?“
„Sie zurückholen. Wir können nicht zulassen, dass noch jemand stirbt.“
Er schnaubt verächtlich und sieht an ihr vorbei in die Ferne. „Du spazierst da rein und mit ihr an der Hand wieder raus? Das ist dein Plan? Scheiße, warum kannst du es nicht einfach sein lassen?“
Sie will so gerne ehrlich zu ihm sein, weil er es verdient, aber die Wahrheit ist, dass sie es tun muss, um selbst wieder in den Spiegel sehen zu können und zu einem großen Teil auch, weil es keinen anderen Weg gibt, um ein Teil von dieser Gemeinschaft zu werden. Ihr bleibt nichts anderes übrig, denn die Alternative ist es sie endgültig zu verlassen. Hier steht sie nun vor Conor und weiß, dass sie nicht gehen kann, egal wie erbärmlich das auch ist. Genauso wie er es nicht geschafft hat sie zurückzulassen, auch wenn sie beide wissen, dass das Ruby auch nicht gerettet hätte. Doch in Wahrheit hat Conor seine Entscheidung schon getroffen, als er aufgebrochen ist, um sie beide zu retten. Hätte er die Wahl gehabt, hätte er sich für Rainn entschieden. Und das weiß er ganz genau. Er hat sein Glück über das der anderen gestellt.
„Du bist mein Plan.“
Sie schmunzelt, als sie sieht wie die Fassade von ihm langsam abfällt und er über ihre Idee nachzudenken beginnt. Auch er könnte sich von dem schlechten Gewissen befreien, wenn er nochmal alles versuchen würde, um Ruby zu retten. „Ich brauche nur Informationen über ihren Standort, wo sie da stecken könnte und wie ich an sie herankommen könnte.“
„Wenn’s sonst nichts ist“, erwidert er sarkastisch und scharrt mit seinem Fuß im Boden. Schließlich löst er die Verschränkung um seine Brust, fährt sich mit der Hand über den Nacken und sieht mit geneigtem Kopf zu ihr. „Tu mir nur einen Gefallen und hau nicht einfach ab. Sei nur einmal nicht so verflucht stur. Wir finden eine Lösung.“
„Wir können nur nicht lange warten. Das Baby…“
„Ich weiß“, unterbricht er sie, wippt dann nachdenklich mit dem Kopf auf und ab. „Ich weiß“, wiederholt er dann leiser. Er stößt sich vom Baum ab und läuft unruhig hin und her. Rainn beobachtet ihn dabei und es ist ihr fast schon unangenehm wie sehr sie ihn und das, was sie im Canyon begonnen haben, vermisst, obwohl sie gerade ganz andere Probleme haben. Aber all die Gedanken und das Gefühl seiner Haut auf ihrer sind so präsent, wenn er nur eine Armlänge von ihr entfernt steht.
„Was meinte Selena damit, dass du den gleichen Fehler zweimal gemacht hast, als du mich zurückbrachtest?“, will sie von ihm wissen.
Er stoppt in seinem unruhigen Gang, ihr den Rücken zugewandt. Conor zögert, das kann sie sehen, und sie weiß im Grunde auch, dass er ihr darauf keine Antwort geben wird. Aber sie will nicht als Fehler gesehen werden. Nicht von ihm. Egal was er erlebt hat, welche schlechten Erfahrungen er wohl durchmachen musste, die er andauernd versucht mit seiner abweisenden Art zu verbergen.
„Das ist unwichtig“, erwidert er wie erwartet und sieht sie dabei noch immer nicht an. Obwohl sie mit dieser Antwort gerechnet hat, trifft es sie dennoch, dass er sich noch immer so vor ihr verschließt.
„Wenn Selena mich offensichtlich damit in Zusammenhang bringt, ist es das vielleicht doch.“ Herausfordernd verschränkt sie die Arme vor ihrer Brust und wartet auf irgendeine Reaktion von ihm. Er wendet ihr seinen Körper nun halb zu und sieht kurz über seine Schulter zu ihr.
„Es geht auch Selena ‘n Scheißdreck an. Wenn du glaubst, dass all das dazu führt, dass wir uns an den Händen halten und uns all unsere Gefühle beichten, dann bist du dämlicher, als ich gedacht hab.“
„Was meinst du mit ‘All das‘? Deine offensichtliche Unfähigkeit in meiner Gegenwart deine Hände bei dir zu lassen?“
Jetzt hat er sich ihr vollkommen zugewendet und funkelt sie gereizt an. Doch sie steht felsenfest auf dem Boden, gibt ihm kein Stück nach. Eigenartigerweise fühlt sich ihr schneller Herzschlag dabei so erfrischend an, als würde Adrenalin ihren Körper zum Tanzen bringen. Sie weiß selbst nicht, was sie von ihm erwartet, aber es ist lächerlich von ihm zu glauben, dass hier nur eine vorsichtige Freundschaft zwischen ihnen entsteht. Das hier, all das Brennen und Ziehen in ihrem Körper, fühlt auch er. Egal wie rasend es ihn macht. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass sie mehr voneinander wollen.
„Klingt fast so, als hätte ich dich gezwungen. Hab ich das?“, will er mit bedrohlich leiser Stimme von ihr wissen.
Erneut führen ihre Gedanken sie zu dem Moment zurück, als seine Lippen sich gierig auf ihre schoben, als er grob in ihre Haut gebissen und sich anschließend so zärtlich dafür revanchiert hat. Sie denkt an den Moment auf dem Pferd, auf ihr unstillbare Neugierde auf alles, was er noch geben kann. Auf diese Art könnte er sie gerne zu allem zwingen und sie würde es sich vermutlich immer gefallen lassen. Weil es egal ist, was er tun, sie vertraut ihm so sehr, dass es ihr gleichzeitig eine enorme Angst macht.
„Ich wünschte nur du hättest nicht aufgehört“, flüstert sie und hebt leicht herausfordernd ihr Kinn. Sie meint in der Stille der Umgebung ihren Herzschlag ganz deutlich zu hören, gleichzeitig mit seiner Atmung, die sich ebenfalls beschleunigt, obwohl er nichts tut außer sie noch immer anzusehen.
Langsam kommt er in Bewegung und drängt ihren Körper zurück, bis sie einen der Baumstämme rau in ihrem Rücken fühlt. Sie atmet erschrocken aus und hält sich mit beiden Händen rückwärts an dem Baum fest. Er ist so nah, dass sie die Wärme seines Körpers fühlt, obwohl er sie nicht einmal berührt. Sein Geruch hängt in ihrer Nase, löst weitere Erinnerungen aus. Ihre Brust streift seine beiläufig. Es ist so irrational. Eben noch haben sie darüber gesprochen Kopf und Kragen zu riskieren, haben ihren besten Freund beerdigt und doch reicht seine bloße Nähe aus, um all das in weiter Ferne rücken zu lassen. Und das ist vielleicht Sinn der Sache, das was sie im Hier und Jetzt hält.
„Ja?“, raunt er heiser.
„Ja“, bestätigt sie mit fester Überzeugung und hebt den Blick, sieht sein Gesicht über ihrem schweben. Das dunkle Verlangen in seinen Augen sollte ihr Angst machen, weil sie nicht glaubt darüber jemals Kontrolle haben zu können. Aber das tut es nicht. Würde sie ihn stoppen, wenn er ihr nun in der freien Natur die Klamotten vom Leib reißen würde? Wenn er das mit ihr anstellt, was noch nie ein Mann zuvor getan hat? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass sie exakt das will, was er gerade im Begriff ist zu tun.
Seine Hände schließen sich um ihren Oberschenkel, während er leicht in die Knie geht. Langsam, gemächlich hebt er sie dort an und stemmt sie mühelos in die Höhe.
Die Baumrinde kratzt schmerzhaft durch die luftige Tunika hindurch an ihrem Rücken und doch verzieht sie keine Miene, zuckt nicht einmal, obwohl es zu brennen beginnt. Auch nicht als ihr Gesicht sich über seinem befindet, sich ihre Beine um seine Hüfte schließen. Nun da sie ihm mehr Spielraum zwischen ihren Beinen gibt, macht er einen Schritt nach vorne, presst sie nicht weiter an den Stamm, sondern lediglich sich noch fester an ihren Körper. Mit Mühe unterdrückt sie ein leises Stöhnen, schluckt trocken und versucht noch immer keine Miene zu verziehen. Aber er ist ihr so unendlich nah, so glühend heiß an ihrem Körper.
Ihre Hände auf seinen Schultern wandern auf beiden Seiten seinen Nacken entlang in seine dunklen, strähnigen Haare hinein, und streichen ihm diese aus der feuchten Stirn. Seine Augenwinkel zucken, als wäre diese zaghafte Berührung so ungewohnt und fremd für ihn. Das dunkle Verlangen verschwindet nicht vollständig, wandelt sich aber in eine gewisse Sehnsucht, die noch so viel tiefer geht als alles zuvor.
Sie beugt sich hinab, um ihn endlich wieder schmecken, endlich wieder von ihm bis zur Atemlosigkeit geküsst zu werden. Doch er zuckt zurück, als würde ihn ihr Entgegenkommen überraschen. Was lächerlich ist angesichts ihrer aktuellen Position.
Ihr Griff um seinen Nacken wird stärker und in seinen Armen stemmt sie sich ihm entgegen, erobert schließlich gewaltvoll seinen Mund. Und es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis er all seine Mauern fallen lässt und ihrem inbrünstigen Kuss mit gleicher Leidenschaft begegnet. Ihr Aufatmen ist beinahe schon erleichtert, als hätte sie endlich bekommen, worauf sie so lange hin gefiebert hat, ohne es selbst zu wissen.
Als er sie wieder küsst und all seine Energie darin steckte ihr den Atem zu nehmen, sodass sie glaubt ohnmächtig zu werden, drückt er gleichzeitig sein Becken hart gegen ihres. Er hält ihre nackten Oberschenkel noch immer in einem schmerzhaften Griff und wandert von da langsam zu ihrem Hintern. Ein fast schon schmerzhaftes Keuchen entkommt seinem Mund als er sie dort fester an seine Mitte drückt. Rainns Magen beginnt zu flattern, als sie ihn da deutlich spüren kann. Auch das ist nicht ihr erstes Mal. Aber seine Lust ist so roh und ungebremst und ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt, dass sie realisiert, was bedeutet. Hier gibt es keine Grenzen, keine Regeln. Wenn sie will, dann kann sie es mit ihm tun. Hier und Jetzt.
Dieser Gedanken, gemischt mit seinen Händen, die sich unter der Tunika in ihren Hintern krallen, lassen sie kurz nach Luft schnappen. Sie braucht unbedingt Sauerstoff und ein funktionierendes Gehirn. Sie reißt den Kopf nach hinten, bis sie mit ihrem Hinterkopf gegen den Baumstamm schlägt, nur um seinen Mund dann an ihrem Hals zu fühlen. Er beißt in ihren Nacken, drückte sie noch fester an den Stamm, obwohl sie das kaum für möglich gehalten hat und beginnt sich zwischen ihren Beinen zu bewegen, sich fast schon an ihr zu reiben. Das Gefühl ist atemberaubend und gleichzeitig so frustrierend unbefriedigend.
Sie realisiert, dass alles, was nun kommt, absolutes Neuland für sie ist. Sie tut schon immer so mutig und großspurig, aber als sich eine seiner Hände von ihrem Hintern lösen und grob zu ihrer Schenkelinnenseite wandert, zuckte sie in seinem Griff vor Schreck zusammen.
Sie spürt, dass ihre Reaktion ihm schlagartig den Wind aus den Segeln nimmt, seine Bewegungen langsamer werden und schließlich ganz ersterben. Er atmet noch immer schnell und laut in ihr Ohr und halt sie weiterhin fest an sich gepresst, als würde eine zu schnelle Trennung dazu führen, dass keiner mehr alleine stehen kann. Sie fühlt, wie er, in ihrem Nacken vergraben, versucht seine Atmung zu kontrollieren, hört ihn geräuschvoll schlucken und dann zieht er seinen Kopf langsam nach hinten. Misstrauisch sucht er ihren Blick, findet dort nichts außer Verwirrung, die ihn nicht minder irritiert.
„Du wolltest nicht aufhören, hast du gesagt“, flüstert er verteidigend.
„Ich will nicht aufhören“, erwidert sie sofort leidenschaftlich und schließt ihre Beine fester um seine Hüfte, was, aufgrund der anhaltenden Empfindlichkeit, seine Augenlider kurz flattern lässt. Sie befeuchtet ihre heißen Lippen mit ihrer Zunge und meidet dann peinlich berührt seinen Blick. „Es ist nur das … erste … Mal.“
Im Augenwinkel erkennt sie, dass seine Augen groß werden und er für einen Moment zu atmen vergisst.
„Du verarschst mich?“ Er atmet die angehaltene Luft nach draußen.
Rainn beißt die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf. Conor lässt sie daraufhin abrupt von sich gleiten, als hätte er sich verbrannt, und tritt sofort einen sicheren Schritt zurück, als sie wieder festen Boden unter den Füßen findet. „Scheiße, wie alt bist du?“
„Spielt das eine Rolle? Es ist eben anders, da wo ich herkomme“, antwortet sie gereizt und gleichzeitig frustriert über seine alberne Reaktion.
„Wie anders? Ihr treibt‘s da nicht miteinander?“
Rainn verdreht genervt die Augen und verschränkt die Hände vor der Brust. „Gott, du hörst dich an, als geht’s um eine große Sache.“
„Weil’s das ist“, sagt er verwirrt.
„Von mir aus, dann ist es eben eine große Sache. Fakt ist, dass ich es bislang auch nicht brauchte oder gar wollte. Ich habe dir gesagt, dass ich nicht will, dass du aufhörst, weil es stimmt. Also kannst du bitte aufhören mich anzusehen, als wäre ich von einem anderen Planeten?“
„Ich …“, stammelt er und sieht zu Boden, zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Ich muss darüber nachdenken …“
„Tu das.“ Sie rollt sie mit einem Seufzen die Augen. „Wir haben sowieso Wichtigeres zu tun. Und sollten wir das Morgen überleben, kannst du gerne weiterhin so tun, als wäre es eine Entscheidung, die du mit deinem Kopf triffst.“ Sie hält seinen Blick einen Moment mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht und spaziert dann an ihm vorbei richtet dabei die Tunika, die auf den ersten Blick ziemlich zerknüllt aussieht.
„Du hast ‘ne ziemlich große Klappe für jemanden, der gerade für ‘n kurzen Moment mächtig Schiss in der Hose hatte“, ruft er ihr hinterher, lässt sie aber ziehen.
Sie wirft ihm noch einen spielerischen Blick über ihre Schulter zu. „Du meinst in der Hose, wo eben gerade noch deine Hand gesteckt hat?“
Sie treffen sich am nächsten Morgen im Morgengrauen und Rainn hat die Nacht über kein Auge zugemacht. Sie ist immer wieder in Gedanken durch die Ereignisse gegangen. Ist von einer Entschlossenheit in die nächste gewandert. Sie wird Ruby zurückholen, sie wird ein Teil der Gemeinschaft werden, sich ihren Platz verdienen und dann wird sie zum ersten Mal mit einem Mann schlafen. All das wird passieren, weil bislang alles, was sie sich so fest in den Kopf gesetzt hat, auch passiert ist. Und jetzt, wo ihr ganzes Leben und das einen kleinen Babys davon abzuhängen scheint, ist der schlechteste Zeitpunkt diese Tradition zu brechen.
Es ist noch frisch draußen, als sie ihren Weg durch das bereits geöffnete Tor sucht. Den Bogen und die Pfeile auf dem Rücken, das Messer an ihrem Gürtel. Zu ihrer Überraschung trifft sie draußen auf drei Pferde. Eins ohne Reiter, das wohl ihr gehört, auf dem anderen sitzt Conor und auf dem dritten seine überheblich lächelnde Schwester.
„Guten Morgen Goldfisch. Du dachtest doch nicht, dass ihr dir den ganzen Ruhm allein überlasse, was?“
18. Kapitel
Rainns Blick wandert sofort zu Conor, doch dieser ignoriert sie gekonnt und sieht stattdessen grüblerisch in den dämmernden Tag hinaus. Sie kennt ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er sehr wohl weiß, warum sie ihn nun anstarrt. Nicht, dass Rainn geglaubt hat nun einen romantischen Ausflug zu zweit machen zu können, aber Selena an ihrer Seite stinkt förmlich nach einer Menge Ärger und Frust.
„Je mehr wir sind, umso mehr fallen wir auf“, wendet Rainn ein, aber ihre Stimme verrät schon die Kapitulation. Ebenso wie die Tatsache, dass sie sich währenddessen bereits auf direktem Weg zu dem fuchsfarbenen Pferd befindet, das sie tatsächlich als das Gleiche identifiziert, das sie auch schon auf dem Weg hierher begleitete.
„Dacht ich mir auch, aber ich schätze, dass du nicht hier bleibst, wenn ich dich lieb bitte, was?“ Selena reißt die Zügel des Tieres herum und treibt das Pferd mit den Schenkeln energisch an, so dass es haarscharf an Rainn vorbei schrappt. Rainn beißt die Zähne fest aufeinander, verkneift sich ein lautes Fluchen und atmet tief ein und aus. Dann greift sie nach den Zügeln, stemmt ihren Fuß in den Steigbügel und zieht sich auf den Rücken des Tieres. Dort angekommen richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf Conor und beschließt Selena, so gut es geht, zu ignorieren.
„Also? Wohin geht’s?“
Während er sein Pferd antreibt und sie sich in gemächlichem Schritt von der Gemeinschaft entfernen, sieht er zu ihr zurück. „Gen Norden, etwa einen Tagesmarsch von hier.“
„Aha. Und was erwartet uns da?“
„‘ne Menge Wichser hinter hohen Mauern“, antwortet Selena abfällig für Conor.
Mit Mühe und Not kann Rainn ein genervtes Augenrollen unterdrücken. Sie weiß schon, warum es mit Conor allein wesentlich einfacher gewesen wäre.
„Sie hausen in einer alten Zementfabrik in der Nähe von dem alten Pheonix. Die Betongebäude sind die Letzten, die überhaupt noch stehen und etwas Schutz bieten. Der Rest ist nur noch Schutt und Asche, verschluckt vom Sand oder längst eingestürzt.“ Zu Rainns großer Verwunderung schlägt Selena plötzlich einen ganz anderen Ton an. Sie reitet neben ihr, sieht starr nach vorne und kneift dabei die Augen fester zusammen, als es bei dem schwachen Wind oder der fehlenden Sonne notwendig wäre. „Es ist acht Jahre her, seit wir da weg sind. Wenn sich seitdem nichts groß verändert hat, dann vergammeln sie da noch immer in dem Hauptgebäude, das an die ehemalige Produktion angrenzt. Die Produktionshalle ist eingestürzt. Zu viel Stahlträger, die über die Zeit gerostet sind, aber der angeschlossene Verwaltungsteil besteht fast vollständig aus Betonwänden und müsste noch immer stehen. Aus Angst vor Eindringlingen hat man Stacheldraht um den Bereich herum gelegt, die umschließenden Zäune damit fast vollständig ummantelt. Schwierig da durchzukommen. Es gibt ‘n Hintereingang, von dem nicht viele wissen und ‘n ziemlich gut bewachten Vordereingang. Als wir weg sind hat man mit wilden, ausgehungerten Hunden experimentiert, sie an Leinen am Zaun gebunden, so dass sie auf Eindringlinge los sind und den Job der Wachleute übernommen haben. Damit dürften sie nun einen großen Schritt weiter sein.“
Rainn schweigt einen Augenblick, denn sie ist viel zu irritiert über die Offenheit, die ihr Selena entgegenbringt. Dass es ihr selbst ziemlich unangenehm ist endlich ihren Stolz herunterzuschlucken, kann Rainn sehen, weil Selena sie noch immer nicht ansieht und ihre strengen Gesichtszüge rein gar nichts von ihren Emotionen verraten. Es scheint ihr schwer zu fallen Rainn alles preiszugeben, was sie von ihrer ehemaligen Heimat weiß, aber sie realisiert wohl, dass es ihnen zum ersten Mal um die gleiche Sache geht. Obwohl Rainn das Gefühl nicht loswird, dass es Selena noch um so viel mehr geht. Um eine Form der Rache, ein Aufbäumen nach jahrelanger Erniedrigung. Wenn es diesen Menschen so sehr um den Erhalt ihrer Rasse geht, dann ist eine unfruchtbare Frau wie sie nahezu wertlos. Auf eine traurige Art und Weise erklärt es ihre burschikose Art, ihre kalte, undurchdringliche Mauer und den verzweifelten Versuch doch noch einen Wert zu erhalten. Als Selenas Gesicht sich weiter zu verdunkeln beginnt, realisiert Rainn, dass sie ihr Starren sehr wohl bemerkt.
Sie räuspert sich schnell. „Und sie selbst? Haben sie Waffen? Pistolen? Gewehre?“
Nun sieht Selena überrascht zu ihr. „Was? Nein! Du etwa?“ Auch Conors Blick fühlt sie nun heiß auf sich brennen, als hätte sie angedeutet den Fundort eines Allheilmittels zu kennen.
„Hätte ich sie, dann hättet ihr sie mittlerweile. Es gibt herzlich wenige Stellen, die du nicht abgesucht hast, wenn du dich erinnerst. Und die übrigen Stellen hat Conor später übernommen.“ Mit einem süffisanten Grinsen begegnet sie Conors fragenden Blick, der sich augenblicklich in die gewohnte Gereiztheit umschlägt, als er versteht, auf was sie da gerade anspielt. Eilig sieht er wieder nach vorne auf den großzügigen Pfad, der sich langsam aus dem Pinienwald herausschlängelt.
Sie hört amüsiertes Schnauben aus Selenas Richtung, dann herrscht einen Moment Schweigen, bis sie wieder das Wort ergreift. „Schusswaffen gibt’s hier noch einige auf der Welt, aber Munition nicht mehr. Viele sind über die Jahre durch Feuchtigkeit zerstört worden. Schießpulver, Kugeln werden nicht mehr hergestellt. Wie auch? Eine Schusswaffe zu finden, die funktioniert, ist so etwas wie der heilige Gral.“
„Aber wie kann das sein? Nach dem Atomkrieg mussten doch noch zahlreiche Waffen und Munition übrig sein, nachdem kaum Menschen das überlebt haben.“
„Ich weiß nicht, was man euch da drin erzähl hat, Goldfisch, aber den Atomkrieg haben noch eine Menge Leute überlebt. Vielleicht zu viele. Sie haben begonnen sich gegenseitig abzumurksen, um die verbleibenden Ressourcen zu kämpfen, die Folgeschäden der Strahlung haben dann den Rest erledigt, um uns siebzig Jahre danach fast vollkommen ausgerottet.“
„Aber was war mit den Super-Gaus? Ohne Wartung und Strom sollten doch alle Atomkraftwerke in die Luft gegangen worden sein? Ohne Kühlung kommt es doch zwangsläufig zur Kernschmelze und diese Kettenreaktion hätte doch sämtliches Leben auslöschen müssen.“
„Nur, dass es dazu nie gekommen ist. Scheiße, die haben euch da drin echt ne Menge Quark erzähl, was?“ Sie lacht laut auf. „Selbst ich weiß, dass ein Kernkraftwerk eine Notabschaltung hatte, Dummchen. Die einzige Strahlung kam von den Waffen. Die waren scheiße, haben ‘ne Menge zerstört, aber eure Superkatastrophe gab’s nie.“
Rainn sieht in die Ferne und doch sind ihre Gedanken nicht bei dem helleren Himmelsstreifen oder der kühlen Luft, die über ihre nackten Arme weht und ihren Körper mit Gänsehaut darauf reagieren lässt. Sie fühlt sich so dumm und das ärgert sie immens. Seit sie aus B5 aufgebrochen ist, hat sie sich den Menschen hier überlegen gefühlt. Weil sie in einer Welt groß geworden ist, die so viel weiter, so viel durchdachter und entwickelter war, als das mittelalterliche Leben hier. Und doch muss ihr gerade Selena erklären, wie wenig sie im Grunde weiß.
Was ist mit der Verwaltung in B5? Haben sie es gewusst? Haben sie geahnt, dass Leben draußen tatsächlich möglich und nur die Nachwirkungen der Strahlung gefährlich ist? Wenn es so ist, dann ist es nur richtig die Menschen innerhalb in diesem Glauben zu lassen, um die Neugierde mit Angst zu überdecken, damit sich niemand selbst gefährdet. Aber wie konnten sie das Geheimnis über all die Jahre aufrechterhalten? Hat es all die Jahre keine Menschen gegeben, die an den Glaswänden aufgetaucht sind? Das kann unmöglich sein!
Selena und Conor lassen sie in ihren Gedanken zurück, traben munter nebeneinander her, während sich Rainn etwas zurückfallen lässt. Ihr Gesicht verdunkelt sich immer weiter, je mehr der Gedanke in ihr wächst, dass man sie bewusst von Anfang an hinter’s Licht geführt hat.
Nachdem sie ein paar Stunden unterwegs sind und die Sonne sich tatsächlich auch mal hinter dichten, dunklen Wolken versteckt, halten sie an einem Bachlauf, um die Pferde dort zu tränken. Sie selbst lassen sich an den dortigen Sandsteinen nieder und essen das Brot und das Fleisch, das sie sich mitgebracht haben. Gedankenverloren spielt Rainn mit ihrem Messer in der Hand, hebelt damit kleiner Bröckchen Sandstein aus dem Stein, auf welchem sie sitzt.
„Was tust du eigentlich hier?“, durchbricht Selena die Stille schließlich mit vollem Mund. Sie sitzt ihr breitbeinig gegenüber, hat sich mit den Ellenbogen auf den Knie abgestützt und schaut dabei aus wie ein grobschlächtiger Mann.
„Was meinst du?“, erwidert Rainn seufzend.
Eine Reise allein mit Conor allein wäre wohl um einiges entspannter geworden. Sie wirft einen kurzen Blick zu ihm hinüber. Er kniet über dem Wasser, füllt gerade seine Trinkflasche auf, um davon einen großen Schluck zu nehmen. Dabei vergießt er einen Großteil, der sich dann einen Weg über sein Kinn zu seinem Brustbein bahne. Gut, vielleicht wäre es nicht entspannter geworden, dafür aber um einiges angenehmer.
„Ruby und das Kleine können dir doch am Arsch vorbei gehen.“
„Könnten sie. Tun sie aber nicht“, antwortet sie und fängt kurz Conors Blick.
Er zieht kurz schmunzelnd den Mundwinkel in die Höhe, als er begreift, dass das der Grund ist, den er Rainn genannt hat, als sie ihm in Bezug auf sich die gleiche Frage gestellt hat.
Rainn widmet sich wieder dem Sandstein unter ihr. „Du warst nicht dabei und hast Rubys Schreie nicht gehört. Es gab nichts, was wir in diesem Moment machen konnten. Aber sie hat auf mich gebaut, wollte Antworten von mir und ich hatte das Gefühl sie im Stich zu lassen. Und nur, weil wir in diesem Moment nichts anders hätten machen können, heißt das nicht, dass es so bleibt, wenn wir ankommen.“
„Hm“, brummt Selena, als würde sie ernsthaft über Rainns Worte nachdenken und abschätzen, ob sie ihr glauben soll oder nicht. Sie hält noch immer ihr Messer in der Hand, womit sie Stücke vom Brot abgetrennt hat. Ihre dunkel geschminkten Augen lassen nur wenig Raum, um zu erkennen, was sich in ihr tut. Sie bläht die Nasenlöcher auf, schnaubt kurz und sieht mit einem schiefen Lächeln zurück zu ihrem Essen. Es fühlt sich an wie eine Absolution, die Rainn von ihr erhalten hat. Und obwohl es ihr stinkt, dass sie ihre Gemütslage von einem Miststück wie Selena abhängig macht, empfindet sie ihre Reaktion wie eine Erleichterung.
Sie machen sich anschließend wieder auf den Weg. Es überrascht Rainn wie wenig ihr das Reiten mittlerweile ausmacht. Im Gegenteil empfindet sie es irgendwann als angenehm, dass das Pferd auf den Weg achtet und sie ihre Gedanken treiben lassen kann. Sie tut das Richtige und das weiß sie. Es ist riskant und vermutlich auch ziemlich dämlich, doch vielleicht ist das auch der Grund, warum es funktionieren wird. Weil diese Mistkerle nicht damit rechnen, dass eine Handvoll Wahnsinnige kommt, um ein einzelnes Mädchen zurückzuholen. Es ist ein Versuch wert und nur deshalb reiten Conor und Selena mit ebenso bestimmtem Gesichtsausdruck hinter ihr her.
Nach weiteren Stunden quälender Langweile beginnt sich die Umgebung zu verändern. Sie wird hügeliger, spitzer aber auch grüner und bewachsener. Langsam erkennt Rainn, dass sich in der Ferne gigantische Berge abzeichnen, die sie nur deshalb erst so spät ausmachen kann, weil deren Spitzen sich in dem trüben Einheitsbrei der Wolken verstecken. Die wellige Hügellandschaft, außerhalb der Biosphäre, ist dagegen ein Witz.
Wie weit die Berge sich noch außerhalb ihrer Sicht in den Himmel schrauben? Was sich wohl dahinter verbirgt? All das zieht ihre Aufmerksamkeit so magisch an, dass sie erst sehr spät bemerkt, was sich vor den Bergen befindet. Als sie es schließlich bemerkt, zieht sie irritiert die Augenbrauen zusammen, was von Conor zur Kenntnis genommen wird, der neben ihr reitet und ihre Reaktion genauestens beobachtet.
„Das war mal Phoenix. Eineinhalb Millionen Einwohner.“
„Eineinhalb Millionen?“, bringt Rainn mit einem Keuchen hervor.
Vor ihr liegt ein kolossaler Trümmerhaufen. Ein Meer aus Beton, Stahl und Sand. Das hier hat mit den Bildern, die sie aus den Büchern kennt, rein gar nichts mehr zu tun. Hier und da stechen noch Gebilde in die Höhe, die man annähernd als ehemalige Gebäude ausmachen kann. Besonders im Zentrum der Trümmerstadt, als hätten sich dort einmal Hochhäuser befunden, die sie ebenfalls aus den Büchern kennt. Wie haben Menschen, Natur und die Zeit etwas so Riesiges so dermaßen in die Knie zwingen können?
Trotz der fehlenden Sonne an diesem Tag, sieht sie, dass es langsam dunkler zu werden beginnt, was all dem eine noch gespenstischere Atmosphäre gibt. Als stünden sie vor einem gewaltigen Massengrab. Die Stille wird größer, beinahe schon aufdringlich. Der Wind nimmt leicht zu und weht den Sand an ihnen vorbei in Richtung Stadt. Als arbeitet die Natur in ständig und unermüdlich daran alle Hinterlassenschaften der Menschheit für alle Zeiten zu beseitigen. Sie hat bislang ganze Arbeit geleistet.
„Komm“, raunt Conor neben ihr, als sich Selena schon vor ihnen in Bewegung gesetzt hat und langsam hinter dem nächsten Hügel verschwindet, der den Blick auf die Stadt wohl wieder verbergen wird. Rainn reißt sich von dem Anblick los und folgt den beiden.
Es vergeht noch etwa eine Stunde, in der Rainn das Gefühl hat, als ob sie sich wieder weiter von der Stadt entfernen, bis Selena schließlich stehen bleibt und mit der Hand nach vorne deutet.
Auch ohne ihre Hilfe, hätte Rainn es erkannt. Denn in der ansonsten fast ganz dunklen Umgebung erscheinen schließlich zahlreiche Lichtquellen flackernd aus unterschiedlichen Höhen. Sie erkennt ein tatsächlich fast intakt wirkendes Gebäude vor sich, welches sie trotz nahender Dunkelheit noch als hellgrau ausmachen kann. Der herankriechende Sand aus der angrenzenden Wüste hat jedoch auch hier nicht Halt gemacht. Er bedeckt eine Wandseite fast vollständig, als würde er versuchen dort empor zu klettern, um einen Weg hineinzufinden.
In diesem Moment schallt aggressives Hundebellen auf. Rainn kneift die Augen zusammen und erkennt im Fackelschein mehrere Hunde, die in Abständen zueinander an den Zaun befestigt sind. Immerhin so weit voneinander entfernt, dass sie sich nicht gegenseitig zerfleischen können, wohl aber jeden, der sich ihnen nähert.
Sie lassen die Pferde dort zurück und binden sie an einen der rostigen Stahlbolzen, die wie Skelette aus dem Boden stechen. Dann näheren sie sich dem Gebäude vorsichtig von der Seite.
„Du weißt hoffentlich, dass das andere Viecher sind als dein Köter? Mit denen kannst du nicht abends kuscheln, wenn dir kalt wird“, wispert Selena ihr zu. Rainn wirft ihr einen gereizten Blick zu, sagt aber nichts. Die Hunde sind kein wirkliches Hindernis für sie. Das wurde ihr schon klar, als sich ihr Bogen auf dem Rücken plötzlich so viel schwerer angefühlt hat. Sie braucht nur einen, vielleicht zwei, von ihnen zu erschießen, um eine Lücke zwischen ihnen zu schaffen. Aber dass es einen treffen wird, ist wohl unumgänglich.
„Da!“ Conor deutet zu einem dunklen Abschnitt des Zaunes, an dem direkt ein großer Felsen angrenzt. „Zwischen dem Felsen und dem Zaun ist ein etwa ein Meter großer Spalt. Der Zaun hat da eine Öffnung, die nur mit Karabinerhaken gesichert ist. Wenn man das nicht weiß, würde man das von außen nicht entdeckten“, erklärt er weiter, den Blick auf einen der Hunde gerichtet, der dem Felsen am nächsten ist.
„Gut, wir schleichen uns näher ran und dann brauchen wir einen ordentlichen Schuss von dir, Goldfisch.“
Rainn nickt entschlossen, auch wenn es in ihrem Inneren ganz anders aussieht. Dieser Hund hat keinerlei Ähnlichkeit mit Milo, ist irgendein räudiger Mischlingshund, aber es ist dennoch alles andere als leicht und trotz der Unterschiede weckt es Erinnerungen an Milos durchbohrten Körper. Sie positioniert sich so nah wie möglich, was natürlich den Hunden nicht entgeht, die lautstark zu bellen beginnen und alle mit den Leinen in ihre Richtung zerren. Gott, sie müssen alle kurz vorm Verhungern sein, denkt Rainn zähneknirschend. Vermutlich ist es eher eine Erlösung für sie nun durch einen ihrer Pfeile zu sterben.
Selena und Conor stehen hinter ihr und sie kann ihre Anspannung förmlich fühlen. Dank der Leine und der eindeutigen Richtung, in die der Hund nun drängt, bewegt er sich ab einem gewissen Punkt kaum noch von der Stelle. Er steht auf den Hinterbeinen und zerrt noch immer wie ein Wahnsinniger in ihre Richtung.
Rainns Schuss ist präzise und schnell. Es ist nur ein kurzes Jaulen zu hören, als sein Körper zu Boden fällt. Die Pfoten scharren träge im Sandboden, bis er schließlich stirbt. Rainn atmet tief ein und aus, sieht sofort von dem Tier weg zu ihren Füßen hinab, als Selena schnell an ihr vorbeispringt, um zu dem Spalt am Felsen zu gelangen. Conor verharrt noch einen Augenblick hinter ihr und tritt einen kleinen Schritt näher, bis sie seine Körperwärme an ihrem Rücken fühlt.
Es ist nicht viel, aber es bedeutete einiges, als er im Vorbeigehen seine Hand hebt und sanft über ihren Unterarm streicht, der noch immer den Bogen hält. Er sieht sie dabei nicht einmal an, aber das braucht er auch gar nicht. Ihre innere Unruhe ebbt mit einem Schlag ab.
Im nächsten Moment stürmen sie gebückt hinter Selena her, die schon mit schnellen Fingern an den Karabinerhaken herumfummelt, die über die Jahre einiges an Rost dazubekommen haben.
„Acht Jahre.“ Sie lacht leise. „Diese Trottel. Das wird ein Kinderspiel. Sie halten sie sicherlich im Krankenzimmer, nach dem, was sie gestern getan haben, die Schweine.“
Als sie sich durch den Spalt zwängen und als letzter Conor folgt, ist Selena schon im Begriff auf die Seitentür zuzustürmen, die im Schatten der Fackeln nur angelehnt ist. Doch dazu kommt sie gar nicht, denn die Tür wird in exakt diesem Moment von Innen heraus aufgerissen. Sie erstarren in der Bewegung, als ihnen eine dunkelhaarige Frau gegenübersteht, die die Augen weit aufgerissen hat. Sie sieht zu Selena und ihre Augen weiten sich noch mehr. Dann sieht sie zu Conor und schenkt Rainn nicht einen einzigen Blick.
„Conor“, haucht sie ungläubig und verschränkt ihre schmale Hand vor ihrem Mund.
„Wen haben wir denn da?“, spuckt ihr Selena bitter entgegen. „Darf ich vorstellen: Conors erster Fehler.“
19. Kapitel
„Gott … was ... was tut ihr hier?“ Der Blick der hübschen Brünetten liegt weiterhin nur auf Conor. Rainn wagt es gar nicht erst zu ihm zu sehen. Sie hat plötzlich unmenschliche Angst davor, was sie in seinem Gesicht sehen wird, wenn sie es tut. Es ist irrational und dämlich, gerade wenn man bedenkt in welcher Situation sie gerade stecken. Aber leider ist es auch nichts, was Rainn ändern kann. Die Eifersucht frisst sich durch ihr Inneres wie brennende Kohle durch dünnes Papier.
„Was glaubst du, was wir hier machen, Vivi!“, keift Selena vor ihr und tritt einen bestimmten Schritt auf sie zu, drängt sie damit aus dem Licht, welches die Fackeln überall verursachen, hinein in den Schatten des Gebäudes. Vivis Blick reißt von Conor ab und wandert zögerlich, als möchte sie es eigentlich nicht, zu Selena. „Im Gegensatz zu dir bedeuten uns unsere Leute nämlich was.“
Sofort klebt ihr Blick wieder an Conor. „Du weißt, dass das so nicht war.“
Er schweigt noch immer und Rainns Herz schlägt zum Zerbersten schnell. Die ganze Zeit über hat sie erfahren wollen, was die Ursache für Conors Mauer ist, die ihn so kalt und abweisend umgibt. Doch hier befindet sie nun und will es schlagartig nicht mehr wissen. Es ist etwas ganz anderes es so deutlich vor Augen zu haben. Vor allem, wenn das, was sie vor Augen hat, dann auch noch so verdammt hübsch ist. Lange braune Haare, die ihr fast bis zur Hüfte reichen. Feine, anmutige Gesichtszüge und eine großgewachsene, schlanke Figur. Es gibt augenscheinlich nichts, worauf sich Rainn stürzen kann, was diese Frau nicht auf den ersten Blick perfekt macht. Bis auf die offensichtliche Tatsache, dass sie wohl Conors Herz gebrochen hat und er ihr noch immer eine Menge bedeutet.
„Wo ist sie?“, zischt Selena und presst Vivi nun mit der Hand an ihrer Schulter gegen die raue Betonmauer hinter sich. Rainn spürt, wie Conor hinter ihr einen Schritt näher kommt. Nicht näher zu ihr, sondern näher, um seiner Verflossenen notfalls zur Hilfe zu eilen, wenn Selena sich nicht in den Griff bekommt.
Vivi sieht flehend zu Selena, die beinahe ebenso groß ist wie sie. Rainn kommt sich unter ihnen vor wie ein Zwerg. Nur noch ein weiterer Grund, um sich schäbig und mies zu fühlen.
„Sie … sie halten sie unten in den Katakomben und haben sie erst vor ein paar Stunden auf die Krankenstation gebracht.“
„Und die Katakomben sind noch immer am gleichen Ort?“
Vivi nickt eifrig. „Aber alle essen gerade zu Abend. Ihr kommt da nie ungesehen hin. Ich bin nur rausgekommen, weil ich gehört habe wie die Hunde bellen.“ Ihr Blick fällt nun zum ersten Mal auf Rainn und sie bemerkt in ihren Augen eine kurze Verwirrung über ihre Person aufleuchten. Ein wunderschönes, smaragdgrünes Aufleuchten, natürlich. Rainn verzieht ihre Miene zu einer finsteren Grimasse. Miststück.
Vivi sieht daraufhin eilig wieder von Rainn weg zu Selena.
„Hast du sie gesehen?“, fordert Selena und drückt Vivi noch fester gegen die Wand. Diese presst ihre Lippen zu einem schmalen Streifen zusammen, schließt kurz die Augen und wippt dann mit dem Kopf auf und ab. „Dann weißt du’s, verflucht! Sie hat einen kleinen Sohn, der gerade mal ein paar Tage alt ist, der sie braucht, weil er ansonsten verreckt. Du kannst das allen Ernstes nicht durchgehen lassen.“
„Sie wussten sicherlich nichts von dem Kind“, spricht sie entschuldigend. Selena lacht daraufhin höhnisch auf.
„Du bist kein bisschen schlauer geworden in all der Zeit. Wie kannst du davor immer noch die Augen verschließen! Das sind Monster!“, zischt Selena und stößt sie erneut so fest zurück, dass Vivis Hinterkopf gegen den Beton schlägt und ihr ein schmerzvolles Stöhnen entringt.
„Selena!“, knurrt Conor hinter Rainn und seine tiefe Stimme zu hören, die ihr Einhalt gebietet, ist so verflucht schmerzhaft. Weil er offenbar nicht will, dass sie Vivi Schmerzen zufügt. Weil er bis zu diesem Moment gewartet hat, um sich einzumischen. Vivis Blick fährt erneut zu Conor, ihre Augenbrauen sind verzweifelt zusammengezogen. Gott, Rainn will am liebsten direkt auf den Boden kotzen, so schlecht wird ihr. Nie zuvor hat sie sich Selena emotional so nah gefühlt und sich gewünscht, dass sie nicht auf Conors warnende Stimme hört und den Kopf dieser Frau weiterhin an die Wand schlägt. Und für diese Gedanken schämt sie sich gleichzeitig in Grund und Boden. Was für ein Mensch bist du überhaupt? Sie erkennt sich kaum mehr wieder.
Langsam nur lässt Selena die Frau los, die noch immer ängstlich gegen die Wand gepresst ist. Nach ein paar tiefen Atemzügen hält sie ihr schließlich ihren Zeigefinger unter die Nase. „Du wirst uns nun helfen, kapiert? Das bist du uns schuldig.“
„Ich will euch ja helfen, wirklich! Aber sie werden mich niemals mit ihr gehen lassen, das weißt du.“
„Dann überleg dir was oder ich schwöre, dass ich dir mein Messer in deinen Bauch ramme“, presst Selena zwischen ihren Zähnen hervor. Erst in diesem Moment wird Rainn klar, dass Selena die ganze Zeit über ein Messer in ihrer anderen Hand gehalten hat und es nun bedrohlich auf Bauchhöhe gegen den Körper der Frau drückt.
„Selena … bitte!“, fleht sie und schließt die Augen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich schwer. „Ich … ich bin schwanger.“
Rainns Blick schießt sofort zu ihrem Bauch hinab, doch es ist zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Lediglich die Klinge von Selenas Messer blitzt auf, als sie den Griff fester umgreift und das Messer noch ein Stückchen weiter nach vorne schiebt. Vivi zittert und bebt unter der panischen Angst ihr ungeborenes Kind zu verlieren.
„War ja klar.“ Selena atmet schwer. Die Wut und der Hass scheinen in ihren Adern nur noch stärker zu werden. Rainn ist gefangen in dem Moment, starrt noch immer auf den Bauch der Frau vor ihr und geht in Gedanken immer und immer wieder den gleichen Satz durch. Ich bin schwanger. Ich bin schwanger… Sie ist schwanger!
„Sie ist schwanger!“, platzt es aus ihr heraus.
„Ich bin nicht taub, Goldfisch“, knurrt Selena in ihre Richtung, ohne Vivi aus ihren dunklen Augen zu lassen.
„Nein! Sie ist schwanger! Ein Leben für ein Leben … oder nicht?“ Selena stockt, als die Logik dahinter auch endlich bei ihr greift.
Der Tod einer Frau hat für diese Kerle da drin keinerlei Bedeutung, doch der Tod einer offensichtlich fruchtbaren Frau und ihr ungeborenes Kind ist ein herber Verlust. Einer, den sie niemals eingehen werden. Schon gar nicht für ein kleines Mädchen, von dem sie vielleicht nicht einmal wissen, ob sie Kinder gebären kann, wenn Ruby den Rand gehalten hat.
„Du führst uns zu ihnen, verstanden? Du wirst eine erstklassige Show hinlegen und wir tauschen dich gegen Ruby ein. Dir und dem Kind wird nichts passieren, wenn du tust, was wir dir sagen.“
Vivi schaut weiterhin ängstlich in Selenas fordernde Augen. Rainn sieht sie hart schlucken und dann wandert ihr Blick wieder zu Conor hinüber.
„Er wird nicht mitkommen“, zischt Selena ihr leise zu, doch Rainn versteht es dennoch. „Alle die ihn kennen wissen, dass er dir niemals etwas tun würde. Und alle die mich kennen, wissen, dass es mir schwer fallen wird dir nichts zu tun.“
„Ich komme auch mit. Sollte sie nicht reichen, bleibe ich auch hier“, sagt Rainn entschlossen und tritt einen Schritt näher. Noch viel mehr noch, als einen Anteil an Rubys Rettung zu haben, will sie jetzt nicht mit Conor allein sein. Sie will gerade weder seine Erklärung hören, noch seine abweisende Art spüren. Sie sieht, wie Selena zögert und in Gedanken wohl alle möglichen Szenarien durchspielt. Sie wiegt die Vor- und Nachteile einen Augenblick in Stille ab.
„Das ist nicht nötig. Sie ist Druckmittel genug“, mischt sich nun Conor ein, der einen weiteren Schritt näher kommt und nun direkt auf Rainns Höhe steht. Sie wirft ihm nur einen kurzen Blick zu, sieht, dass er eisern zu Selena starrt. So verbissen, als würde er es akribisch vermeiden sowohl Rainn, als auch Vivi, anzusehen.
„Das entscheidest nicht du!“, faucht Rainn in seine Richtung, ohne ihn anzusehen. Dann blickt sie bestimmt zu Selena zurück. „Ich komme mit und Schluss.“
„Wie auch immer. Ist mir echt scheißegal“, antwortet diese. „Hautsache du gibst mir dein Messer, Goldfisch. Immerhin hab ich hier auch zwei Geisel.“
Ohne darüber nachzudenken löst Rainn ihr Messer vom Gürtel und reicht es an Selena weiter, die Vivi anweist sich umzudrehen. Hinter ihr hält sie das eine Messer an Vivis Kehle und das andere auf Bauchhöhe. Vivi erträgt es ohne zu murren, als Selena sie in Richtung Eisentür schiebt. Rainn folgt ihr so nah wie nur möglich, vermeidet es dabei konzentriert nicht zu Conor zu sehen, der wie erstarrt noch immer an der gleichen Stelle steht. Für einen Augenblick glaubt sie, dass er noch etwas sagen möchte, weil er plötzlich von einem Bein aufs andere tritt, doch schon im nächsten Moment befindet sie sich im Inneren des Gebäudes und der flüchtige Augenblick ist verflogen.
„Hier lang“, flüstert Vivi mit zittriger Stimme und deutet mit schwach erhobenem Zeigefinger in eine Richtung.
Langsam schreiten sie weiter durch den dunklen Raum, der wohl eine Art Abstellkammer ist. Vollgestellt mit alten, gammelig riechenden Holzmöbeln und einer Menge undefinierbarem Plastikmüll. Stimmen dringen langsam zu ihnen durch, hauptsächlich laute Männerstimmen, die Rainn unweigerlich an den Abend von vor zwei Tagen erinnern. Lachen, Grölen und ekelhaftes Husten. In ihrem Magen brodelt es vor Zorn.
„Vivi-Maus, schieb deinen Arsch hier rüber!“, kommt ihnen bellend die erste Stimme eines Mannes entgegen, der Vivi in den großen Aufenthaltsraum treten sieht. Rainn würde sich gerne in dem Raum umsehen, doch ihre Anspannung und das rasendes Herz lassen lediglich zu, dass sie sich eilig ein Bild von den Gefahren macht. Etwa zwanzig Personen befinden sich in dem Raum. Manche sitzen auf dem Betonboden, andere auf einer langen Sitzbank mit einem Tisch in der Mitte. Wieder andere lehnen an den Wänden und richten sich nun alarmiert auf, als sie mit Vivi noch zwei andere Personen eintreten sehen.
„Ja, leck mir doch einer die Eier. Wen haben wir denn da?“, kommt ein lautes Lachen aus der Mitte des Raumes.
Rainn starrt an den beiden Körpern vor ihr vorbei und sieht sich schlagartig mit einem kleineren, etwas drahtigerem Typ konfrontiert, der in der Masse der breitschultrigen Kerle etwas aus der Reihe fällt. „Wenn das nicht unsere Wüstenschlange ist!“
Den Bogen fest in ihren Händen, nimmt sie den ersten Pfeil und richtet ihn auf den kleinen Mann, der nun mit ausgebreiteten Armen auf sie zuläuft. Selena hat immerhin ihr Messer, was in diesem kleinen Raum sicherlich die bessere Alternative ist.
„Du weißt, was wir wollen“, spricht Selena und Rainn bewundert sie für die Härte in ihrer Stimme, unter die sich noch eine Menge Hass mischt. Ja, Selena kennt diesen Mann. Ganz ohne Frage. Rainns Blick wandert durch die Reihen und bleibt schließlich an dem bärtigen Kerl hängen, den sie noch allzu gut in Erinnerung hat. Der Ruby von ihr weggeschleift und Milo erschossen hat. Ihr Blick verfinstert sich ganz automatisch, während die Spitze des Pfeils in seine Richtung wandert. Er bemerkt es und zeigt sein schmutziges Grinsen, das sie noch bis zu ihrem Tod verfolgen wird.
„Ich kann’s mir denken.“ Der kleine Mann lässt sich wieder auf der Bank nieder und seinen Blick schamlos über Vivis Körper wandern. „Und ich kann mir denken, dass du dein Messer nicht aus reinem Zufall an ihren Bauch hältst.“
„Du weißt, dass ich keine Skrupel habe. Nicht bei ihr.“
Er hält ihren Blick und schnaubt dann belustigt auf. Im nächsten Moment neigt er den Kopf und kneift nachdenklich die Augen zusammen. „Glaub ich dir auf’s Wort.“
Dann erhebt er sich so abrupt, dass Rainn leicht zusammenzuckt. Auch das bemerkt der bärtige Mann. Sein Grinsen wird noch breiter und Rainns Wut gleichsam nur noch größer.
„Schön. Holt das Mädchen.“ Der Kleine, der hier offenbar das Sagen hat, deutet auf einen weiteren Typ, der mit verschränkten Armen am Durchgang zu einem anderen Zimmer steht. Dieser regt sich ohne zu Zögern und verschwindet. Das war einfach. Beinahe schon zu einfach, schießt es Rainn durch den Kopf. Aber haben diese Kerle hier wirklich eine andere Wahl? Selena hält in den, vor Hass und Wut zitternden, Händen, worum es ihnen hier alle geht. Leben. Überleben. Wachsen. Doch ganz im Gegensatz zu der Gemeinschaft um Caldwell ohne Moral und ohne Gewissen.
„Wie geht’s euch da unten? Hab gehört ihr bekommt auch regelmäßig Nachwuchs?“ Sein Blick wandert langsam zu Rainn und wieder zu Selena zurück, dann schnalzt er amüsiert mit der Zunge.
„Wenn ihr eure widerlichen Griffel bei euch behaltet, können wir uns nicht beschweren.“
„Haben wir von nun an vor.“ Er hebt beschwichtigend beide Handflächen in die Höhe. „Scheint ein Missverständnis gewesen zu sein, für das wir uns bei euch entschuldigen möchten. Wir wachsen hier so stark, dass es manchmal schwer fällt die Moral in alle Schädel zu hämmern. Ihr kennt das ja.“
„Ja.“ Selena lacht sarkastisch auf. „Sicher.“
Schritte nähern sich und Rainn sieht zur Tür hinüber, durch die im nächsten Moment Ruby gestoßen wird. Rainn schluckt hart und denkt im nächsten Moment daran sich den Schrecken über ihr Äußeres nicht anmerken zu lassen. Aber es fällt ihr enorm schwer. Das rotgelockte, sommersprossige Mädchen taumelt mehr, als dass sie läuft. Ihr Gesicht ist blutig, die helle Tunika rot besprenkelt. Sie scheint nicht einmal mehr Tränen in sich übrig zu haben, als sie Selena und Rainn am Ende des Raumes stehen sieht. Doch das ist so etwas wie Verständnislosigkeit in ihrem Ausdruck, als würde sie nicht glauben, dass man sie tatsächlich holen kommt. Als wäre all das hier nur ein Traum.
Der Kerl hinter ihr stößt sie gewaltvoll nach vorne, sodass Selena nicht viel anderes übrig bleibt als Vivi loszulassen und stattdessen Ruby in den Armen zu halten, die gleichzeitig weiterhin beide Messer halten. Rainn zieht ihren Bogen sofort zur Seite und zielt nun auf Vivis Kopf. Die hübsche Brünette starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an, als wäre das ihr Todesurteil. Es erschreckt Rainn wie ihre Hand zu zittern beginnt, als sie die tödliche Waffe auf Conors ehemalige Geliebte richtet.
„Woah, ruhig, Ladys!“, spricht der Kleine beruhigend und tritt einen Schritt nach vorne. „Kein Grund jetzt nervös zu werden. Ihr könnt gehen, ohne Hintergedanken, ohne doppelten Boden. Lasst uns nur Vivi hier und am besten ohne Pfeil im Bauch.“
„Bring Ruby hinter mir raus. Ich folge euch rückwärts“, flüstert Rainn in Selenas Richtung, die noch immer eine paralysierte und körperlich schwache Ruby in ihren Armen hält. Sie nickt, gehorcht zum ersten Mal, seit Rainn sie kennt, anstandslos und zieht sich langsam durch die Tür zurück. Wie angekündigt folgt Rainn rückwärts, den Pfeil dabei noch immer auf Vivi gerichtet.
„Hey, Wildkatze.“
Rainn sieht im Augenwinkel wie der bärtige Mann näher kommt, das Kinn überheblich in die Höhe gereckt. Dann zieht er geräuschvoll die Luft in seinen Lungen und entlässt sie mindestens ebenso geräuschvoll. „Wie fühlt’s sich an unsere Luft zu atmen?“
Sie schluckt und umgreift den Bogen fester in ihren Händen, als sie begreift, auf was er anspielt. Sie haben es also erfahren. Natürlich haben sie das. Es ist vermutlich auch der Grund, warum sie Ruby so zurichteten, warum man glaubt, sie nicht mehr zu brauchen. Aber es spielt keine Rolle, was sie wissen und was nicht. Die Biosphäre ist eine undurchdringliche Festung, die sie in tausend Jahren nicht würden durchdringen können.
Langsam tritt Rainn noch einen Schritt zurück, schiebt den gespannten Bogen zur Seite, so dass er nun wieder auf den bärtigen Mann gerichtet ist. Sein schmutziges Lächeln im Gesicht erstirbt auch nicht, als Rainn den Bogen schließlich sinken lässt aber weiterhin die Spannung hält. So lange bis ihr Pfeil schließlich auf seinen Schritt gerichtet ist. In dieser Haltung blickt sie finster zu ihm auf.
„Deinen winzigen Schwanz brauchst du nicht zum Atmen, oder?“
Sie sieht für einen Sekundenbruchteil das Aufflackern von Panik in seinem überheblichen Gesicht und das Aufreißen der Augen im nächsten Moment, als Rainn die Sehne loslässt und sich der Pfeil mit einem Zischen aus der Spannung löst. Die Männer springen auf und brüllen kurz wild durcheinander, bis der kleine Mann beide Hände ausstreckt und die Meute beruhigt. Dann wendet er sich langsam dem bärtigen Mann zu, der hinter ihm steht, und starrt auf den abgeschossenen Pfeil, der durch seine breit aufgestellten Beine hindurch in das Tischbein hinter ihn geflogen ist. Er starrt den Pfeil an, lacht dann lauthals auf und deutet mit dem Zeigefinger wedelnd auf Rainn.
„Das war ‘n Brüller, Kleine. Ich hoffe nur, dass dir der Anblick eines großgewachsenen Mannes mit vollgepissten Hosen einen deiner wertvollen Pfeile wert war.“
Im nächsten Moment ist Rainn in der Dunkelheit hinter sich verschwunden, stürmt herum und weiter zu Selena, die mit Ruby auf der anderen Seite steht. Als sie nach draußen rennen, ziert ihr Gesicht ein Lächeln. Oh ja, der Pfeil ist’s definitiv wert gewesen.
„Spinnst du?“, zischt Selena, als sie durch die Tür stürmen und da von einem aufgeregten Conor empfangen werden.
„Ich hatte es unter Kontrolle“, erwidert sie, als sie weiterrasen.
„Unter Kontrolle?“, keucht Selena neben ihr fassungslos. „Was, wenn er sich bewegt hätte?“
„Was ist passiert?“, will Conor wissen, der sofort an Rubys Seite erscheint und ihren Arm um seinen Hals legt.
„Sie hat einen Kerl zwischen die Beine geschossen. Das ist los!“, keift seine Schwester, als sie den anderen Arm nimmt und sie beginnen auf die Lücke im Zaun zu zu rennen. Die übrigen Hunde bellen wieder laut, als sie die Bewegungen und Geräusche ausmachen.
Doch entweder Conor hält das für den falschen Zeitpunkt, um Rainn anzufahren oder er wagt es nicht, weil das Aufeinandertreffen mit Vivi ihm noch zu tief in den Knochen steckt. So oder so schenkt er ihr nicht einmal einen Blick, als Rainn an ihnen vorbei stürmt, um den aufgetrennten Maschendrahtzaun aufzuhalten. Sie zwängen sich hindurch und laufen weiter, bis Conor Ruby aus Selenas Armen reißt, leicht in die Hocke geht und sie in seine Arme hebt, als würde sie kaum etwas wiegen. So rennen sie schließlich weiter, bis sie zu den Pferden kommen. Conor ist schon im Begriff Ruby auf sein Pferd zu hieven, als Selena ihn mit der Hand am Unterarm stoppt.
„Ich nehm sie. Nichts für ungut, aber das Letzte was sie nun gebrauchen kann ist ein weiterer Mann hinter sich.“
Conor reagiert sofort, wippt mit dem Kopf auf und ab und hilft Selena dabei Ruby vor sich zu platzieren. Dann schwingt er sich auf sein eigenes Pferd.
Rainn wünscht sich, dass sie nicht zu ihm gesehen hätte in dem Moment, als er einen letzten Blick zu der Fabrik zurückwirft. Als da dunkle Schatten durch sein Gesicht wandern und eine Form der Sehnsucht, von der sie hofft, dass sie irgendwann ihr gehört.
20. Kapitel
Sie sind alle hundemüde. Auf sämtlich, verfügbaren Arten, die man nur müde sein kann. Körperlich ausgelaugt und so nah an der Erschöpfung, dass jeder weitere Schritt des Pferdes unter ihnen in den Gliedern schmerzt. Ihre Gedanken sind schwer, sodass sie nicht einmal wissen, was sie nun empfinden sollen. Es sollte Freude sein … oder? Doch Rainn ist zu ausgelaugt, um genauer darüber nachzudenken.
Doch sie haben es geschafft. Das, was sie sich vorgenommen haben, hat ausnahmslos funktioniert. Sie kehren nach Hause zurück, ohne weitere Verluste. Vollständig, so wie es von Anfang an hätte sein sollen. Und doch ist alles anders und keineswegs wie zuvor, auch wenn das Rainns Hoffnung war. Ob Ruby schläft, weiß sie nicht. Rainn reitet hinter den anderen her, sieht immer nur wie ihr Kopf vor Selena hin und her wippt, als hätten ihre Muskeln im Hals keinerlei Spannung mehr. Sie bringen sie zurück. Zurück zu ihrem Sohn. Aber Rainn wird klar, dass es vielleicht egal ist. Vielleicht kehrt Ruby nie wieder zurück. Ganz sicher jedoch nicht mehr als die Person, die sie einmal gewesen ist.
Ihr Blick wandert zu Conor, der leicht versetzt vor ihr reitet. Sie achtet akribisch darauf sich nicht direkt neben ihm zu befinden und sie ist sich sicher, dass es ihm auch recht so ist. So wie sie erst einmal begreifen muss, was die letzten Stunden für sie bedeuteten, muss er das wohl auch. Er ist nicht schweigsamer als sonst, was sowieso kaum mehr möglich wäre, aber die Stille ist eine andere. Melancholisch. Trauernd auf eine gewisse Art und Weise. Es kann ihre eigene Müdigkeit sein, die sie nun in dieser deprimierten Stimmung gefangen hält, obwohl sie eigentlich strahlen müsste vor Freude. Vermutlich ist es so. Sobald sie Zuhause ankommen, geschlafen und geduscht haben, wird alles anderes sein. Besser.
Und so zieht sich der Ritt zurück beinahe bis in die Unendlichkeit und zerrt mit jedem weiteren Schritt gewaltvoll an ihren Nerven. Was nur noch schlimmer wird, als irgendwann die Sonne wieder aufgeht und brutal in ihren Augen sticht. Die Wolkenschicht des vorherigen Tages hat sich verzogen und zeigt sich nur noch als vereinzelte Fäden am Himmel. Selbst als sie die Mauer der Gemeinschaft in der Ferne erkennen, ist es schwer die Erleichterung in sich zu finden.
Ungläubig starrt man ihnen entgegen und spricht leise miteinander, als würde man ansonsten eine schlafende Ruby wecken und nicht riskieren wollen, was dann tatsächlich in ihr erwacht. Als Rainn im Innenhof einen kurzen Blick auf sie erhascht, sind diese Gedanken nur allzu nachvollziehbar. All die Stunden hinter ihr zu reiten, ihr nicht ins Gesicht sehen zu müssen, hat sie vergessen lassen wie schrecklich sie aussieht. Wie blass, grün, blau und rot ihr Gesicht gleichzeitig ist. Sie wendet schnell den Blick ab und bringt das Pferd in den Stall zurück, wo man es ihr sofort abnimmt.
Ohne jemandem einen weiteren Blick zu schenken, trottet sie schließlich davon in Richtung ihrer Hütte.
Es wird dort niemand auf sie warten. Sie ist ganz allein. Aber irgendwie fühlt sich das gerade genau richtig an. Dort angekommen zieht sie sich den Bogen vom Körper und löst die Halterung des Köchers, der sich um ihren Oberkörper schlingt, und der einen nun einen schweißnassen Streifen zwischen ihren Brüsten hinterlässt. Das Messer, samt Holster, wirft sie achtlos in die Ecke. Eigentlich hätte sie sich gleich in ihr Bett schmeißen sollen und wäre sicherlich innerhalb von wenigen Sekunden eingeschlafen. Doch sie schaffte es nicht, will es gar nicht.
Also sackt sie erschöpft mit dem Rücken an die Wand und lässt sich rückwärts daran entlanggleiten, bis sie auf dem Erdboden sitzt, die Knie nah an sich herangezogen. So verharrt sie, starrt an die gegenüberliegende Wand und durchläuft die letzten Stunden und Tage in ihren Gedanken jedes Mal aufs Neue. Sie weiß, dass ihr Kopf im Grunde zu müde ist, um alles genauestens zu reflektieren, aber sie schafft es einfach nicht damit aufzuhören. Er spielt unaufhörlich alles ab, was sich zuvor ereignete.
Von draußen kommen Stimmen, die so ganz anders klingen wie noch vor zwei Tagen. Leises Lachen. Glücklich erscheinendes Plaudern, auch wenn es so ist, als würde man den Zurückkehrenden den Respekt der Ruhe zollen. Rainn ist ihnen dankbar dafür, denn sie will im Grunde nichts lieber als in Ruhe gelassen zu werden.
Das gilt auch noch in dem Moment, als sie draußen Schritte vernimmt, die vor ihrer Tür stoppen, dann offensichtlich das leere Bett bemerken und zögern. Rainn erkennt ihn schon an seinen schweren Schritten und hätte am liebsten gemurmelt, dass er sich verziehen soll.
Sie weiß wie unfair es wäre ihre Verwirrung in Form von Wut an Conor auszulassen, aber sie braucht schlichtweg etwas Zeit, um zu verarbeiten, was sie empfand als sie Vivi gegenüberstand.
Sie fürchtet sich vor der Tatsache, dass der Bogen in ihrer Hand zitterte, weil sie für den Bruchteil einer Sekunde den Gedanken in sich spürte diese Frau einfach zu erschießen. So ein Mensch ist sie nicht. Das war eindeutig nicht sie selbst. Und es macht ihr eine ungeheure Angst, wenn sie darüber nachdenkt, was vielleicht sonst noch in ihr schlummert. Immer und immer wieder sind dann Conors Blicke in ihren Gedanken, die er zu dem Ort zurückgeworfen hat, an dem er einst lebte. Sähe er auch ihr so hinterher, wenn sie ihn verlassen würde? Sie blickt auf den Erdboden zwischen ihren Beinen und schüttelt den Kopf, als Conor eintritt und sie auf dem Boden sitzend vorfindet.
Er sagt nichts, sieht sie nur einen Augenblick an und lässt sich dann mit dem Rücken an die Wand, ebenfalls dort entlang gleiten, bis er ihr gegenüber sitzt und die Beine erschöpft erscheinend von sich weggestreckt.
Rainn hebt den Blick, sieht, dass er noch immer mit diesem undefinierbaren Ausdruck zu ihr starrt, den sie einfach nicht deuten kann, so sehr sie es auch versucht. Sie mag ihn lieber wütend, weil sie dann wenigstens genau weiß, woher diese Wut kommt. Meistens von ihr. Aber das ist okay. Das hier ist beängstigend, einschüchternd. Sie fühlt einfach zu viel: Verwirrung. Angst. Und noch eine ganze Menge andere Dinge, über die sie nicht reden möchte. Gespräche, die sie nicht führen will, die aber wohl längst überfällig sind.
Schließlich seufzt er und fährt sich über seinen Hinterkopf, so wie er es immer tut, wenn ihn etwas quält, aber einfach an die Oberfläche muss. „Sie war …“
„Du musst das nicht tun“, sagt sie knapp unterbrechend. Er hat den Kopf geneigt, sieht so mit erhoben Augenbrauen auf.
„Ist mir klar. Es ist nur … Zeit, schätze ich.“ Rainn hält seinen Blick und nickt schließlich. Sie fühlt das Verlangen ihren Hals zu klären, unterlässt es aber, weil sie es nicht wagt sich überhaupt zu bewegen. Oder gar zu atmen.
„Sie war meine Frau“, beginnt er wieder und sieht hinab zu seinen Händen in seinem Schoss.
„Wusste nicht, dass ihr hier sowas wie Ehen habt“, spricht sie kleinlaut und versucht gleichzeitig den Gedanken daran zu verdrängen wie beide glücklich miteinander gewesen sind. Denn das mussten sie gewesen sein, oder? Tausende Bilder. Erinnerungen an schöne Zeiten. Lachen, Küsse. Berührungen. Kaum merklich schüttelt Rainn den Kopf, um die Stiche, die diese Bilder auslösen, loszuwerden.
„Haben wir auch nicht, aber manchmal spielt’s keine Rolle. Sie war meine Frau. Schon seit wir uns kannten war’s irgendwie klar. Und dann fing’s so langsam an mit den Raubzügen, mit den Veränderungen. Wir waren schon seit drei Jahren zusammen, also war’s schnell eindeutig, dass mit einem von uns etwas nicht stimmte.“ Rainn versucht keine Miene zu verziehen, als ihr klar wird, dass es zwangläufig Conor sein muss, der nicht in der Lage ist, Kinder zu zeugen. Angesichts Vivis aktueller Umstände lässt es keinen anderen Schluss zu. „Scheiße, mir war’s echt egal. Es war schade irgendwie, aber ich konnte damit leben. Für mich ging’s im Leben immer um mehr. Für mich ging’s hauptsächlich um sie. Sie wollten erst mir ‘ne andere Frau geben, aber ich wollte das nicht. Caldwell hat sich für mich eingesetzt. Es war ‘ne beschissene Zeit. Und dann wurde sie schwanger. Als sie’s mir gesagt hat, hab ich echt lange gebraucht, um zu realisieren was sie mir damit tatsächlich sagen wollte.“ Er lacht freudlos auf und verliert sich in den Erinnerungen. „Ich war dreiundzwanzig und irgendwie noch ‘n kleiner Junge, was das anging. Sie hat sich auf einen anderen Kerl eingelassen, wollte es nur einmalig ausprobieren und der Typ hat gleich ins Schwarze getroffen. Die Tatsache, dass es an mir lag war nicht ganz so schlimm wie die Tatsache, dass ich sie dadurch verlor. Sie hätten uns nicht zusammengelassen und das war in dem Moment glasklar. Das war zu dem Zeitpunkt, als Caldwell den Ausstieg plante. Es war unsere einzige Chance und für mich stand’s sofort außer Frage. Am Tag der Ausreise wollte ich sie holen, doch sie war nicht da. Ich bin wie ein Idiot durch die ganze Fabrik gerannt, um sie zu suchen. Hab sie draußen gefunden, wo sie hemmungslos geflennt hat. Natürlich wollten sie eine schwangere Frau nicht gehen lassen, aber für mich und Caldwell stand außer Frage, dass sie zu uns gehörte. Sie und das Kind. Egal von wem’s war. Aber wir hatten nicht bedacht, dass sie das alles gar nicht wollte. Also blieb sie da, obwohl sie eine Wahl hatte. Hat mir das Herz gebrochen und einige weitere mit ihren Zweifeln ebenfalls zum Bleiben gebracht.“
Es fällt ihr so unendlich schwer ihn anzusehen, nachdem er sich ihr zum ersten Mal so öffnet und vor ihr liegt wie ein aufgeschlagenes Buch. Mit all seinen Schäden und Rissen, rausgerissenen und verbrannten Seiten, die er am Liebsten nie wiedersehen will, die aber immer wieder mit Wucht zurückgeflogen kommen. Aber es fällt ihr keineswegs schwer ihn sich vorzustellen, wie er vorher gewesen ist. Aufopfernd und mit dieser Verletzlichkeit, die er bis heute besser bewacht, als alles andere.
Es ist keine Geschichte, die sie nach allem, was sie schon gehört hat, überrascht. Außer vielleicht, dass Vivi ein Leben dort tatsächlich einem Leben an Conors Seite vorzog. Hätte er ihr nicht alles geben können, nach dem, was er ihr bereits schon gegeben hatte? Und vielleicht war es eine Form des Bereuens, das sie in Vivis sehnsüchtigem Blick gesehen hat, als sie Conor erblickte.
Sie realisiert, dass schon eine Zeit lang Stille zwischen ihnen herrscht. Er blickt gen Boden und scharrt da mit den Füßen im Schmutz. Sie glaubt auch nicht, dass er irgendwelche tröstende Worte von ihr hören will oder, dass sie ihm sagt, wie dämlich Vivi gewesen war,ihn zu verlassen. Obwohl sie das zwangsläufig zu sein scheint. Er will nichts dergleichen von ihr, weil es einzig und allein darum ging, ehrlich zu ihr zu sein. Ihr endlich die Offenheit zu geben, die sie schon fordert, seit sie bei ihnen ist. Und das bedeutet vermutlich mehr, als alles andere. Weil er sie auch hätte meiden können und ihr streng genommen keine Erklärung geben muss, so wie bislang auch. Aber er scheint diese Verschlossenheit selbst nicht mehr zu wollen. Und egal wie lodernd die Eifersucht noch immer in ihr brennt, weil er sein Herz schon verloren zu haben scheint, es berührt sie gleichermaßen voller Zuversicht.
Ohne so recht darüber nachzudenken, was sie da tut, drückt sie ihren Rücken nach vorne und krabbelt auf allen Vieren auf ihn zu. Er hebt den Blick und runzelt irritiert die Stirn, als er es bemerkt. Aber er lehnt seinen Oberkörper zurück, als sie näher kommt und nimmt seine Hände von den Beinen, als weiß er längst, was sie vorhat. Ohne sich einen Moment des Zögerns zu gönnen, schiebt sie sich auf seinen Schoss, bis sie vollständig auf ihm sitzt, seine Oberschenkel unter ihrem Hintern.
„Rainn ...“, murmelt er. Es klingt wie eine Warnung und wie eine Bitte, das nun nicht zu tun, gleichzeitig. Sie schluckt hart und versucht den Mundwinkel in die Höhe zu ziehen, doch sie hat keine Ahnung, ob ihr das so recht gelingt.
„Ich hätte sie fast erschossen“, gesteht sie leise. Er sieht ruckartig hoch zu ihrem Gesicht. „Als Selena damit beschäftigt war, Ruby in Sicherheit zu bringen, musste ich kurz Wache halten und mein Pfeil lag genau in ihrem Gesicht. Ich hätte es für einen kurzen Moment wirklich gerne gemacht.“
„Was? Wegen mir?“, will er wissen und versucht ein Schmunzeln hinter seiner Überraschung zu verbergen.
„Irgendwie schon, schätze ich. Es gab wenig andere, logische Gründe, oder?“
„Hätte nicht gedacht, dass du so schnell eifersüchtig wirst.“
Seine Hände, die bislang noch regungslos neben seinen Beinen gelegen haben, schieben sich auf ihr Becken und bleiben da ruhen. Ihre Hände befinden sich derweil flach auf seinem Brustkorb, während sie lächelnd den Kopf senkt.
„Ich auch nicht. Meine Erfahrungen sind da nicht sonderlich … groß.“
„Mhm“, brummt er lediglich, als wäre ihm das durchaus bewusst, es ihn aber gleichzeitig nicht sonderlich juckt.
Die Daumen seiner Hände auf ihrem Becken beginnen sich vorsichtig zu bewegen, streichen auf und ab, obwohl sich seine Hand nicht von da wegbewegt. Sie fühlt, wie sich sein Brustkorb unter ihren Händen langsam hebt und senkt, so gleichmäßig, dass es sie innerlich beruhigt und sie erneut die Müdigkeit in ihren Knochen fühlt. Und dieses Mal ist es eine angenehme Müdigkeit. Sie hat Unrecht gehabt. Es nicht zu wissen wäre schlimmer gewesen. Doch nun, da sie alles von ihm weiß, liegt eine Offenheit und Vertrautheit zwischen ihnen, die sie sonst womöglich niemals hätten erreichen können.
Sie schließt die Augen, genießt das Geräusch seiner Atmung in der Stille des Nachmittags um sie herum und atmet genießerisch aus.
„Ich sollte gehen. Wir sollten alle ein bisschen Schlaf bekommen“, flüstert er und sie öffnet träge die Augen, blickt in das Tiefblau der seinen, die neuerdings diesen eigenartig liebevollen Ausdruck besitzen.
„Bleib hier“, fordert sie ebenso leise.
„Hier?“ Er sieht zu dem schmalen Bett hinüber, welches definitiv nicht für zwei Personen gemacht worden ist. Rainn ist das herzlich egal. Sie nickt schwach und rutscht mit dem Oberkörper nach vorne, bis sie mit dem Gesicht in seiner Halsbeuge liegt. Er riecht vermutlich nicht besser als sie. Nach Pferd und Schweiß. Aber es ist vollkommen belanglos, nach dem, was sie gemeinsam erlebt haben. Die Entscheidung, dass er nun bei ihr bleiben soll, ist keine, die sie wirklich durchdacht hat. Sie fühlt sich tief in ihrem Herzen vollkommen richtig an und Rainn würde nun auch nicht mehr zulassen, dass er sich anders entscheidet.
Was er nicht tut.
Sie spürt wie der Griff um sie fester wird und schlingt, im Wissen was kommen wird, die Arme fester um seinen Hals. Sie lässt sich von ihm mit einem angestrengten Schnaufen in die Höhe ziehen. Wie ein Klammeräffen an ihm hängend, trägt er sie zum Bett hinüber und legt sie dort, vorsichtig wie ein kleines Kind, ab.
Sie beobachtet ihn dabei mit halbgeschlossenen Augen, wie er seine Schuhe auszieht, aber sowohl seine Stoffhose, als auch das schmutzige Hemd anbehält. So langsam und achtsam wie er kann, schiebt er seinen Körper mit angehaltenem Atem hinter ihren. Seine Brust befindet sich an ihrem Schulterblatt, seine Atmung in ihren Haaren. Sie hat zuvor nicht gewusst, dass ihr kalt gewesen ist. Eine Kälte, die nicht vom Wetter zu kommen scheint und die nun allmählich verschwindet. Unsicher, als wäre es auch das erste Mal für ihn, neben einer Frau zu schlafen, schiebt er seinen Arm unter ihrem hindurch und drückt sich noch ein wenig fester an sie. Sie hört ihn schlucken und schließt daraufhin, mit einem seligen Lächeln im Gesicht, vollständig die Augen.
Es dauerte nicht lange bis sie tatsächlich einschläft. Um sie herum wird es Nacht. An einem gewissen Punkt meint sie die Gestalt von Willow in ihrer Hütte zu sehen, ein warmes Lächeln im Gesicht, als sie sie bemerkt. Aber sie kann es auch genau so träumen. Denn ihre Träume sind in dieser Nacht ausnahmslos schöne. Von atemberaubenden Sonnenuntergängen über endlose Canyons, von galoppierenden Pferden mit aufgewirbeltem Staub unter den Hufen und immer, wenn sie leicht beginnt aufzuwachen, fühlt sie Conors Körper hinter sich. Seinen gleichmäßigen Atem. Die Wärme seines gesamten Körpers, der die ganze Zeit über keinen Millimeter von ihrem wegrückt.
Gefolgt von mit einem berauschenden Kribbeln, das sich durch ihren ganzen Körper zieht, driftet sie dann erneut in den nächsten Traum, der unter diesen Voraussetzungen nur wunderschön werden kann.
21. Kapitel
Rainn erwacht allein.
Sie blinzelt ein paar Mal träge und wischt sich den brennenden Sand und die Überbleibsel des Schlafes aus den Augen. Es dauert zudem einen Moment, bis sie begreift, wo sie ist und was zuvor geschah.
Obwohl sie schon seit Wochen von ihrem alten Zuhause weg ist, hat sie in der ersten Sekunde des Erwachens geglaubt sich wieder in der Biosphäre zu befinden. Dort, wo das Leben offensichtlich so einfach zu sein scheint. Wo ihr Vater sie am Morgen mit einem heißen Kräuteraufguss erwartet, bevor sie sich die Aufgaben des Tages einteilen. Wo Juniper ihnen irgendwann Essen vorbei bringt, während die immer fröhliche Ravi an ihrem Rockzipfel hängt. Rainn begreift, dass das Gefühl sie deswegen betrog, weil sie hier zum ersten Mal aufgewacht ist und sich nicht wie eine Fremde, nicht unerwünscht fühlt.
Sie richtet sich vorsichtig auf. Das Holzbett unter ihr knarzt leise. Von den Fenstern dringt helles Licht zu ihr hinein, doch nicht grell beißend von der Seite, was dafür spricht, dass es schon nach Mittag ist. Wie lange hat sie geschlafen? Und wann hat Conor sie verlassen? Gähnend reibt sie sich über ihr Gesicht und realisiert dabei, dass sie wirklich ziemlich stinkt. Conor hat es sicherlich nur deshalb neben ihr ausgehalten, weil er nicht weniger stank.
Beim Herausgehen entdeckt sie auf einem kleinen Baumstumpf neben ihrer Hütter ein Paket aus Klamotten und Stoffen zum Abtrocknen. Ohne Frage ist das der Grund gewesen, warum Willow bei ihr reingeschaut hat.
Eine Dusche klingt wirklich nach dem Besten, was sie nun tun kann. Sie nimmt die Abkürzung an der Mauer entlang und legt routiniert ihre alten Klamotten ab, die steif an ihrem Körper kleben. Japsend steht sie schließlich unter dem eiskalten Strahl und drückt ihren Kopf zwischen ihre Schulterblätter, während der harte Strahl auf ihren Rücken prasselt wie kleine Nadelstiche. Sie erträgt es und glaubt gleichzeitig schon lange nichts Besseres gefühlt zu haben.
Sie wäscht sich ausgiebig, selbst die Haare, deren Flechtwerk nur noch ein trauriger Überbleibsel von Willows letztem Bemühungen ist. Sie löst die strammen Verflechtungen an ihrer Kopfhaut und versucht, so gut es geht, die wüste Mähne mit ihren Fingern zu kämen. Dank der Zöpfe weiß sie nicht einmal mehr, ob sie von Natur aus glatte Haare oder Locken besitzt. Hätte sie die gleichen Haare wie Juniper, dann wären es goldschimmernde Wellen, die ihr engelhaftes Gesicht einrahmen. Zumindest ein engelhaftes Gesicht ist definitiv nichts, was sie mit ihrer Schwester teilt. Und was ihre Haare betrifft, trägt sie diese Flechtfrisur schon zu lange, um das zu wissen.
Die, noch immer nassen Haare, die ihr in der Form bis weit über die Schulter fallen, bindet sie schließlich mit dem Lederband, das sie ansonsten um ihr Hosenbein gewickelt hat, um beim Jagen im Unterholz nicht an kleineren Ästchen hängen zu bleiben, fest zu einem Knoten im Nacken zusammen.
Mit einem Schmunzeln hebt sie die Klamotten, die Willow ihr bereit gelegt hat, auf Augenhöhe hoch. Die übliche beigefarbene Tunika mit dem weiten Ausschnitt und den Bändeln an der Taille, hat sie offenbar drastisch gekürzt, sodass es kein Kleid mehr darstellt, sondern lediglich ein Oberteil. Daneben liegt eine kurze, schwarze Stoffhose. Vermutlich ist sie es leid gewesen sich Rainns ewiges Gejammer bezüglich der Praktikabilität dieser Tunika bei körperlichen Arbeiten anzuhören. Sie zieht sich die Hose an und darüber die Tunika, die sie in den Bund der Hose steckt.
Dann bringt sie ihre alten Sachen zurück und begibt sich zum Lagerfeuerplatz. Tatsächlich scheint es später Nachmittag zu sein, denn die Sonne wirft schon weite Schatten auf den Platz. Sobald sie auch nur in die Nähe des Gemeinschaftsplatzes kommt, bemerkt sie, dass die Stimmung eine andere ist, als die Tage zuvor.
Rainn passiert die Gruppe der kleinen Kinder. Vier an der Zahl, die im Staub mit Steinen spielen, die sie so gut es geht, versuchen in rostige Blechdosen zu werfen. Sie sehen Rainn sofort und begrüßen sie lautstark. Irritiert über diese Geste, hebt Rainn lediglich lächelnd die Hand und geht unbeirrt weiter. Eine Frau läuft mit einem Korb voller Wäsche in der Hand an ihr vorbei. Sie lächelt warmherzig und grüßt sie sogar mit ihrem Namen. Rainn sieht auch ihr verwirrt hinterher. Wie ist doch gleich ihr Name? Lauren? Laurel? Kopfschüttelnd geht Rainn weiter zu dem Lagerplatz, wo sie auf der überdachten Bank neben der Essensausgabe laute Stimmen hört. Sie erkannt das Poltern der Stimme sofort. Und als sie schließlich die Gruppe an dem Tisch sitzen sieht, kann sie nicht anders als zu lächeln.
Ein paar Männer sitzen da zusammen, vor sich Becher und ein paar Reste des Essens, welches sie sich wohl gerade genehmigt haben. In der Mitte sitzt Selena, so frisch wie der Morgentau. Ihre dichten, dunklen Dreadlocks auf dem Kopf sind zu einem großen Nest geformt, die Tunika so knapp, wie sie es schon von ihr gewohnt ist. Neben ihr befindet sich Conor, der noch immer über sein Essen gebeugt ist und sich dort Stücke des gräulichen Brotes in seinen schmunzelnden Mund schiebt. Vor ihnen sitzen Flint und noch zwei weitere Kerle.
Selena bemerkt sie als erstes und hebt herausfordernd das Kinn, der Ansatz eines Lächelns im Gesicht. Flint folgt ihrem Blick, fährt auf der Bank herum und lacht laut auf, sobald er Rainn vor sich entdeckt.
„Wen haben wir denn da? Nur, dass es klar ist; ich brauche meinen Schwanz nicht zum Atmen, aber würde ihn trotzdem gerne behalten, wenn’s Recht ist.“
Conor hebt seinen Blick und trifft ihren. Er kaut nun langsamer und verzieht währenddessen den Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. Rainn sieht eilig von ihm weg, als ein Feuerwerk ihren Magen kribbeln lässt.
„Ich überleg’s mir“, entgegnet sie Flint und marschiert an ihnen vorbei, um sich von dem kleinen Nebentisch etwas zu essen zu holen. Mit einem Teller voller gekochtem, aber kaltem Gemüse, ein paar Sonnenblumenkörnern und einer Ecke des grässlichen Brotes kommt sie wieder zurück und lässt sich neben Conor nieder.
Sie kommt nicht einmal zum Essen, weil sich Flint über den Tisch gebeugt so weit nach vorne lehnt, dass ihr sein schlechter Atem fast augenblicklich den Appetit nimmt. „Hab gehört du hast dich mit Raze angelegt.“
„Er hat sich zuerst mit mir angelegt.“ Sie zuckt mit den Schultern und versucht trotz kurzem Ekelgefühl doch noch etwas in ihren leeren Magen zu bekommen.
„Hätte er nicht tun soll’n“, spricht Selena und Rainn wirft ihr einen kurzen Blick zu. Sie sitzt neben Conor, nun seitlich auf der Bank, die Knie mit den Armen umgriffen und wippt hin und her. Ihr Blick ist wie immer streng, aber da liegt dieses Mal noch etwas anderes in ihnen, was Rainn zunächst nicht benennen kann. „Unser Goldfisch ist nämlich wohl eher ’n kleiner Piranha. Kaum zu glauben, aber da hab ich mich wohl geirrt gehabt.“ Rainn hält ihren Blick einen Moment länger und erkannt schlagartig was es ist, was sie in ihrem Blick bemerkte. Anerkennung. Vielleicht auch ein Funken Dankbarkeit. Mehr wird sie von Selena wohl auch nie bekommen und mehr wird auch nie notwendig sein.
„Scheiße, so Piranhas sollen einen mit einem Happs die Eier abbeißen, wenn man nichts ahnt. Solltest aufpassen, Conor.“ Der Mann neben Flint lacht und deutet mit dem Becher in der Hand auf einen bisher schweigsamen Conor. Rainn glaubt, dass sein Name Joel ist, sicher war sie sich aber keineswegs.
Conor reagiert mit einem amüsierten Schnauben und tupft mit dem letzten Stück Brot die weichen Kartoffelreste auf, die noch auf seinem Teller übrig sind. Wie üblich reagiert er darauf nicht, aber bei dem kurzen Blick zu ihm hinüber kann sie auch nicht feststellen, dass ihn diese Bemerkung zu ärgern scheint. Ist es nun so offensichtlich, dass sie mehr füreinander empfanden, sodass es zu leugnen bereits zwecklos ist? Egal wie sehr sie darüber nachdenkt, es gibt nicht eine Zelle in ihrem Körper, die sich gegen diesen Gedanken wehrt.
Rainn sieht über den Platz hinüber zu Caldwells Haus.
„Wie geht’s ihr?“, will sie wissen und nickt in die Richtung. Sofort ändert sich die Stimmung am Tisch. Flint und Joel senken den Blick.
Es ist schließlich Selena, die antwortet: „Es wird. Sie lebt. Der Kleine lebt. Der Rest wird zu Narben werden und mit Narben kennen wir uns hier aus. Die, die man sieht und die, die man nicht sieht.“
Rainn wippt mit dem Kopf auf und ab, isst schweigend weiter, während Flint das Wort ergriff und von Selena erneut einfordert zu erfahren wie sie Ruby da raus bekommen haben. Ab und an blickt Rainn zu Caldwells Haus hinüber, nachdenklich und melancholisch. Aber der Gedanken an Ruby fällt ihr nun nicht mehr ganz so schwer. Selena hat Recht. Der Vorteil von einem Haufen gebrochener Menschen ist der Zusammenhalt, die Erfahrung mit einem gebrochen Geist und Seele. Erneut bewundert sie alle hier für ihre Gemeinschaft und wünscht sich sehnlichst ein Teil davon zu sein. Und in diesem Augenblick spürt sie Conors Hand auf ihrem Oberschenkel. Er sieht sie nur kurz an, zieht den Mundwinkel hoch und blickt dann weg. Rainns Hand wandert hinab zu seiner, schließt sich um seine Finger und verkreuzt sie ineinander. Vielleicht ist sie es auch schon, ohne es zu wissen. Ein Teil von all dem. Ein Stückchen mehr dieser Familie, ein Stückchen mehr Zuhause.
Das kleine Bündel in Rubys Armen schreit wie verrückt. Sie wiegt ihn beruhigend hin und her, summt dabei irgendein Lied und drückt ihm dann einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Obwohl der Kleine offensichtlich schlechte Laune zu haben scheint, ist er damit wohl der Einzige. Rainn steht neben Willow an einem Pfosten gelehnt, der als Überdachung des Essensbereich dient. Das Lagerfeuer prasselt und gurgelt gierig in den Himmel hinauf. So groß und mächtig wie noch nie seit Rainn hier ist. Die Flammen greifen verlangend nach dem Sauerstoff, nähren sich von dem Holz, welches extra zum heutigen Tage hinzugelegt worden ist. An der Seite flackert ein kleineres Feuer, über das man eins der Schweine grillt. Das geschieht äußerst selten und nur zu besonderen Anlässen, wie Rainn mittlerweile weiß.
Rainn streicht sich über ihre Haare, die Willow ihr frisch geflochten hat und zerstört damit fast die pinke Kaktusblüte, die sie ihr dort, nicht ohne Widerwehr, ebenfalls ins Haar geflochten hat. Ihre Augen sind schwarz geschminkt, wie die Nacht über ihren Köpfen, die durch das helle Feuer nur noch tiefschwärzer wirken. Sie sieht zu Selena, die neben Caldwell steht, das Kinn stolz empor gereckt und ähnlich geschminkt ist wie sie. Beinahe als gehören sie nun alle zusammen.
Willow hat gesagt, dass Rainn so aussieht wie ein Engel in der Hölle. Ihre hellblauen Augen in dem starken Kontrast zu dem schwarzen Ruß wirken beinahe vollkommen weiß. Sie fühlt sich hübsch und stark.
„Meine Familie“, beginnt Caldwell laut zu sprechen. Alle Stimmen ersterben, als seine tief polternd über sie hinwegfegt wie der Donner. Er hebt beide Hände in die Höhe und nimmt sich einen Moment Zeit, bis er weiterspricht. „Wir haben oft an dem gezweifelt, was wir entschieden haben zu tun. Ich habe mit jedem einzeln von euch gesprochen, habe die Abwehr, den Ekel in euren Augen gesehen, gegen den Weg, den anderen entschlossen haben einzuschlagen. Wir sterben. Das ist kein Geheimnis. Als ich zur Welt kam waren wir so viel mehr. Meine Mutter erzählte mir von hunderten von Menschen, berichtete von den Kolonien, von Kriegen, die sie gegeneinander führten. Um die letzten verbliebenen Rohstoffe, das letzte bisschen Menschlichkeit. Doch ab einem gewissen Punkt haben wir vergessen, was uns wirklich zu Menschen macht. Sollen wir sterben, soll der letzte von uns seinen erlöschenden Blick gen Himmel richten, aber er soll es tun im Gewissen seine körperliche Menschlichkeit nicht über seine geistige gestellt zu haben. Wir feiern heute ein neues Leben, welches uns von nun an begleiten wird. Welches dabei frei sein und die Freiheit eines jeden respektieren wird. Und ich bitte euch, meine Familie, um Hilfe. Seid ihm ein Bruder, eine Schwester, ein Onkel und eine Tante. Erzieht ihn mit uns in dem Glauben, den wir vor Jahren als so richtig erachtet haben. Und wenn ihr das tut dann nennt ihn von nun an bei seinem Namen.“ Er blickt stolz zu Ruby hinüber, die neben ihm noch immer so winzig aussieht und die ganze Zeit über an seinen Lippen gehangen hat. Tränen glänzen im Feuerschein magisch, als sie sie hektisch mit einer freigekämpften Hand von ihren Wangen wischt. Sie tritt einen Schritt nach vorne, vor Caldwell und lässt ihren Blick langsam durch die Runde wandern.
Er bleibt schließlich an Rainn hängen, die sich überrascht aufrichtet. Mit einer starken Stimme, die Rainn ihrem zarten Wesen so gar nicht zugetraut hat, spricht sie laut: „Sein Name ist River.“
Ihr Blick verlässt dabei in keiner Sekunde Rainns, die schlagartig nicht weiß, wie sie reagieren soll. Ruby lächelt, nickt ihr bestimmt zu und Rainn erwidert das Nicken. Dann sieht sie zu dem Bündel, das nun endlich einen Namen trägt. River. Ihr Bruder, ihr Neffe und ihre Familie. Sie spürt Willows Hand an ihrer, fühlt den leichten Druck und muss sich zusammenreißen nicht hemmungslos zu weinen. Und dabei weint sie doch nie.
Bei den umherstehenden Leuten bricht lauter Jubel aus. Auch das strenge Gesicht ihres Anführers beginnt sich zu entspannen und zeigt ganz plötzlich ein ungewöhnlich glückliches Lächeln.
Ruby verabschiedet sich daraufhin, um River in sein Bettchen zu bringen und es dauert nicht lange, bis die Feierstimmung jeden zu erfassen beginnt. Flint springt von einem zum anderen und drückt jedem einen Becher in die Hand mit einer Flüssigkeit, die wirklich übel riecht. Agavenschnaps, sagt er. Rainn will es lieber nicht so genau wissen.
„Feiern ohne Saufen ist wie lieben ohne lecken“, erklärt er laut lachend.
Obwohl sie ihr Leben in der Wüste verbracht hat, ist sie noch nie so oft in Kontakt mit dessen Früchten gekommen, wie in den letzten Wochen. Der Schnaps schmeckt grauenhaft, lässt sie keuchen und husten. Doch Selena und Flint kennen kein Erbarmen mit ihr, füllen ihr Glas immer wieder auf und verschonen sich selbst dabei keineswegs. Sie lassen sie auch keinen Moment unbeaufsichtigt, berichten von früheren Festen und ihren Exzessen. Wer sich wann auf wen übergeben musste, wer wann nackt durch die ganze Gemeinschaft gerannt ist. Rainn kennt Alkohol zwar, auch wenn man bei ihr Zuhause diesen eher aus Kartoffeln oder Getreide machte, doch sie hat bislang nie verstanden, warum man etwas so Übelschmeckendes überhaupt erschafft. In ihrer alten Heimat trank man diesen auch so gut wie nie.
Sie realisiert nun, dass es daran lag, dass man dort nichts zu feiern hatte. Dass man sich nicht so gehen lässt, es nicht zu schätzen weiß, wann es etwas wert hat überhaupt gefeiert zu werden. Nicht so wie hier jedenfalls. Und ob es lediglich am Alkohol liegt, dass sie unheimlichen Spaß hat, weiß sie nicht. Sie lacht laut, erzählt Geschichten von ihrem Zuhause und die Leute hängen dabei fasziniert an ihren Lippen.
Bis sie sich einen kurzen Moment zurückzieht und im Schatten ein paar Häuser nach Luft schnappt. Dort steht sie einen Augenblick, dümmlich grinsend, bis sie Conor bemerkt. Er befindet sich etwas weiter von ihr entfernt, lehnt an einem der Pfosten, die Arme vor der Brust verschränkt und starrt sie unbehelligt an.
Ihr Atem stockt, das Blut beginnt sein lebenserhaltenes Rauschen durch ihre Adern und lässt ihren Körper augenblicklich glühen. Sie beißt die Lippen aufeinander und fühlt ihren Kopf noch benommener werden, vom Alkohol oder …
Er wendet sich langsam ab und läuft weg. Weg von ihr. Doch Rainn weiß wohin er geht. Nicht weg von ihr, sondern vielmehr weg von den anderen.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. folgt sie ihm mit strammen, nicht ganz trittfesten, Schritten.
22. Kapitel
Sie hat noch keinen Schritt in seine Hütte getan, als seine Hände nach ihr greifen und sie wie ein Steinzeitmensch in seine Hölle zerren. Er zieht sie hinein, wirbelt sie herum und presst sie mit dem Rücken an die Holzwand. Vor Schreck und von der Wucht entringt ihr ein leises Keuchen. Und auch als er seine Lippen gierig auf ihre drückt, ist sie zunächst noch zu überrumpelt, um zu reagieren, und hat beide Hände weit von sich weggestreckt. Sie ist sich nicht einmal sicher, ob Conor ihre Überrumpelung überhaupt bemerkt. Immerhin schmeckt auch er eindeutig nach Flints brennendem Agavenschnaps. Aber für sie spielt all das auch überhaupt keine Rolle. Ihren Schock überwindet sie recht schnell, krallt sich schon im nächsten Moment fest in seine Haare am Hinterkopf und öffnet ihm ihren Mund. Dadurch animiert kommt er noch näher, so nah, dass kaum mehr ein Blatt Papier zwischen sie passt. Conor leidenschaftlich zu küssen ist nichts Neues für sie. Sie haben die letzten Tage bis zum Namensfest kaum einen Tag oder gar eine Stunde ohne verbracht. Es hat aber stets da geendet, wo es in diesem Augenblick erst zu beginnen scheint.
Auch das hat sie bereits gewusst, als sie ihm zu seiner Hütter folgte. Sie hat es nicht nur gewusst, sie hat es zudem mit einer inbrünstigen Verzweiflung herbeigesehnt, die auch ihr vollkommen neu ist. Wenn jemand in den letzten Tagen die Reißleine zog, dann war es immer Conor. Sie ist ihm dabei keine sonderlich große Hilfe gewesen, sondern betrachtete es allmählich sogar als eine Art Spiel. Sie hat die Shorts gekürzt, das Abtrocknen nach dem Duschen manchmal vollkommen weggelassen. Aber an die simple Wirkung von Alkohol hat sie nicht gedacht. Ihn an diesen Punkt zu bringen ist schon beinahe zu einfach gewesen.
Sie stehen aneinander gepresst, bis ihre Münder sich wund fühlen und es nicht mehr genug wird sich nur noch zu schmecken. Sie will ihn berühren. An jeder möglichen Stelle. Sie will ihn fühlen. Alles von ihm. Und mehr nur als seinen harten Körper, der sich erbarmungslos, aber doch so regungslos an ihren drückt. Sie umschlingt seinen Hals, hält seine Unterlippe zwischen ihren Zähnen und stemmt sich mit der Kraft ihrer Arme auf seinen Schultern in die Höhe. Er versteht sofort, greift nach ihren Oberschenkeln, legt sie sich bestimmt um seine Hüfte und klemmt sie erneut zwischen sich und der Wand ein. Doch das Gefühl ist nun anders. Er befindet genau an der Stelle, an die er gehört. Sie legt den Kopf in den Nacken, der mit einem Klonk! an das Holz stößt und atmet all die angespannt Luft geräuschvoll aus. Conor vergräbt sich in ihrem dargebotenen Hals und hält sie noch immer fest an sich gedrückt.
„Wenn du … wenn du mich heute wieder gehen lässt, dann…“, keucht sie an die Decke gerichtet, noch immer gefangen in seinem Griff und den reibenden Bewegungen seiner Hüfte, die ihre Mitte auf eine bitte süße Art reizen, die sie kaum begreifen kann. Er lacht leise und so tief, dass es durch seinen Brustkorb bis in ihren Magen vibriert und da erneute Stromschläge verteilt.
Ohne weiter auf sie einzugehen, hält er sie noch immer fest, zieht sie von der Wand weg und tritt langsam in den Raum hinein. Sie hängt immer noch an ihm, umschlungen wie ein Äffchen, küsst, nagt und leckt über seinen Hals, bis zu seinem Ohrläppchen. Bis er sie auf dem Bett niederlässt, selbst aber stehen bleibt.
Von draußen hört sie noch immer ausgelassenes Lachen, selbst der Lichtschein des Lagerfeuers scheint leicht hinein. Doch das ist auch schon alles was sie von der Außenwelt mitbekommt. Sie sieht seine Silhouette schwach vor sich, erkennt dass er sich in den Nacken greift, dann das Shirt über seinen Kopf zieht und sich anschließend auf sie legt. Seine nackte Haut unter ihrer Handfläche zu berühren, dabei zu wissen, dass sie diese Stellen noch nie ertastet hat, ist unbeschreiblich. Sie spürt seine harten Muskeln, die kontinuierlich arbeiten, unter seiner warmen Haut. Er küsst sie nicht sofort wieder, sondern greift erst nach dem Saum ihrer Tunika und schiebt sie mit einer genüsslichen Ruhe in die Höhe.
Rainn fackelt nicht lange, richtet sich auf und erledigt das selbst. Sie trägt noch ein leichtes Unterhemd darunter, aber zusammen mit ihrer Shorts ist da ansonsten nichts mehr. Sie sucht seinen Blick in der Dunkelheit, folgt dem schweren Atem aus seinem Mund und erkennt das Schimmern in seinen Augen. Ohne von ihm wegzusehen, greift sie auch nach dem Unterhemd und zieht es sich über den Kopf. Sie bemerkt wie die Kaktusblüte dabei gewaltvoll von ihrem Kopf gerissen wird und neben ihr im Bett landete.
Vollkommen oben ohne ist ihr Kopf mit einem Schlag ganz klar. Ein leichter Lufthauch aus dem Fenster lässt ihren nackten Oberkörper reagieren und macht ihr ihre Situation nur noch umso deutlicher: Sie ist beinahe ganz nackt vor ihm. Diese Erkenntnis lässt sie schlagartig mehr zittern, als die herrschende Nachtkühle. Ob Conor es bemerkt, weiß sie nicht.
Er legt sich auf sie, drückt sie somit leicht auf das Fell zurück. Das Gefühl als seine Brust auf ihre trifft, ist wie ein kleiner elektrischer Impuls, der ihre Haut langsam wärmt. Warm wechselt zu heiß, als er sie erneut küsst. Dieses Mal leidenschaftlicher und ruhiger, nicht mehr ganz so entfesselt wie zuvor, aber mit einer Intensität, die sie von ihm so noch nicht kennt. Eine Hand hält ihr Gesicht, die andere streichelt über ihre Taille.
Sie entreißt ihm ihren Mund und streckt ihren Hals durch. Sie will, dass er sich anderen Teilen ihres Körpers mindestens genauso ausgiebig widmet. Allein die Erwartung über das Kratzen seines Bartes an ihren Brustwarzen löst eine angespannte Vorfreude in ihr aus. Vielleicht wird er durch das schwache Licht in der Hütte gar nicht erst erkennen, dass sie sicherlich nicht so ausgestattet ist wie Selena, was die Oberweite angeht. Sie hat sich bislang noch nie ernsthaft mit anderen Frauen verglichen und ist immer froh über ihren athletischen Körper gewesen. Zum ersten Mal jedoch kommen Zweifel in ihr auf, ob Männer wie Conor einen fraulichen Körper nicht bevorzugen.
Zumindest in diesem Moment spürt sie davon jedoch nichts. Sein Mund erreicht ihr Schlüsselbein, nagt zaghaft an der Kuhle zu ihrem Nacken, als hätte er alle Zeit der Welt. Sie versucht still zu halten und sich nicht zu sehr unter ihm zu winden, auch wenn es schwer ist, weil alles was er tut sie dazu bringen will ihn zur Eile zu drängen. Rainn beginnt den Ausdruck einer süßen Folter allmählich zu verstehen.
Hätte sie sich richtig darauf vorbereitet, hätte sich sicherlich trotzdem nicht verhindern lassen, dass ein lautes Stöhnen ihren Mund verlässt, als er schließlich ihre Brustwarze erreicht. Zunächst zögerlich umschließt er sie mit seinen Lippen, stößt die Zunge dagegen und atmet heiße, feuchte Luft darauf, die sofort kalt wird. Ihr ganzer Körper zieht sich sehnsuchtsvoll zusammen und ein lautes Stöhnen entkommt ohne jede Kontrolle ihrem Mund. Ihre Hände halten seinen Kopf nun erneut und versuchen ihn nicht allzu drängend hinabzudrücken, um ihm den Spielraum zu geben, den er perfekt ausnutzt. Aber es kostet sie einiges ihn nicht anzuflehen das Verlangen mit Gewalt zu ersticken.
Wie ist das nur möglich? Wenn sie sich selbst an diesen Stellen berührte, ließen sich in keiner Situation, egal mit welchen Gedanken im Kopf, solche gewaltigen Impulse auslösen. Ob es immer so ist oder es von nun an immer so sein kann? Gott, sie hofft es und hoffte gleichzeitig, dass er niemals damit aufhört. Schon gar nicht, als er sich ihrer zweiten Brust widmet und die Gefühle sich nun überall ausbreiten.
Ein Laut der Verzweiflung entringt schließlich ihrem Mund, als er sich von ihren Brüsten abwendet, weiter hinab arbeitet und an dem Bund ihrer Shorts ankommt. Er öffnet langsam die Verschnürung und sie hätte dabei zu gerne sein Gesicht gesehen. Sie will wissen wie erregt er ist, ob er unsicher ist, auch wenn sie sich das bei der Bestimmtheit seiner Handlungen kaum vorstellen kann.
Sie gehorcht anstandslos, als er am Bund zieht und denkt nicht einmal kurz darüber nach, dass sie nun vollkommen nackt vor ihm liegen wird. Dass jeder, der jetzt hereinstürmt, sie so sehen kann.
Für einen Moment ist sie unsicher, ob er auch ihrer Mitte so viel Aufmerksamkeit schenken wird wie ihrer Oberweite. Der Gedanke allein treibt ihr die Scham ins Gesicht. Doch als sie schließlich vollkommen entblößt unter ihm liegt, macht er nichts, außer seinen breiten Körper wieder auf ihren zu legen, ihr Gesicht in beide Hände zu halten und seine aufgeheizten Lippen sanft auf ihre zu legen.
„Ich bin nicht so besoffen, dass ich jetzt nicht aufhören könnte“, raunt er leise an ihre Lippen. Während des Sprechens streift er sie dabei ab und zu, reibt sich genießerisch an ihnen.
„Gott, du verarschst mich jetzt, oder?“ Sie stöhnte frustriert. Er quittiert es mit einem tiefen Lachen und sie spürt dabei die Bewegungen seiner Muskeln auf ihrem Bauch und am Ansatz ihres Schams.
„Es wird wehtun“, wendet er nochmal warnend ein.
„So weh wie als dieser Mistkerl mir die Lippe blutig geschlagen hat?“
„Schätze nicht, aber ganz offensichtlich bin ich keine Frau.“ Er beginnt, noch während er das sagt, an ihrem Hals zu knabbern und haucht kleine Küsse auf ihre empfindliche Haut. Rainn schließt die Augen und genießt alles daran, kostet jede Empfindung aus, mit der ihr Körper auf seine Handlungen reagiert.
„Ich bin hart im Nehmen“, murmelt sie. Seine Bewegung stockt und erst da begreift sie, was sie ihm gesagt hat. „Oh Gott, das klingt in dem Zusammenhang jetzt total falsch.“
Er lacht und sein Atem kitzelt dabei ihr Ohr.
„Dann musst du jetzt aufhören zu reden, sonst bekomm ich die Kurve nicht mehr.“ Er richtet sich auf seinen Händen auf und beinahe ist Rainn enttäuscht darüber, dass er sich von ihr zurückzieht, doch bereit im nächsten Moment erkennt sie warum er es tut. Conor öffnet seine Hose im Sitzen, steht dann auf, um sie sich ganz auszuziehen. Sie zwingt sich ihn nicht anzustarren, auch wenn sie nicht einmal weiß, wieviel sie in der Dunkelheit überhaupt tatsächlich von ihm erkennen kann.
Conor legt sich wieder auf sie und als wäre es das Natürlichste der Welt, öffnet sie ihm ihre Beine, so dass er dazwischen rutscht und sich anschließend höher zieht. Sie fühlt ihn heiß und pochend an ihrem Oberschenkel und erlebt zum ersten Mal ein nervöses Flattern in ihrem Magen. Sie hat nie gedacht diesen Moment jemals zu erleben und das ist bislang auch vollkommen in Ordnung für sie gewesen. Doch nun weiß sie nicht, ob sie jemals wieder zu ihrem alten Ich zurück könnte. Ihr altes Ich, das nicht nach diesen Dingen verlangte. Sie will all das so sehr, dass das Verlangen danach die Angst verschluckt.
Er küsst sie erneut und spielt mit seiner rauen Hand an ihrer Brust, bis ihr Körper erneut mit Hitzewellen durchzogen wird, ihr Atem schnell und ungleichmäßig geht.
„Entspann dich“, atmet er schwer in ihr Ohr, als er sich Stück um Stück voran tastet. Sie hört die Anstrengung aus seiner Stimme heraus, dabei keinen Schimmer habend woher diese kommen mag. Aber er scheint irgendwie doch zu leiden und drückt sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, während seine Atmung stockend wird.
Und dann weiß sie was er für einen Schmerz meint. Es ist tatsächlich weniger schlimm, als sie geglaubt hat. Ein kurzes, ruckartiges Ziehen und ihr Körper reagiert darauf mit einem Zucken, das ihn sofort innehalten lässt. Ihre Hände wandern automatisch hinab und krallen sich in seinen Hintern, um ihn zum Weitermachen zu motivieren. Das alles ist unheimlich schräg und ganz anders, als sie geglaubt hat, wie es sein wird. In gewisser Weise so animalisch, dass es ihr beinahe peinlich ist. Aber dann ist da noch etwas anderes in ihr. Der Gedanke, dass er so tief in ihr ist wie noch nie zuvor.
Er ist der Erste. Ihr Erster. Und das wird er auch immer bleiben, egal was noch geschehen mag. Ihre Beine schließen sich um seine Hüfte und halten ihn fest, geben ihm nur wenig Spielraum sich zu bewegen, weil der Gedanke daran, ihn da für immer zu halten, zu übermächtig wird.
„Hör nicht auf“, flüstert sie und verstärkt den Druck.
Er scheint auf eine Reaktion von ihr gewartet zu haben, sobald die Worte ihren Mund verlassen, bewegt er seinen Körper. Sie fühlt ihn noch viel tiefer, so tief, dass Tränen in ihrem Augenwinkel glitzern. Er hält sie dabei fest und bewegt sich geschmeidig, sanft und doch mit einer besonderen Form des Drängens.
Rainn hält sich an ihm fest und tut nicht viel mehr als zu nehmen, als die Gefühle zu erkunden, die er in ihr auslöst. Gefühle, die bald schon das schmerzhafte Ziehen vertreiben, und die so viel größer und besser sind, sie förmlich mitreißen, bis sie kaum mehr ruhig bleiben kann. Bis sie es ist, die das Tempo vorgibt, die es kaum mehr aushalten kann, obwohl er sich stets am Rande der Zurückhaltung bewegt.
Nie im Leben hat sie es sich so vorgestellt. Im Grunde hat sie sich nie irgendwas vorgestellt, es aus ihren Gedanken verbannt, weil es niemals eine Rolle für ihr Leben spielen würde. Aber sie weiß fortan, dass sie davon nicht genug bekommen wird, weil sie sich ihm so nah fühlt, wie noch nie zuvor. Sie öffnet sich ihm, gibt ihm alles, was sie zu geben bereit ist, und er nimmt es behutsam und gleichzeitig so leidenschaftlich an, dass sie irgendwann meint sogar zu fliegen.
Später liegen sie immer noch nebeneinander, als auch von draußen keine Stimmen mehr zu hören sind. Rainn schmiegt sich an seine Brust, wo sein Herzschlag sich mittlerweile längst wieder beruhigt hat und seine Haut wieder kälter wird. Er hat eine der Decken genommen und sie über sich ausgebreitet. Weil es klar ist, dass sie heute Nacht nicht alleine sein werden. Vielleicht, weil auch klar ist, dass sie von nun an in keiner Nacht wieder alleine sein werden. Nicht, wenn sie stattdessen nicht das hier machen können. Sie fühlt sich ausgelaugt, jedoch bis in die Fußzehen befriedigt und hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Noch vor ein paar Minuten hat sie geglaubt ewig damit weitermachen zu können, doch nun realisiert sie, dass diese Form der Nähe nach der körperlichen Vereinigung seine eigene Besonderheit besitzt. Conor fährt mit seiner Hand über das Bett, greift nach der zerdrückten Kaktusblüte und hebt sie in sein Sichtfeld, dann schiebt er sie vorsichtig hinter ihr Ohr. Schließlich streicht er mit dem Daumen ihren Wangenknochen nach.
„Warum bist du damals abgehauen?“, will er leise wissen. Rainn hebt den Kopf und sieht ihn nun deutlicher vor sich, was daran liegen kann, dass es bald schon zu dämmern beginnt.
„Das Leben dort ist so anders … so ganz anders. Du würdest es nur verurteilen.“
„Kann ich das denn, wenn ich es nicht kenne?“
„Vermutlich schon … und vermutlich hättest du damit sogar Recht.“
„Mhm“, macht er nachdenklich. „Du musst es nicht sagen, wenn du nicht willst. Dachte mir schon, dass es was Persönliches ist und nicht nur reine Neugierde.“
Rainn versucht ihre Gedanken zu ordnen, irgendwie in eine logische Reihenfolge zu bringen. Je länger sie aus der Biosphäre weg ist, umso schwieriger fällt es ihr das, was man da macht, zu verteidigen. Schließlich entscheidet sie es nicht zu verheimlichen, nicht zu beschönigen. „Die Biosphäre funktioniert nur, wenn alles im Einklang ist. Fünfhundert Menschen. Keiner mehr, keiner weniger. Jeder bekommt von Geburt an schon einen Job und das Recht zugesprochen ein Kind zu bekommen oder nicht. Ich bin als Jägerin geboren ohne das Recht auf Kinder. Meine Schwester hat das Recht auf ein Kind erhalten, früh geheiratet und meine Nichte bekommen. Aber sie ist erneut schwanger geworden und musste es wegmachen lassen. Wir haben wohl zu spät gemerkt, dass sie daran zerbrochen ist. Ein paar Tage vor meiner Flucht hat sie uns eröffnet, dass sie erneut schwanger ist. Sie war im fünften Monat, zu spät für eine Abtreibung. Doch Gesetz ist Gesetz. Sie können keine Ausnahme machen.“
„Aber … wie wollten sie das lösen?“, fragt er offensichtlich stark verwirrt. Und Rainn kann ihm das keinesfalls übel nehmen. Hier kämpft man so sehr ums Überleben der Menschheit, um jedes einzelne Leben. Man mordet sogar dafür. Wie soll jemand wie er, der in dieser anderen Welt groß wurde das nur verstehen, wo sie selbst damit jeden Tag mehr und mehr Probleme hat?
„Meine Schwester hätte sich entscheiden müssen. Ihr Leben oder das des Kindes.“
Conor richtet sich auf, blickt zu ihr hinab. „Sie hätten es umgebracht?“
Rainn schluckt hart. „Oder meine Schwester.“
Sie sieht, wie sein Blick durchs Zimmer wandert und er irgendwie versucht all das in Zusammenhang zu bringen, aber daran offensichtlich scheitert. Er zieht die Augenbrauen verwirrt zusammen, schaut dann wieder zu ihr. „Und was war mit dir?“
„Es gab noch einen dritten Weg. Meine Schwester würde bestraft werden, das war uns allen klar. Aber es wäre nur notwendig gewesen ein Leben zu nehmen, wenn ein Leben zu viel gewesen wäre.“
Seine Augen werden größer, als er es schließlich begreift.
„Du bist weg, damit sie leben kann?“
„Ich weiß nicht, ob ich noch hätte bleiben können, nachdem ich den Handabdruck gesehen habe, ob ich es vor Neugierde ausgehalten hätte, also war es wohl eine Mischung aus beidem.“
„Nein, war’s nicht“, entgegnet er streng. „Seine Familie endgültig, ohne die Chance eine Wiederkehr, zu verlassen, die man offensichtlich liebt, tut man nicht aus Neugierde. Du wärst noch da, wenn es sie nicht das Leben kosten würde.“
Rainn lächelt gequält. „Wäre ich wohl.“
Langsam lässt er sich wieder zurücksinken, starrt nun an die Decke seiner Hütte und spielte mit dem Bart an seinem Kinn. Immer und immer wieder schüttelt er ungläubig den Kopf über diese eigenartige Welt, die irgendwo da draußen existierte.
„Das ist nicht richtig. Hier draußen sterben wir und die schmeißen das Leben einfach so weg, als wär’s unerwünscht.“
„Das Leben dort ist anders, ohne es im Gleichgewicht zu halten sterben die Menschen dort alle“, beginnt sie es zu rechtfertigen, auch wenn sie nicht wirklich weiß warum. „Sie bekommen Sauerstoff aus dem System, Nahrung und zu Trinken. Das Prinzip funktioniert, hat uns siebzig Jahre selbstständig am Leben gehalten.“
Conor schweigt daraufhin, als würde er eigentlich etwas sagen wollen, ihr widersprechen, aber er macht es nicht. Vielleicht, weil er nicht weiß, wie er es tun soll oder weil er nicht weiter auf dem Ort herumhaken will, der doch irgendwie ihre Heimat ist. Also sieht er weiterhin starr an die Decke, befeuchtet lediglich seine Lippen.
„Außerdem“, spricht sie weiter und wendet sich langsam herum, sodass sie nun seitlich zu ihm liegt und seine Schulter ihre Brust streift. „Wäre ich dann nicht hier, dann wäre nichts von heute Nacht passiert. Ich noch eine kleine, unerfahrene Jungfrau in einem riesigen Glaskasten. Ihr seid jetzt meine Familie, ob du das willst oder nicht.“
Er wendet ihr den Blick zu und lächelt sanft. „Hab dir heute recht deutlich gezeigt wie sehr ich’s will. Immer und immer wieder.“
Und damit beginnt er sie langsam wieder auf den Rücken zu schieben, sich gleichzeitig auf ihren Körper und küsst sich seinen Weg ihren Hals hinauf zu ihren Lippen, haucht dort ein heiseres „immer und immer wieder“, während sich sein Becken gegen ihres drückt.
23. Kapitel
Plötzlich ist da wieder dieses gewohnte Kribbeln an ihrem Rückgrat, das sie nicht geglaubt hat wieder erleben zu dürfen. Der Baumstamm der Pinie in ihrem Rücken riecht nach würzigem Harz, den sie mittlerweile schon gar nicht mehr aus ihren Haaren bekommt. Der Wind berührt langsam ihren nackten Oberarm und zieht dann an ihr vorüber. Rainn schmunzelt. Sie steht noch immer entgegen der Windrichtung, sollte das Eichhörnchen sie schon bemerkt haben, dann zumindest nicht durch ihren Geruch.
Langsam, kontrolliert späht sie an dem Baumstamm entlang und verharrt in dieser Position Statuen gleich, um jede noch so kleine Bewegung um sich herum erfassen zu können. Der Bogen in ihren Händen wird schwer, sie selbst beginnt allmählich zu schwitzen. Und das, obwohl der Schatten, den die Bäume ihr bieten, die Temperaturen nicht so aufheizt wie es Zuhause der Fall ist. Es muss an der Anspannung liegen. Eine Schweißperle rinnt genährt ihre Stirn entlang, verfängt sich kitzelnd in ihren Augenbrauen. Rainn versucht sie zu ignorieren, was gut gelingt, als sie im nächsten Moment eine Bewegung vernimmt. Ohne den Kopf zu bewegen, wandert ihr Blick in die Richtung und erfasst das Eichhörnchen. Es hält sich an einem der rötlichen Baumstämme fest und wirkte selbst vollkommen erstarrt, als würde es lauschen, etwas ahnen. Aber der Wind steht immer noch gut, er kann sie unmöglich riechen und sehen auch nicht. Eichhörnchen besitzen hervorragende Hörsinne, so gut wie bei fast keinem anderen Tier, das sich in diesen kargen Pinienwäldern umhertreibt. Wenn es sie gehört hat, ist es schon längst zu spät. Dumm nur, dass diese quirligen Tierchen zudem äußert neugierig sind. Ohne ihre Neugierde wäre Rainn wohl grundsätzlich chancenlos gegen sie.
Sie hebt den Bogen an, richtet ihn auf den grau-schwarzen Wollfleck, der auf der braunen Rinde des Baumes klebt und sich noch immer nicht bewegt, als würde er glauben so unsichtbar zu sein. Der Gedanke lässt sie schmunzeln. Tiere denken nicht, Tiere reagieren aufgrund ihrer Instinkte. Das hat ihr Vater ihr schon früh beigebracht. Rainn hat sich dann immer eingeredet, dass wenn sie nicht denken, sie auch keine Schmerzen empfinden. Doch spätestens als sie Milo einmal auf seine Pfote trat, hat sie ihre Theorie nochmal überdenken müssen.
Sie hat das Eichhörnchen nun genau im Visier und muss schnell handeln. Spätestens aus Langeweile wird es sicherlich gleich wieder verschwinden. Sie kontrolliert nochmal ihre Atmung.
Einmal tief einatmen; spannen.
Einmal tief ausatmen; Spannung lösen.
Dem Sirren des Pfeiles, folgt das leise Knallen der Sehne, als diese wieder in ihre ursprüngliche Form schlägt. Rainn springt hervor und starrt auf ihren schwingenden Pfeil, der zwar zielsicher in dem Baumstamm steckt, doch nur in dem Baumstamm. Ihr Blick wandert den Stamm hinauf und sie meint noch eine letzte steingraue Bewegung zu sehen, die aber im nächsten Augenblick bereits verschwunden ist. Mit einem missmutigen Brummen, schlingt sie den Bogen wieder um ihren Körper, springt über den, mit braunen Nadel übersäten, Waldboden, aus dem nur an manchen Stellen grüne Gräser hervorstechen, als würden sie verzweifelt nach Luft japsen.
Sie reißt den Pfeil gewaltvoll aus dem Stamm und verstaut ihn wieder am Köcher,. Dann orientiert sich.
An einem der größeren Stämme rechts von ihr findet sie eine ihrer Markierungen. Ein geschnitzter Halbmond auf ihrer rechten Seite. Sie ist also noch etwa einen Kilometer von Zuhause entfernt, bewegt sich gerade darauf zu. In der Biosphäre hat die Orientierung nie eine Rolle gespielt. Irgendwann ist sie entweder bei der Glaswand angekommen oder dem Lärm des Sägewerkes gefolgt, das sie letztendlich immer aus dem Wald geführt hat. Bevor sie jedoch hier ihre Arbeit als Jägerin aufnahm, hat sie sich von Caldwell ein helles Stück Leder gegeben, auf dem sie mit einem Rußstift eine Art Karte angelegt hat. Mittlerweile hat Willow sogar ein weiteres Stück Leder drannähen müssen, weil es die erkundete Größe nicht mehr abbildete.
Unterwegs markiert sie nur die großen Bäume und immer nur auf einer Seite, so dass sie stets weiß, welcher Weg sie immer wieder nach Hause führt. Je nach Größe des Halbkreises kennt sie auch in etwa die Entfernung.
Sie ist unheimlich gerne hier draußen, auch wenn das Jagen hier um einiges schwieriger ist, als gewohnt. Sie fängt bei Weitem nicht so viel, wie sie will. Aber Caldwell hat gesagt, dass noch nie jemand so viel Wild aus dem Wald geholt hat, seit sie dort leben. Sie ist stolz ihren Beitrag zu leisten, sich endlich nicht mehr nutzlos und ungewünscht zu fühlen.
Wäre sie nicht ein stückweit auch abergläubisch, würde sie glatt behaupten, dass ihr Leben nahezu perfekt ist.
Auf dem Weg nach Hause befindet sich noch eine Steinfalle, die sie kontrollieren will. Ein schwerer Stein balanciert mit der einen Seite auf einer losen Astkonstruktion, an deren einem Ende mit Honig und Mehlkleber Nüsse und Körner befestigt sind. Sobald ein Tier daran zu nagen beginnt, und dabei auch nur etwas Kraft aufwendet, rutscht die Astkonstruktion weg und der Stein begräbt das arme Tier unter sich. So viel zur Theorie. In der Praxis hat sie in den zwei Wochen, die sie nun wieder jagt, damit lediglich einen einzigen Hasen gefangen. Auch heute scheint sie wenig Glück zu haben. Der Stein liegt zwar nicht mehr auf der Konstruktion, doch sie sieht schon von weitem, dass sich auch kein Tier darunter befindet.
Rainn geht daneben in die Hocke und beginnt damit die Konstruktion wieder aufzubauen. Einer der Äste ist gebrochen, also fischt sie in ihrer Umhängetasche nach einem Ersatz, den sie aus weiser Voraussicht schon vorbereitet hat. Schließlich ist das h nicht zum ersten Mal passiert. Wenn der Wind doch mal stärker durch den Wald pfeifft, reicht das in der Regel schon aus, um sie auszulösen. Dinge, mit denen sie sich in der Biosphäre mit ihrem streng kontrollierten Windsystem nie beschäftigen musste.
Sie will sich gerade wieder erheben, als ein dumpfer Schlag sie in der Hocke herumfahren lässt. Ihre Augen suchen die Umgebung in Windeseile ab. Es klingt wie, als wäre etwas Schweres aus den Bäumen hinabgefallen und zweimal aufgeschlagen. Sie runzelt die Stirn und greift automatisch nach ihrem Messer an ihrer Hüfte.
Dann ein erneuter Schlag aus der anderen Richtung. Sie fährt herum und sucht erneut alles mit ihren Augen ab, kann aber wieder nichts erkennen. Langsam erhebt sie sich. Stück für Stück. Ihr Messer nun fest in der Faust umschlossen. Die Gegend ist uneinsichtig. So kurz vor ihrem Zuhause sind die Bäume dichter, die Büsche grüner, weil sie sich aus dem schmalen Flusslauf nähren, der aus den Canyons kommt und von dem sie ebenfalls leben.